Im Fokus Wenn die Seele Hilfe braucht Ausgabe 10/11 I 2023 Modellstation Somosa in Winterthur. Enge Zusammenarbeit interdisziplinärer Teams Für eine kohärente Behindertenpolitik braucht es eine bessere Datengrundlage Markus Leser hat den Verband während 20 Jahren mit seiner Expertise geprägt ARTISET Das Magazin der Dienstleister für Menschen mit Unterstützungsbedarf
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ARTISET 10/11 I 2023 3 Editorial «Wenn es um den Zustand der Seele geht, müssen wir uns verabschieden von einfachen Erklärungen und Rezepten.» Elisabeth Seifert, Chefredaktorin Liebe Leserin, lieber Leser Eine Umfrage des schweizerischen Gesundheitsobservatoriums vom letzten Herbst legt offen: Die psychische Gesundheit hat sich im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie nicht etwa erholt, sondern eher verschlechtert. Es gibt weniger sehr glückliche oder sehr zufriedene Menschen. Jede achte Person weist schwerwiegende Symptome auf, die das tägliche Leben beeinträchtigen und bis hin zu Suizidgedanken führen können. Viele Betroffene werden im Gesundheitssystem nicht erfasst, da sie keine Hilfe suchen. Aufklärungsarbeit und Sensibilisierung rund um die psychische Gesundheit sowie die Symptome psychischer Erkrankungen und mögliche Hilfsangebote sind denn auch seit vielen Jahren ein Thema in der Öffentlichkeit. So zum Beispiel jedes Jahr anlässlich des 10. Oktober, dem internationalen Tag der psychischen Gesundheit. Bei der Erarbeitung dieser Ausgabe des Magazins ist uns bewusst geworden, wie schwierig es sein kann, eine Diagnose zu stellen, die richtige Therapie zu finden. Wenn es um den Zustand der Seele geht, müssen wir uns verabschieden von einfachen Erklärungen und Rezepten. Diagnosen und Therapien entziehen sich der einseitigen Kommunikation zwischen der «wissenden» Fachperson und dem «gehorchenden» Patienten oder der «gehorchenden» Patientin. Nur wenn Betroffene auf Augenhöhe mitreden können, kann es gelingen, die Hintergründe einer psychischen Erkrankung besser zu verstehen und mögliche Genesungswege zu erkennen. Unsere Porträts von Andrea Zwicknagl (Seite 20) und Christian Heiniger (Seite 14) zeigen eindrücklich, wie wichtig ein solch gemeinsamer Reflexionsprozess zwischen Fachleuten und den betroffenen Personen ist. Ihre Erfahrungen machen zudem deutlich, dass der Austausch mit Menschen, die ähnliche Situationen durchleben oder durchlebt haben, eine wertvolle Unterstützung bietet. Je besser es auf diese Weise gelingt, die Gründe für psychiatrische Symptome zu verstehen, desto eher können die oft von Nebenwirkungen begleiteten Medikamente reduziert werden. Gerade bei betagten und hochbetagten Menschen müssen gemäss Alterspsychiater Egemen Savaskan nicht-medikamentöse Therapien im Vordergrund stehen (Seite 9). Insbesondere bei Menschen mit einer Demenz, die sehr oft ein oder mehrere psychiatrische Symptome aufweisen. Damit in den Pflegeheimen alternative Therapien besser genutzt werden können, brauche es eine Weiterentwicklung der Pflegenden sowie einen Ausbau der Konsiliar- und Liaisondienste von Alterspsychiatrischen Kliniken. Der Römerhof in Zürich etwa misst der psychosozialen Pflege eine grosse Bedeutung bei (Seite 6). Während in der Langzeitpflege die Zusammenarbeit zwischen der Pflege und der Alterspsychiatrie an Bedeutung gewinnen muss, erfordert eine adäquate Betreuung und Begleitung vieler Jugendlicher eine bessere Zusammenarbeit zwischen der Sozialpädagogik sowie der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Der Bericht über die Modellstation Somosa in Winterthur (Seite 26) zeigt den grossen Wert interdisziplinär zusammengesetzter Teams. Titelbild: Andrea Zwicknagl vor der Johanneskirche im Berner Quartier Breitsch. Sie ist Expertin aus Erfahrung und wirkt als Betroffenenvertreterin im Stiftungsrat von Pro Mente Sana. Foto: Adrian Moser
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Inhalt ARTISET 10/11 I 2023 5 Impressum: Redaktion: Elisabeth Seifert (esf), Chefredaktorin; Urs Tremp (ut); Claudia Weiss (cw); Anne-Marie Nicole (amn); France Santi (fsa); Jenny Nerlich (jne) • Korrektorat: Beat Zaugg • Herausgeber: ARTISET • 2. Jahrgang • Adresse: ARTISET, Zieglerstrasse 53, 3007 Bern • Telefon: 031 385 33 33, E-Mail: info@artiset.ch, artiset.ch/ Magazin • Geschäfts-/Stelleninserate: Zürichsee Werbe AG, Fachmedien, Laubisrütistrasse 44, 8712 Stäfa, Telefon: 044 928 56 53, E-Mail: markus.haas@fachmedien.ch • Vorstufe und Druck: AST&FISCHER AG, Seftigenstrasse 310, 3084 Wabern, Telefon: 031 963 11 11 • Abonnemente: ARTISET, Telefon: 031 385 33 33, E-Mail: info@ artiset.ch • Jahresabonnement Fr. 125.– • Erscheinungsweise: 8× deutsch (je 4600 Ex.), 4× französisch (je 1400 Ex.) pro Jahr • WEMF/KS-Beglaubigung 2023 (nur deutsch): 3167 Ex. (davon verkauft 2951 Ex.) • ISSN: 2813-1355 • Nachdruck, auch auszugsweise, nur nach Absprache mit der Redaktion und mit vollständiger Quellenangabe. Im Fokus 06 Der Römerhof Zürich bietet umfassende psychosoziale und medizinische Pflege an 09 Alterspsychiater Egemen Savaskan plädiert für mehr nicht-medikamentöse Therapien 14 Psychopharmaka: Betroffene sollen besser mitreden dürfen 17 Stärkung der psychischen Gesundheit von Menschen mit Komplexer Behinderung 20 Andrea Zwicknagl: «Ein anderer Umgang mit psychischer Erschütterung tut not» 26 Somosa Winterthur: Zusammenarbeit von Psychiatrie und Sozialpädagogik kurz & knapp 30 Public Voting beim Social Store Award Aktuell 32 Berufsgruppe der Pflegehelfenden SRK bekannter machen 35 Gerontologe Markus Leser hat Curaviva während 20 Jahren geprägt 40 Bessere Daten für gute Behindertenpolitik 43 Mit Intercare gelingt es, die stationäre Langzeitpflege zu stärken. 46 Heimgastronomie: Effiziente Prozesse 48 Personalengpässe abfedern Politische Feder 50 Kathrin Huber, Generalsekretärin GDK 14 32 50 05_Inhalt_DE_617304.indd 5 23.10.23 12:29
Aufmerksamkeit wirkt heilend
ARTISET 10/11 I 2023 7 Im Fokus Der Römerhof ist in Zürich eine Institution. Das Alters- und Pflegeheim bietet Menschen, die mehrfach krank sind, umfassende psychosoziale und medizinische Pflege. Wer in das geschichtsträchtige Haus einzieht, erfährt Aufmerksamkeit. Von Monika Bachmann Im Kreis 7 lebt es sich gut. Die Gegend gilt als beliebte, sogar gehobene Wohnadresse. Hier trifft man auf noble Orte, wie etwa das Dolder Grand Hotel. Auch der Zürcher Zoo ist in diesem Gebiet angesiedelt. Der nahe gelegene Wald und die Aussicht zum gegenüberliegenden Uetliberg bieten Lebensqualität. Vom Hauptbahnhof aus führt ein Tram mitten durchs Quartier – und entlang der belebten Asylstrasse. An der Nummer 40 steht ein stattlicher, hufeisenförmiger Bau mit der Anschrift: «Römerhof – mehr als Pflege». Es ist 13 Uhr. Im Entree ist gerade einiges los. Ein Bewohner, der in einen beigen, leicht zerknitterten Anzug gekleidet ist, geht am Rollator in Richtung Tiefkühler, der im Empfangsbereich aufgestellt ist. Er besorgt sich zum Nachtisch sein Eis. Eine ältere Frau steht am Schalter und bezieht gerade ihr tägliches Taschengeld. Auf der anderen Seite des Raums sitzt ein Mann um die 60. Er scheint angespannt und leicht nervös zu sein. Ein Gespräch mit einem Mitarbeiter schafft dann Abhilfe. Dies sind drei Personen, die im Alters- und Pflegeheim Römerhof wohnen. Das Haus im Kreis 7 bietet Menschen, die in ihrem Leben die Noblesse nicht kennengelernt haben, ein Zuhause für immer. Ganzheitliche Pflege Viele Bewohnerinnen und Bewohner sind auf psychosoziale Pflege angewiesen. Einige haben eine Suchterkrankung, andere sind psychisch krank. Sie leiden zum Beispiel an einer bipolaren Störung, an Borderline oder befinden sich in einer Substitutionstherapie. Es sind vorwiegend ältere Personen, die im Römerhof endlich ein Daheim gefunden haben – und eine Betreuung, die ihren Bedürfnissen angepasst ist, auch wenn im Lauf der Zeit weitere Diagnosen wie beispielsweise eine Demenz hinzukommen. «Psychosoziale und medizinische Probleme lassen sich nicht trennen», sagt Anastasia Skripnikov, die in der Institution als Projektmanagerin engagiert ist. Diese Erkenntnis ist im Römerhof mit der Zeit gewachsen. So hat man vor zwölf Jahren das Konzept neu ausgerichtet. «Die zunehmende Nachfrage nach Plätzen mit psychosozialer Betreuung war damals ausschlaggebend», erzählt Anastasia Skripnikov. Heute beherbergt das Haus 95 Bewohnerinnen und Bewohner, die auf fünf Etagen leben. In einer nächsten Bauetappe kommt eine sechste Abteilung hinzu. Bald stehen im Römerhof 140 Betten in Einer- und Zweierzimmer zur Verfügung. Jedes Stockwerk hat eine spezifische Ausrichtung, unter anderem bietet das Haus Raum für Menschen mit Demenz, für Pflegebedürftige oder für Personen, die auf medizinaltechnische Massnahmen angewiesen sind. Auch betreutes Wohnen sowie Übergangs- und Entlastungspflege gehören zum Angebot. Der psychosoziale Aspekt ist in jedem Fall eingeschlossen. «Wir bieten eine ganzheitliche Pflege», fasst Anastasia Skripnikov zusammen. Zusammenarbeit mit Drittstellen Den Weg in den Römerhof finden die meisten Bewohnerinnen und Bewohner über eine Drittstelle, wie die Psychiatrische Universitätsklinik Zürich (PUK), einen Sozialdienst, die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) oder einen Hausarzt, eine Hausärztin. Pflegedienstleiter Nikola Stojadinovic misst der Zusammenarbeit mit diesen Stakeholdern grosses Gewicht bei: «Bei einem geplanten Eintritt sitzen wir stets zusammen an einen Tisch, um für den Bewohner oder die Bewohnerin die beste Lösung zu finden», sagt er. In erster Linie gehe es darum, die passende Abteilung zu wählen, danach werde eine Tagesstruktur ausgearbeitet, die den persönlichen Bedürfnissen und Möglichkeiten der betroffenen Person entspreche, so Nikola Stojadinovic. Aktivierung ist dabei ein zentrales Element: Während die einen gerne Klavier spielen, gehen andere lieber spazieren. Dabei setzt man auf die Unterstützung durch Freiwillige in Form von Nachbarschaftshilfe. Zudem finden Gesprächstherapien statt, die von Fachpersonen von Home Treatment der PUK oder externen Fachärztinnen und -ärzten geführt werden. Fest verankert ist auch das wöchentliche Aktivierungsprogramm, das zur Teilnahme an Spielnachmittagen, Qigong, Gottesdiensten oder zum Kuchenbacken einlädt. «Bei der Entwicklung einer individuellen Tagesstruktur Eine Bewohnerin hegt und pflegt ihr Hochbeet: Die an der Biografie ausgerichtete Alltagsgestaltung und das Gespräch tragen im Römerhof in Zürich viel zum Wohlbefinden bei. Foto: Römerhof/Nina Kälin
8 ARTISET 10/11 I 2023 orientieren wir uns an der Biografie der Bewohnerin oder des Bewohners», erklärt Anastasia Skripnikov. So unterschiedlich wie die Menschen, ist im Römerhof auch die Alltagsgestaltung. Das tägliche Gespräch Das Kernstück, das die psychosoziale Pflege im Römerhof ausmacht, ist das Gespräch. «Unsere Bewohnerinnen und Bewohner benötigen viel Aufmerksamkeit und emotionale Präsenz», so Nikola Stojadinovic. Deshalb sei es wichtig, dass die Pflegenden nebst der Grundausbildung ein hohes Mass an Empathie und Kommunikationsfähigkeit mitbringen würden. Menschen, die an einer Suchterkrankung leiden oder eine psychische Diagnose haben, sind manchmal von Isolation und Einsamkeit bedroht. Im Römerhof macht man die Erfahrung, dass ein beachtlicher Teil der Betroffenen schon länger keinen Kontakt mehr zu ihren Familien hat und das soziale Umfeld fehlt. Persönliche Beziehungen werden deshalb gepflegt, wie Anastasia Skripnikov sagt: «Wir sind für viele Bewohnerinnen und Bewohner eine Art Familienersatz.» Das psychische Gleichgewicht hängt jedoch nicht nur von zwischenmenschlichen Aspekten ab, sondern auch von der medizinischen Versorgung und Therapie. An der Asylstrasse 40 setzt man auf interdisziplinäre Zusammenarbeit mit der Ergo- und Physiotherapie, zudem holt man externe Dienstleistungen wie etwa die Dentalhygiene, das mobile Röntgen oder das Augenmobil, das regelmässige Augenuntersuchungen anbietet, ins Haus. Gerade für Menschen, die an Zwangs- oder Angststörungen leiden und somit externe Termine nur unter erschwerten Umständen wahrnehmen können, ist dieses Angebot hilfreich. Eine hohe Präsenz Um Stabilität zu gewährleisten, finden regelmässige Standortgespräche statt, an denen alle beteiligten Mitarbeitenden und externe Fachpersonen zusammenkommen. Dabei diskutiert man über die aktuelle Befindlichkeit der betroffenen Person und leitet bei Bedarf Veränderungen in der Betreuung, der Medikation oder der Tagesstruktur ein. Trotz all diesen Massnahmen geht es im Römerhof nicht immer harmonisch zu und her. Der Umgang mit persönlichen Krisen von Bewohnerinnen und Bewohnern muss deshalb gelernt sein. «Für unsere Mitarbeitenden bieten wir regelmässig interne und externe Weiterbildungen an», sagt Anastasia Skripnikov. Ausgewählte Themen wie beispielsweise das Aggressionsmanagement werden vertieft beleuchtet und tragen dazu bei, dass belastende Situationen oder Konflikte professionell bewältigt werden können. Trotzdem kann es vereinzelt vorkommen, dass vorübergehend eine Hospitalisierung notwendig wird. Präsenz wird an der Asylstrasse 40 grossgeschrieben. «Im Haus sind rund um die Uhr diplomierte Pflegefachpersonen im Einsatz, und Kadermitarbeitende leisten regelmässig Wochenenddienst», so Nikola Stojadinovic. Dieses Konzept orientiert sich an den Lebensumständen von psychisch kranken Menschen, die nicht selten eine Umkehr von Tag und Nacht leben. Einige Bewohnerinnen und Bewohner profitieren schon seit langer Zeit von dieser umfassenden Betreuung. «Es gibt Personen, die seit 20 Jahren im Römerhof wohnen», verrät Anastasia Skripnikov. Diese Leute dürfen sich darauf verlassen, dass sie auch in der Endphase des Lebens in ihrem Zimmer bleiben können. Denn Palliativ Care gehört ebenso zum Angebot dieses Hauses. «Jeder Mensch hat einen Platz verdient», so das Credo im Römerhof. Im Kreis 7 ist die Lage besonders schön. DER RÖMERHOF Am Platz, wo heute der Römerhof steht, befand sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine alte Villa mit Türmchen, die als Klinik für Magen-Darm-Krankheiten genutzt wurde. 1937 wurde das Haus von Diakonieschwestern erworben, die darin zuerst ein christliches Heim und ab 1940 ein Pflegeheim betrieben. Im Jahr 1980 veranlasste das Diakoniewerk St. Chrischona den Abbruch der Villa sowie den Neubau eines U-förmigen Gebäudes. Da der Nachwuchs bei den Diakonissen zunehmend fehlte, wurde das Haus 2011 an die Familie Gubler verkauft, die den Betrieb seither auf die modernen Ansprüche des heutigen Pflegestandards ausrichtet. 2015 bis 2020 erfolgte eine Gesamtsanierung, wobei auch ein Mehrzweckraum mit Terrasse errichtet wurde, die einen Weitblick auf die Stadt und den Zürichberg bietet. Der Römerhof gehört heute zur Bellevue Residenz AG, die in Zürich zwei weitere Pflegeeinrichtungen betreibt. Die Familie Gubler ist im Verwaltungsrat sowie in geschäftsleitenden Funktionen der drei Betriebe tätig. Das Konzept «Psychosoziale Pflege und tagesstrukturierende Massnahmen» wird an allen drei Standorten angewendet. Die Leistungen werden von der Grundversicherung der Krankenkasse sowie ergänzenden Mitteln wie Ergänzungsleistungen oder Sozialhilfe finanziert. ➞ heimroemerhof.ch «Unsere Bewohnerinnen und Bewohner benötigen emotionale Präsenz. Deshalb ist es wichtig, dass die Pflegenden ein hohes Mass an Empathie mitbringen.» Nikola Stojadinovic, Pflegedienstleiter Im Fokus
ARTISET 10/11 I 2023 9 Im Fokus Der demografische Wandel hat eine Zunahme psychiatrischer Erkrankungen bei älteren Menschen zur Folge. Egemen Savaskan* von der Alterspsychiatrie der Universitätsklinik Zürich erläutert die Krankheitsbilder – und macht sich stark für nicht-pharmakologische Therapien. Dafür braucht es Weiterbildungen der Pflegenden und eine Zusammenarbeit mit der Alterspsychiatrie. Interview: Elisabeth Seifert « Viele Heime nützen nicht-pharmakologische Therapien zu wenig» Herr Savaskan, psychiatrische Diagnosen in der Bevölkerung nehmen generell zu: Wie beschreiben Sie den psychischen Gesundheitszustand von Menschen ab 65 Jahren? Man kann nicht sagen, dass psychiatrische Erkrankungen bei alten Menschen zunehmen. Man kann aber sagen, dass die Menschen heute länger leben, wodurch es immer mehr ältere Menschen gibt. Das führt zu einer höheren Zahl psychiatrischer Krankheitsbilder in dieser Altersgruppe. Es gibt also eine durch den demografischen Wandel bedingte Zunahme an psychischen Erkrankungen bei älteren Menschen? Ja, genau. In der Gruppe der betagten und hochbetagten Menschen haben wir es zudem mit spezifischen psychischen Krankheitsbildern zu tun. Ganz besonders sind hier die verschiedenen Arten von Demenz zu nennen. Solche kognitiven Störungen treten vor allem im Alter auf. Demenzerkrankung ist eine globale Hirnerkrankung, das heisst, verschiedene Systeme im zentralen Nervensystem sind betroffen. Deshalb treten mit Demenz eine Vielfalt von psychiatrischen Symptomen auf. Demenzerkrankungen führen also nicht nur zu Gedächtnisproblemen oder kognitiven Störungen? Demenzprobleme stellen ein grosses Problem dar, weil sie eben eine Reihe von psychiatrischen Symptomen zur Folge haben. Man spricht hier von den sogenannten BPSD-Symptomen, den Behavioural und Psychological Symptoms of Dementia. Dazu zählen Apathie, Agitiertheit, Angst, Depressivität, Halluzinationen und Wahnvorstellungen sowie Verhaltensstörungen in Form von motorischer Unruhe, unangemessenem Verhalten, sexueller Enthemmung und verbaler oder körperlicher Aggression. Wie oft kommt es zu diesen zusätzlichen Symptomen? Studien zeigen, dass praktisch alle Demenzerkrankten mindestens ein zusätzliches Symptom entwickeln und zum Teil auch weitere. Die Hälfte der Demenzerkrankten hat eine Depression. Eine solche Depression entwickelt sich oft zu Beginn einer Demenz. Wenn ein älterer Mensch zum ersten Mal in seinem Leben eine Depression entwickelt und zu uns in die Memoryklinik oder in die Alterspsychiatrie kommt, dann nehmen wir alle Demenzabklärungen vor. Was unternehmen Sie dann in solchen Fällen? Gegen die Demenz an sich können wir noch immer nichts machen, wir können aber die Begleitsymptome
10 ARTISET 10/11 I 2023 behandeln. Wenn man eine Depression gut behandelt, und hier denke ich neben Medikamenten ganz besonders auch an psychotherapeutische Massnahmen, dann kann man einen Teil der Alltagseinschränkungen rückgängig machen. Gerade in den frühen Phasen einer Demenz kann damit die Alltagsfähigkeit gut erhalten werden. Eigentliche psychotische Symptome wie Halluzinationen und Wahn treten erst im späteren Verlauf auf. Psychiatrische Erkrankungen im Alter haben oft somatische Ursachen? Es verbinden sich physische Krankheitsbilder tatsächlich öfters mit psychischen Erkrankungen. Diabetes zum Beispiel oder Kreislauferkrankungen wie Bluthochdruck, Herzinfarkt oder Schlaganfall können Depressionen hervorrufen. Diese Erkrankungen sind Risikofaktoren für eine Depression, und umgekehrt ist eine Depression ein Risikofaktor für diese Erkrankungen. Aufgrund verschiedener Krankheiten kommt dann auch die Polypharmazie ins Spiel … …kann die Nebenwirkung von Medikamenten auch zu psychischen Erkrankungen führen? Viele Betagte nehmen eine Reihe von somatischen Medikamenten. Dadurch kommt es vermehrt zu Interaktionen zwischen den Wirkstoffen und zu mehr Nebenwirkungen. Diese können auch Depressionen auslösen. Insbesondere bei Frauen beobachten wir einen vermehrten Konsum von Benzodiazepinen und Sedativa, um Schlafstörungen zu bekämpfen. Solche Medikamente können rasch zu einer krankhaften Abhängigkeit führen. Gleiches gilt auch für den Konsum von Schmerzmitteln. Psychische Störungen treten bei alten und hochbetagten Menschen aber sicher auch unabhängig von somatischen Ursachen auf? Ja natürlich, verschiedene alterspsychiatrische Erkrankungen, ganz besonders die Altersdepression, haben nicht nur somatische Risikofaktoren. Es bestehen vielmehr auch soziale Risikofaktoren. An erster Stelle steht hier sicher die soziale Isolation, die Einsamkeit. Risikofaktoren sind auch der Verlust von Mobilität, der Verlust von Angehörigen oder auch der Verlust eines Haustiers. Wie beurteilen Sie die Häufigkeit von Altersdepressionen? Aufgrund der demografischen Entwicklung stellen wir bei betagten Menschen neben der Zunahme verschiedener Arten von Demenz vor allem auch eine Zunahme von Depressionen fest. Diese wiederum stehen oft am Beginn einer Abhängigkeitserkrankung. Bei Frauen wird diese vor allem durch Medikamente verursacht, bei Männern durch Alkohol. Depressionen sind die häufigste psychische Erkrankung in der Gesellschaft allgemein. Sie stehen also auch bei den über 65-Jährigen ganz weit vorne? Depressionen kommen auch bei betagten Menschen oft vor. Sie treten aber in einer anderen Form auf als bei jüngeren Menschen. Wir beobachten oft eine Chronifizierung, und hinzu kommt dann noch eine Resistenz gegen medikamentöse Therapien. Was meinen Sie mit «Chronifizierung»? Anders als bei Jüngeren beobachten wir im Alter sehr viele subsyndromale Depressionen. Das heisst, sie erreichen nicht die Schwelle einer schweren Depression. Zudem stehen sie oft in Verbindung mit körperlichen Symptomen wie Schmerzen, Schwindelgefühl und Schlafstörungen. Depressionen im Alter sind oft auch unterdiagnostiziert. Dies führt dann auch zu einer Zunahme der Suizidalität. ALTERSDEPRESSION – WAS IST ZU TUN? Diagnostik und Therapie der Altersdepression können nur interprofessionell und interdisziplinär angegangen werden. Daher hat eine Expertengruppe unter der Federführung der Schweizerischen Gesellschaft für Alterspsychiatrie und -psychotherapie (SGAP) Empfehlungen erarbeitet, um die diagnostischen und therapeutischen Interventionsmöglichkeiten im Alltag übersichtlich darzustellen und um die Früherkennung und Therapie der Altersdepression zu fördern. Martin Hatzinger, Egemen Savaskan (Hrsg.), Empfehlungen für die Diagnostik und Therapie der Depression im Alter. Frühzeitige Erkennung und evidenzbasierte Behandlung. Hogrefe- Verlag, Bern, 2019. «Heute sind gerade auch in Alters- und Pflegeheimen Antipsychotika verbreitet. Auch diese Medikamentengruppe muss aber kritisch betrachtet werden.» Egemen Savaskan
ARTISET 10/11 I 2023 11 Wie erklären Sie die Therapieresistenz? Wenn bei einer Person zum Beispiel schon in jüngeren Jahren Antidepressiva eingesetzt worden sind, dann kann es zu einem Abbau an entsprechenden Rezeptoren im Gehirn kommen. Die betagten Menschen benötigen zudem, wie ich bereits erwähnt habe, viele andere Medikamente, was zu unerwünschten Interaktionen führen kann. Wir setzen Medikamente deshalb in vorsichtiger und niedrigerer Dosierung ein. Damit sind wir im Bereich der medikamentösen Behandlung aber weniger effektiv. Sie zeichnen ein komplexes Bild der psychiatrischen Krankheitsbilder im Alter. Ist sich die Gesellschaft dieser Problematik bewusst? Die Sensibilisierung schreitet voran. Die Schweiz macht sehr viel, gerade auch im internationalen Vergleich. Erwähnen möchte ich besonders die nationale Demenzstrategie von 2014 bis 2019. Diese hat im Bereich der Prävention und Diagnostik viel bewirkt. Wir von der Schweizerischen Gesellschaft für Alterspsychiatrie und Alterspsychotherapie haben parallel dazu Therapieempfehlungen im Bereich Demenz entwickelt sowie für Altersdepressionen, für Abhängigkeitserkrankungen oder für das Delir im Alter. Medikamentöse Therapien werden zunehmend kritisch betrachtet. Derzeit erarbeite ich gerade eine Revision unserer Empfehlungen, zwei Drittel davon sind nicht-pharmakologische Massnahmen. Für viele alterspsychiatrische Krankheitsbilder reichen diese aus. Es gibt aber Krankheiten, die auf eine medikamentöse Therapie angewiesen sind. Wir müssen dafür die verschiedenen Medikamentengruppen sehr differenziert betrachten. Sedativa, dazu zählen Benzodiapezine und Hypnotica, empfehlen wir wirklich gar nicht. Diese Medikamente können bei alten Menschen Delir verursachen und zu Abhängigkeiten führen. …kommen solche Medikamente in der Praxis dennoch zum Einsatz? Das war vor allem noch vor einigen Jahrzehnten der Fall. Heute sind gerade auch in Alters- und Pflegeheimen Antipsychotika verbreitet. Auch diese Medikamentengruppe müssen aber kritisch betrachtet werden, weil es ebenfalls zu Nebenwirkungen kommt. Es gibt sehr starke Antipsychotika, die bei Wahn oder Halluzinationen angewendet werden, und es gibt schwächere Medikamente, die bei Aggressivität und Unruhe oder auch als Schlafmittel zum Einsatz kommen. Alterspsychiater Egemen Savaskan: «Für viele alterspsychiatrische Krankheitsbilder reichen nicht-pharmakologische Massnahmen aus.» Foto: PUK Im Fokus
Bei uns finden Sie das passende Personal! sozjobs.ch Der Stellenmarkt für Sozial- und Gesundheitsberufe Sozjobs_Inserat_2022_Curaviva_halbseitig_180x130.indd 1 22.06.22 16:37 Publireportage der Pensionskasse Kanton Solothurn Wir versichern auch in den Wirtschaftsregionen Aargau, Basel-Landschaft und Bern «Als Mitglied der PKSO fühlen wir uns sehr gut aufgehoben.» Wir können mit Überzeugung sagen, dass diese Pensionskasse eine erstklassige Institution für die berufliche Vorsorge ist. Sie bietet nicht nur finanzielle Sicherheit, sondern auch einen ausgezeichneten Kundenservice und eine ethische Anlagephilosophie. Ich kann die PKSO absolut empfehlen. May Jauslin Institutionsleiterin Altersheim Inseli, Balsthal «Zögern Sie nicht, wir beraten auch Sie gerne persönlich.» Walter Gabathuler Unternehmensberater BVG, PKSO walter.gabathuler@pk.so.ch 032 627 89 37 Pensionskasse Kanton Solothurn Dornacherplatz 15 4502 Solothurn, pkso.ch Erfahren Sie mehr über die PKSO:
ARTISET 10/11 I 2023 13 Empfehlen Sie den Einsatz von Antipsychotika? Antipsychotika sind nur in Ausnahmefällen angezeigt, nämlich in schweren Fällen mit psychotischen Symptomen, die zu Aggressivität gegenüber sich selbst und anderen führen. Das ist vor allem im späteren Verlauf einer Demenz der Fall. Eine weitere Medikamentengruppe sind die Antidepressiva. Diese haben eher wenige Nebenwirkungen. Wir empfehlen sie neben Psychotherapien bei schweren Depressionen. Leichte bis mittelschwere Depressionen können hingegen gut einzig mit Psychotherapien behandelt werden. Sie haben es angesprochen: Gerade Antipsychotika sind in Alters- und Pflegeheimen vielfach verbreitet. Viele Pflegeheime nützen heute die nicht-pharmakologischen Therapien einschliesslich der Psychotherapien noch viel zu wenig. Wenn wir diese Therapien besser nützen könnten, bräuchten wir weniger Medikamente, gerade auch bei den rund 30 bis 40 Prozent der Bewohnenden in den Alters- und Pflegeheimen, die an Demenz erkrankt sind. Können Sie das näher ausführen? Nicht-pharmakologische Therapien sollten als Therapien der ersten Wahl bei Demenzpatientinnen und -patienten angewendet werden. Die meisten Demenzerkrankten haben zum Beispiel Schlafstörungen. Das hat wesentlich auch damit zu tun, dass sie sehr zurückgezogen leben. Wenn sie aber jeden Tag aktiviert werden und ausreichend Licht bekommen, können sie auch besser schlafen. Besonders bewähren sich zu diesem Zweck auch eigentliche Lichttherapien. Weil solche nicht-pharmakologischen Therapien aber sehr personalintensiv und damit teuer sind, kommen dann aber eben oft Medikamente zum Einsatz? Ja, aber ich möchte das nicht als Vorwurf formulieren. Viele Pflegeheime machen eine sehr gute Arbeit. Vielfach fehlen aber die Ressourcen für die Fachpflege und das Fachpersonal. Und selbst wenn genügende Geld vorhanden wäre, ist es sehr schwierig, das entsprechend ausgebildete Fachpersonal zu finden. Gerade im internationalen Vergleich verfügt die Schweiz aber doch über eine gute Situation, wir haben bei der Förderung von nicht- pharmakologischen Therapien aber klar Nachholbedarf. Was ist gerade auch unter den gegebenen Rahmenbedingungen zu tun? Ein wichtiger Punkt ist die Weiterbildung der Pflegenden, damit sie all die nicht-pharmakologischen Therapien kennen und anwenden können. Es gibt sehr viele solcher Therapien, etwa die Ergotherapie, die Musiktherapie, Tiergestützte Therapien, Physiotherapie, mobilitätsfördernde Therapie, aber auch gemeinsame Anlässe und psychotherapeutische Therapien. Braucht es für diese Weiterentwicklung der Pflegenden nicht auch spezialisierte Ärztinnen und Ärzte in den Heimen? Wir plädieren von der Schweizerischen Gesellschaft für Alterspsychiatrie und Alterspsychotherapie dafür, dass jedes Heim den Zugang zu einem Alterspsychiater oder eine Alterspsychiaterin haben sollte. Neben der Versorgung durch Hausärztinnen und Hausärzte braucht es eine solche Spezialisierung. Eine gute Möglichkeit dafür bieten die Konsiliar- und Liaisondienste von alterspsychiatrischen Kliniken. Diese müssen wir ausbauen. Es gibt aber schweizweit zu wenige spezialisierte Kliniken. Im Kanton Zürich gibt es eine vergleichsweise sehr gute Versorgung. Im Kanton Zürich gibt es insgesamt vier Alterspsychiatrische Kliniken, und alle verfügen sie über Konsiliar- und Liaisondienste. Unsere Klinik zum Beispiel betreut in der Stadt Zürich 34 privat geführte Alters- und Pflegeheime. Für die direkt von der Stadt Zürich geführten Heime ist der stadtärztliche Dienst verantwortlich. Obwohl die Versorgung grundsätzlich gut funktioniert, ist die Finanzierung unserer Dienstleistungen ein Problem. Über den ambulanten KVG-Tarif Tarmed sind nur die ärztlichen Leistungen gezahlt. Wir arbeiten aber in der Begleitung der Heime mit interprofessionellen Teams. Die Abgeltung dafür ist ungenügend. * Egemen Savaskan, Jg. 1964, Prof. Dr. med., ist Chefarzt /Direktor a. i. der Klinik für Alterspsychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich und Titularprofessor an der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich. Er ist Co-Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Alterspsychiatrie und Alterspsychotherapie (SGAP). Schweizerische Gesellschaft für Alterspsychiatrie und -psychotherapie ➞ sgap-sppa.ch «Ein wichtiger Punkt ist die Weiterbildung der Pflegenden, damit sie all die nicht-pharmakologischen Therapien kennen und anwenden können.» Egemen Savaskan Im Fokus
Christian Heiniger kennt alle gängigen Psychopharmaka – viele dem Namen nach, viele auch aus eigener Erfahrung. Als zertifizierter Peer begleitet er andere Betroffene und teilt seine Erfahrung mit ihnen. Foto: Marco Zanoni Im Fokus Zaubermittel gibt es nicht – aber Nebenwirkungen Die Nebenwirkungen von Psychopharmaka sind manchmal fast gravierender als die positiven Effekte, und ihre Wirksamkeit ist auch bei Fachleuten umstritten. Hingegen sind sich ein Peerberater und eine Fachfrau einig: Betroffene müssen unbedingt gut aufgeklärt werden und bei der Therapie mitreden dürfen. Das Ziel einer Therapie soll nicht Symptomfreiheit sein. Sondern Lebensqualität. Von Claudia Weiss
ARTISET 10/11 I 2023 15 Ruhig schüttet Christian Heiniger etwas Zucker in den Cappuccino, dann lehnt er sich zurück und erzählt. Von der ersten Depression mit 15 nach der Scheidung der Eltern, dem Kiffen und dem Alkohol, mit dem er sich selbst zu helfen versuchte. Der Effekt: «Mit 18 war ich Alkoholiker.» Seinen ersten Entzug zog Heiniger nach bestandener Maturaprüfung stationär in einer Fachklinik durch. Dort bekam er Valium, um die Entzugskrämpfe zu lindern, später erhielt er von seinem Psychiater hochdosierte Antidepressiva gegen die Depressionen. «So geriet ich in den Strudel», sagt er: Alkohol, Alkoholentzug, Psychopharmaka, Medikamentenentzug – und dann wieder von vorne. Bis der heute 40-Jährige die richtige Diagnose bipolare Störung Typ II erhielt, dauerte es noch Jahre. Daher begann er, selbst auszuprobieren, und behalf sich zwischen Klinikaufenthalten und Therapien während 20 Jahren eigenmächtig: «Bei Hypomanie trank ich, gegen Depressionen halfen Aufputschmittel», erzählt er sachlich. Am 1. Januar 2020 schaffte es Christian Heiniger, endgültig vom Alkohol wegzukommen, andere Drogen meidet er schon lange. Heute begleitet er als Ex-In-zertifizierter Peer andere psychisch kranke Menschen während ihres Aufenthalts in der Klinik. Psychopharmaka, ihre Nebenwirkungen und der Umgang damit sind Themen, die dabei immer wieder auftauchen. Für solche Fragen ist er der Richtige, nicht umsonst nennt ihn sein Hausarzt «Doktor Compendium», nach dem dicken Katalog, in dem alle Medikamente samt Wirkung und Nebenwirkungen aufgeführt sind. Sein Vater, medikamentenabhängig, hatte das Compendium im Büchergestell stehen, er selbst schmökerte schon als Kind darin, um die Situation seines Vaters zu verstehen. Noch heute verschlingt Heiniger internationale Psychiatriestudien, und er kennt alle gängigen Psychopharmaka – die meisten dem Namen nach, viele aus eigener Erfahrung. Zuerst die Hypomanie, dann die Depression Heinigers Hirn ist fix und seine Gedanken fliegen blitzschnell in alle Richtungen, es ist nicht immer einfach, ihm zu folgen. Er zeigt sein sympathisches Lächeln, ja, es könnte sein, dass er soeben eine leichte Hypomanie durchmacht, er fühle sich gerade ziemlich erleichtert, weil sich ein belastendes Problem wie von selbst gelöst habe. In solchen Phasen schläft er nicht länger als drei, vier Stunden pro Nacht und fühlt sich am Morgen dennoch klar und munter. Vor vier Jahren wurde bei ihm endlich eine bipolare Störung Typ II diagnostiziert, und er fand zusammen mit seinem Psychiater die richtige Therapie. Aber er weiss, wie sich eine Hypomanie anfühlt, nächtelang kaum zu schlafen, tausend Ideen im Kopf zu haben und voller Energie vieles anzupacken – «ein tolles Gefühl». Eines, das er bezahlt, indem er nach ein paar hochfliegenden Tagen in eine Erschöpfungsphase gerät und kaum mehr zum Bett herauskommt. Darum hat er in seinem Medikamentenschrank für alle Fälle die wichtigen Psychopharmaka in Reserve, muss sie aber dank seinem Wissen und der guten Zusammenarbeit mit dem Psychiater nicht ständig einnehmen. Inzwischen kann er in ständiger Absprache mit seinen Ärzten mitbestimmen, was er wann einnimmt: täglich einen Stimmungsstabilisator und ein spezielles Antidepressivum, das auch gegen Narkolepsie hilft. Wenn eine hypomanische Phase ausser Kontrolle gerät, hat er ein Fläschchen des atypischen Antipsychotikums Risperdal in Reserve, von dem er selbstständig ein bis zwei Milligramm zum Herunterkommen einnehmen kann. «In intensiver Therapie mit meinem Psychiater lernte ich die Frühwarnzeichen und allfällige Auslöser kennen», sagt er. Dank dieser Psychoedukation komme er mit einer viel geringeren Fixmedikation durch als andere mit derselben Diagnose. Oft hört er jedoch von anderen, dass sie viel zu wenig aufgeklärt sind. Deshalb teilt Heiniger seine Erfahrungen mit anderen Betroffenen und drängt sie, unbedingt bei den Ärzten nachzufragen, nachzuhaken und sich bewusst zu machen, dass sie das Recht haben, mitzureden. «Mitbestimmung und eine gute Aufklärung sind dringend nötig», betont er. «Oft könnte man Medikamente anders dosieren oder kombinieren und so das Ziel erreichen, deutlich weniger Fixmedikamente einnehmen zu müssen.» Er selbst hat in seinem Leben über 30 verschiedene Psychopharmaka verschrieben bekommen. Längst nicht alles hat geholfen, manche Nebenwirkung war schwerwiegender als die unterstützende Wirkung. Von Harnverhalt über Kopfweh bis Wattegefühl Die schlimmsten Nebenwirkungen? Er überlegt, dann zählt er auf: Benzodiazepine machen müde, lustlos und vor allem abhängig. Antipsychotika verleihen ein Gefühl, völlig benebelt und abgelöscht zu sein, und haben oft gravierende Spätfolgen wie irreversible nervöse Zuckungen und Grimassieren. Nebenwirkungen könne man zwar mit dem Gegenmittel Akineton aufheben, «aber es ist nicht vergnüglich, ständig eine Menge Psychopharmaka plus dazugehörige Gegenmittel zu schlucken». Hautausschläge, Depersonalisierung, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Harnverhalt, Magenkrämpfe, Veränderungen des Blutbildes, bei Langzeitgebrauch auch Leber- und Nierenschäden, die Liste ist lang, und die Nebenwirkungen seien bei ihm oft lange vor der eigentlichen Wirkung eingetreten. Zudem empfand er den Entzug von Schlaf- und Beruhigungsmitteln als «vor allem psychisch viel härter und langwieriger als von Alkohol». Heiniger hat auch erlebt, wie es sich anfühlt, wenn ein Medikament jedes Sättigungsgefühl verhindert: Er nahm innert weniger Wochen 15 Kilogramm an Gewicht zu,
16 ARTISET 10/11 I 2023 von Libidostörungen gar nicht zu reden. Immerhin: Dank Recherchen hat er schnell herausgefunden, dass es ein Medikament gibt, das seinen Libidoverlust sofort aufhob. Über solch hilfreiche Erkenntnisse informiert er als zertifizierter Genesungsbegleiter auch andere Betroffene, die bei ihm Rat suchen, weil sie Hemmungen haben, ihre Psychiaterin oder ihren Therapeuten darauf anzusprechen. «Die schlimmste Nebenwirkung», sagt Heiniger dann, «ist dieser Teufelskreis, den man nur schwer durchbrechen kann.» Er kennt das Balancieren zwischen Symptombekämpfung und chemischem Deckel, dieses Abwägen, was momentan das geringere Übel ist. Seine Maxime lautet: «So wenig wie möglich, so viel wie für eine gute Lebensqualität nötig.» Viele Betroffene erhalten allerdings über Jahre hinweg Psychopharmaka verschrieben, ohne ausführlich aufgeklärt zu werden. Und obwohl das Problem bekannt ist: «Psychopharmaka und ihre Nebenwirkungen», erklärt Nadia Pernollet, «gehören zu den meistdiskutierten Themen – bei Betroffenen und Fachleuten.» Pernollet ist psychosoziale Beraterin bei Pro Mente Sana und hat lange als Psychiatriepflegefachfrau gearbeitet, oft stationär und mit jungen Menschen, die eine Erstdiagnose erhielten. Dabei hat sie immer wieder mitbekommen, wie weit die Meinungen zum Thema Psychopharmaka auseinandergehen. Egal, welche Ausrichtung die Fachleute vertreten, für sie ist vor allem eines wichtig: «Fachpersonen müssen sauber aufklären und gemeinsam mit den Betroffenen die geeignete Therapieform suchen.» Die Betroffenen seien Expertinnen und Experten aus persönlicher Erfahrung, und die therapeutischen Fachpersonen müssten sie unbedingt ermutigen, beim Umgang mit ihrer Krankheit mitzubestimmen. Wichtig: Ein grosses Umdenken in der Psychiatrie Das rät sie auch allen Betroffenen, die sie auf der Beratungsstelle kontaktieren: «Sie dürfen für ihre Anliegen einstehen, Aufklärung verlangen und Alternativen erfragen.» Sie weiss, dass oft schon junge Menschen mit einer Erstdiagnose «Psychose» hören, sie müssten ihr Leben lang Psychopharmaka einnehmen. Stationäre Aufnahmen würden oft davon abhängig gemacht, ob jemand in eine medikamentöse Therapie einwillige. Da sei allerdings ein grundlegendes Umdenken nötig, fordert sie: «Es gibt keine Zauberpillen, die eine psychische Erkrankung heilen – es geht vielmehr darum zu erfahren, was dahintersteckt, und zu lernen, wie man das Leben damit gut gestalten kann.» Dafür seien die Beziehungen zwischen Fachpersonen und Betroffenen zentral, nicht bloss die symptombekämpfenden Medikamente. Denn symptomfrei heisse nicht gesund: «Es geht um Lebensqualität!» Ein trockener Mund als anfängliche Nebenwirkung während der ersten drei Wochen sei zumutbar, aber wenn ein Medikament langfristige, einschneidende Nebenwirkungen erzeuge, sei die Lebensqualität drastisch eingeschränkt. Gerade Libidostörungen, hat sie festgestellt, sind ein grosses Thema, aber auch ein grosses Tabu: «Viele Betroffenen wagen aus Scham nicht, das anzusprechen. Therapeutinnen und Therapeuten wiederum denken, wenn die Leute das nicht selbst ansprechen, sei es wohl auch kein Thema.» Dabei sei dieses sensible Thema besonders für junge Menschen oft sehr wichtig. Für Nadia Pernollet ist klar: «Es braucht viel Begleitung, Einfühlungsvermögen und die Bereitschaft, sich einzulassen, wenn Betroffene keine medikamentöse Therapie möchten.» Dass Fachpersonen davor zurückschrecken, sei verständlich angesichts des Kosten- und Zeitdrucks – «in drei Wochen auf der Akutstation kann man keine Depression behandeln» –, aber dennoch nicht zielführend. Gute Beispiele gibt es, aber nicht genug Geld Sie hofft auf ein grundsätzliches Umdenken in der Psychiatrie und wehrt sich auch gegen Stempel wie «non-compliant», die jenen Betroffenen verpasst werden, die ihre Psychopharmaka hinterfragen: Das bedeute nämlich kurzum, sie befolgen ärztliche Anweisungen nicht und seien deshalb schwierige Patientinnen und Patienten. «Betroffene müssen aber nicht einfach gehorchen, sie sollen mitbestimmen!», fordert Pernollet. Anderen wird Angst gemacht, dass bei frühzeitigem Absetzen ein Rückfall droht – oft ein zu grosser Druck, der die Betroffenen entmutigt. Könnte Nadia Pernollet entscheiden, sie hätte eine einfache Lösung: «Eine Orientierung an Good-Practice-Modellen wie der Soteria.» Das ist jene Berner Einrichtung, in der Menschen in einer akuten Psychose in einem reizarmen Raum eng und menschlich begleitet werden und Psychopharmaka nicht im Zentrum der Behandlung stehen. Zwar ist das nicht einfach angesichts der finanziellen Lücken und des Mangels an Pflegefachpersonal, Psychiaterinnen und Therapeuten. Machbar fände sie allerdings, angehende Psychiaterinnen und Psychiater bereits in der Ausbildung zu schulen: dass sie die Betroffenen ernst nehmen, dass sie diese bei der Therapieplanung mit einbeziehen, dass sie sich auf eine Begleitung – auch ohne Psychopharmaka – einlassen. «Und dass sie nicht Symptomfreiheit als oberstes Ziel definieren, sondern Lebensqualität.» Christian Heiniger hat einen Therapeuten gefunden, der ihn auf seinem selbstbestimmten Weg unterstützt und ihn mitbestimmen lässt. Ausserdem hat er auf einer langen Reise durch Thailand erfahren, wie gut ihm Meditation hilft. Sein persönliches Ziel: dauerhaft so wenig Medikamente wie möglich. Er weiss genug, dass er mitteilen kann, was er im Moment braucht, und auch, was er nicht will. Sein Traum: «Als Peer anderen helfen, sodass sie ebenfalls wagen, selbstbestimmt und auf Augenhöhe mitzureden.» ➞ Peerberatung: christian-heiniger.ch Ratgeber Psychopharmaka von Pro Mente Sana: Im Fokus
ARTISET 10/11 I 2023 17 Im Fokus Gemäss einer Schweizer Studie hat jede achte Person psychische Probleme. Programme wie «10 Schritte für psychische Gesundheit» können die Resilienz fördern. Damit auch Menschen mit einer Komplexen Behinderung davon profitieren können, wurden diese Programme jetzt adaptiert, und zwar in inklusiven Arbeitsgruppen, zusammen mit Menschen mit teils Komplexer Behinderung. Von Sandra Picceni* Impulse für ein gutes Lebensgefühl Eine Studie zur psychischen Gesundheit in der Schweiz, welche das schweizerische Gesundheitsobservatorium (Obsan) im Herbst 2022 durchführte, zeigt deutlich: Psychische Probleme sind in der Bevölkerung weit verbreitet. Jede achte Person weist sogar schwerwiegende Symptome auf, die ihr tägliches Leben beeinträchtigen und bis hin zu Suizidgedanken führen können. Besorgniserregend ist auch, dass viele Betroffene im Gesundheitssystem nicht erfasst werden, da sie keine Hilfe in Anspruch nehmen. Die Gründe dafür sind vielfältig, aber zusammengefasst zeigen sie den dringenden Bedarf an Aufklärung und Unterstützung. In diesem Kontext gewinnen Programme wie die «10 Schritte für psychische Gesundheit» an Bedeutung. Ihr Hauptziel besteht darin, individuelle Ressourcen zu stärken und die Resilienz zu fördern. Die «10 Schritte für psychische Gesundheit» basieren auf den Prinzipien der Positiven Psychologie und der Gesundheitsförderung und bieten praktische Werkzeuge zur Verbesserung des psychischen Wohlbefindens und zur Bewältigung der vielfältigen Herausforderungen des Lebens. Sie sind ein wirksames Instrument zur Stärkung der psychischen Gesundheit und geben Impulse für ein gutes Lebensgefühl. Die Erkenntnisse aus der Obsan- Erhebung unterstreichen die Dringlichkeit, das Thema psychische Gesundheit auf breiter Ebene anzugehen. Die «10 Schritte für psychische Gesundheit», eine Kommunikationskampagne von Gesundheitsförderung Schweiz, sind ein Schritt in die richtige Richtung: Sie unterstützen Menschen darin, ihre psychische Gesundheit aktiv zu fördern und sich der Bedeutung dieser Thematik bewusst zu werden. Das Konzept der Gesundheitsförderung zeigt allerdings ein wichtiges Manko auf: Es wurde bisher nicht auf Menschen mit einer Komplexen Behinderung bezogen. Diese Personengruppe ist in der Gesellschaft kaum sichtbar und verfügt über keinerlei Lobby. Deshalb haben sich die Föderation Artiset mit ihren Branchenverbänden Curaviva und Insos sowie der Branchenverband Anthrosocial dieser Thematik angenommen und im Rahmen des Nationalen Aktionsplans
18 ARTISET 10/11 I 2023 Als Endprodukt des Projekts «Gemeinsam» ist eine Website entstanden (gemeinsam- ensemble.ch). Sie ist einfach in der Anwendung und enthält die «10 Schritte für psychische Gesundheit» mit Adaptionstexten und Reflexionsfragen. Als Inspiration sind zusätzliche Umsetzungsimpulse samt einem dazugehörenden Formular aufgeschaltet. Inspirationen zur Umsetzung Beziehungen pflegen Menschen mit Komplexer Behinderung sind auf positive Beziehungen angewiesen: Diese vermitteln ihnen Sicherheit und regen die Entwicklung an. Schmerzen ausdrücken Menschen mit Komplexer Behinderung haben oft Schmerzen. Sie sind darauf angewiesen, dass die Umwelt ihre Körpersignale als Schmerzen lesen kann. Sich entspannen Täglich prasseln viele Reize auf Menschen mit Komplexer Behinderung ein. Sich darin zu orientieren, kann Stress verursachen. Daher sind Ruhezeiten wichtig. Kreatives tun Kreativität kann Menschen mit Komplexer Behinderung helfen, Bedürfnisse oder Gefühle auszudrücken. Als Ausgleich zum Alltag gibt Kreativität neue Energie. Sich beteiligen Es tut gut, Teil einer Gruppe und mit anderen unterwegs zu sein. Dabei gibt es viele verschiedene Formen von Beteiligung, und jede ist wichtig und wertvoll! Erfolge feiern Erfolge zu feiern, bedeutet, jedem noch so kleinen Entwicklungsschritt von Menschen mit Komplexer Behinderung freudig und mit Wertschätzung zu begegnen. Aktiv bleiben Sich bewegen soll Spass machen und das Körpergefühl von Menschen mit Komplexer Behinderung fördern: Das steigert auch ihr Wohlbefinden. Kommunizieren Menschen mit Komplexer Behinderung sind auf ein achtsames Gegenüber angewiesen, das verstehen will: Fühlen sie sich verstanden, macht sie das stark. Sich als sinnliches Wesen wahrnehmen Menschen mit Komplexer Behinderung lernen sich besser kennen, wenn sie ihre Sinneswahrnehmungen achtsam gestalten. Neues lernen Lernen ist eine Entdeckungsreise: Sie öffnet Menschen mit Komplexer Behinderung Entwicklungspotenziale und hilft, neue Fähigkeiten zu entdecken.
ARTISET 10/11 I 2023 19 UN-BRK das Projekt «Gemeinsam» entwickelt. Das Projekt wird finanziell vom eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung (EBGB) unterstützt. Im Rahmen des Projekts wurden diese «10 Schritte für psychische Gesundheit» speziell für die Lebensrealität von Menschen mit Komplexer Behinderung adaptiert. Der Begriff «Komplexe Behinderung» betont die Vielschichtigkeit der Lebenslage dieser Fokusgruppe, die sich in starken Beeinträchtigungen wie körperliche, soziale, kognitive, mentale und kommunikative Fähigkeiten manifestiert. Aufgrund dieser Komplexität und der vielfachen Abhängigkeitsverhältnisse ist es besonders wichtig, dass Menschen mit Komplexer Behinderung an sämtlichen gesellschaftlichen Lebensbereichen teilhaben können. Um dies zu ermöglichen, braucht es umfassende Unterstützungsleistungen. Die Adaption der «10 Schritte für psychische Gesundheit» ist eine Hilfestellung, auch für den Unterstützerkreis der betroffenen Personen: Da Menschen mit Komplexer Behinderung auf intensive Unterstützungsleistungen angewiesen sind, richtet sich das Projekt «Gemeinsam» ebenfalls an An- und Zugehörige, unterstützungsleistende Personen mit professionellem Auftrag wie Fachpersonen Gesundheit und Soziales, Organisationen sowie Personen aus dem Sozialraum. Projekt «Gemeinsam» hilft Lebensqualität verbessern Das Ziel des Projekts «Gemeinsam» lautet, die Lebensqualität und die psychische Gesundheit von Menschen mit Komplexer Behinderung zu verbessern. Dafür wurden in einem inklusiv gestalteten Prozess zu jedem der 10 Schritte spezifische Reflexionsfragen erarbeitet – für Menschen mit Komplexer Behinderung, für die Organisationen und für die Menschen im Netzwerk und im Sozialraum. Diese Adaptation wurde mehrperspektivisch erarbeitet, mit Reflexionsfragen und einem interdisziplinären Austausch von Fachkräften und An- und Zugehörigen: So kann die Teilhabe von Menschen mit Komplexer Behinderung an der Gesellschaft gelingen. Die aus dieser Bearbeitung gewonnenen Erkenntnisse können in agogische Massnahmen für Menschen mit Komplexer Behinderung umgesetzt werden, und das wiederum ist eine wichtige Voraussetzung für gesellschaftliche Partizipation. Workshops zum Erarbeiten von Reflexionsfragen Damit die Reflexionsfragen zu den Schritten in einem inklusiven Prozess erarbeitet werden konnten, wurden im Rahmen des Projekts drei Workshops in unterschiedlichen Organisationen veranstaltet. Inhaltlich behandelten die Beteiligten je zwei der «10 Schritte für psychische Gesundheit» für Menschen mit Komplexer Behinderung, anschliessend erarbeiteten sie daraus die Reflexionsfragen und Adaptionstexte. Bei allen drei Veranstaltungen wurden die wichtigen Schritte «Freundschaft pflegen» und «sich beteiligen» bearbeitet und weiterentwickelt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser Veranstaltungen setzten sich aus Menschen mit teils Komplexer Behinderung, Fach- und Assistenzpersonen, Angehörigen von Menschen mit Komplexer Behinderung sowie Mitgliedern des Netzwerks zusammen. Als Veranstaltungsformat wurde die Methode des «World-Cafés» gewählt, um an beiden Schritten und den damit verbundenen Fragen intensiv zu arbeiten. Einer der Workshops hatte eine besondere Teilnehmerkonstellation: Etliche Angehörige einer jungen Frau mit Komplexer Behinderung nahmen teil, zusammen mit der zentralen Person selbst sowie Fach- und Begleitpersonen aus der Organisation. Die Veranstaltung begann mit einer Vorstellungsrunde anhand von Bildkarten, um einen sanften Einstieg in das Thema zu ermöglichen. Die Fragen zu den Schritten «Freundschaften pflegen» und «sich beteiligen» bezogen sich direkt auf die persönliche Situation und Lebenswelt dieser jungen Frau mit Komplexer Behinderung. Dabei wurden die Teilnehmenden ermutigt, die Perspektive dieser zentralen Person einzunehmen. An den anderen beiden Workshops beteiligten sich jeweils mehrere Menschen mit Behinderung, jedoch nicht mit Komplexer Behinderung. Für sie bestand die Herausforderung darin, dass sie nicht nur ihre eigene Sichtweise als Betroffene einbrachten, sondern dass sie auch versuchten, sich in die Situation von Menschen mit Komplexer Behinderung hineinzuversetzen. Die weiteren Teilnehmer dieser Veranstaltungen waren Begleitpersonen, Fachleute, Angehörige und Personen aus der Organisation. Neue Arbeitspapiere für inklusive Workshops Um solche inklusiven Veranstaltungen durchzuführen und Betroffene in Fragen ihrer Lebenswelt und Bedürfnisse einzubeziehen, erarbeitete Insos gemeinsam mit Winklusion drei hilfreiche Arbeitspapiere (siehe Link unten). Diese Papiere bieten Beispiele für inklusive Bildungsformen aus der Praxis sowie didaktisch-methodische Tipps zur Gestaltung inklusiver Bildungsveranstaltungen. Insgesamt zeigte sich aus den Veranstaltungen, dass die direkte Einbeziehung von Betroffenen äusserst wertvoll ist. Schon allein ihre physische Präsenz bereichert und verändert den Verlauf der Diskussionen, und dies entspricht dem Grundsatz: «Nichts über uns ohne uns!» * Sandra Picceni, Projektleitung Insos. Im Fokus Inklusive Erwachsenenbildung /Arbeitspapiere: Informationen zum Projekt «Gemeinsam»:
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