ARTISET Das Magazin der Dienstleister für Menschen mit Unterstützungsbedarf Im Fokus Fachkräfte gewinnen und halten Ausgabe 04/05 I 2023 Der Berufseinstieg ist für Jugendliche mit psychischen Problemen oft schwierig Soziokratische Prinzipien prägen das Leben einer Wohngemeinschaft in St. Peterzell SG Erste Pflegeheime nutzen das EPD – und machen Werbung dafür
Selbstbestimmung heisst, sein Leben möglichst aktiv mitgestalten zu können, unabhängig von Beeinträchtigung. Unsere Aufgabe ist es, die dafür notwendigen Voraussetzungen zu schaffen. www.sh-k.ch Stiftung Kronbühl Wohnen und Beschäftigung für Menschen mit besonderen Bedürfnissen redl ine-software.ch Weiterbilden. Weiterkommen. CAS Personzentrierte psychische Gesundheit Start: 25. Oktober 2023 ost.ch/cas-psychische-gesundheit OnlineInfoanlass: 14.06.2023
ARTISET 04/05 I 2023 3 Editorial «Die Krise auf dem Arbeitsmarkt kann eine Chance sein, sich als Institution und als Arbeitgeber weiterzuentwickeln.» Elisabeth Seifert, Chefredaktorin Liebe Leserin, lieber Leser «Das Schweizer Gesundheitswesen ist am Anschlag», «Spitäler und Pflegeheime suchen verzweifelt nach neuem Personal»: Wir alle kennen solche Schlagzeilen – und für viele von Ihnen sind sie bittere Realität. Auch wenn gemäss Statistiken der Fachkräftemangel im Gesundheitswesen am deutlichsten ausgeprägt ist – eine Herausforderung ist die Suche nach geeignetem Personal derzeit in diversen Branchen. Auch im Sozialbereich, wo insbesondere stationäre Leistungserbringer auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr so einfach fündig werden. Die Gründe für den Personalmangel sind vielfältig, und der Mangel dürfte nicht so schnell vorbei sein: Im Verlauf der nächsten Jahre wird die Babyboomer-Generation pensioniert und es rücken weniger junge Leute nach. Bei den Jüngeren zeichnet sich zudem ein Wertewandel ab und die Work-Life-Balance gewinnt an Bedeutung, was die Personalsuche für Heime und Institutionen, die ihre Angebote rund um die Uhr erbringen, zusätzlich erschwert. Um im Gesundheits- und Sozialbereich die Attraktivität als Arbeitgeber zu fördern – und damit die Lebensqualität der begleiteten Menschen zu sichern –, braucht es das Engagement aller Akteure: des Bundes, der Kantone und der Leistungserbringer. Monika Weder, Leiterin von Artiset Bildung, macht dies im Interview deutlich (Seite 10). Zwecks einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen sei man namentlich im Pflegebereich, wo aufgrund der älter werdenden Gesellschaft viele zusätzliche Fachkräfte nötig sind, zwingend auf eine höhere Finanzierung angewiesen. Ganz besonders gefordert sind die Arbeitgebenden selbst. Die Berichte in unserem Fokus über Institutionen aus allen Unterstützungsbereichen zeigen auf, was Leistungserbringer selbst tun können, um Pflegende und Betreuende zu finden – und diese auch zu halten. Wie diese Beispiele deutlich machen, kann die Krise auf dem Arbeitsmarkt eine Chance sein, sich als Institution und als Arbeitgeber weiterzuentwickeln und an die Bedürfnisse anzupassen. Auch wenn Löhne und gute Sozialleistungen sicher eine Rolle spielen, punkten Arbeitgebende auch mit anderen Faktoren: Wie ein roter Faden zieht sich durch unsere Institutionenporträts die Bedeutung eines guten Betriebsklimas und der Wertschätzung. Diese zeigen sich bereits im respektvollen, freundlichen Umgang miteinander, in der Vergünstigung von Produkten und Dienstleistungen oder in der Organisation geselliger Events. Zeichen von Wertschätzung sind aber auch die Beratung in persönlich schwierigen Situationen, gute Aus- und Weiterbildungsangebote sowie eine individuelle Laufbahnplanung. Ein weiterer zentraler Aspekt für die Attraktivität als Arbeitgeber ist eine vorausschauende Einsatzplanung, die, wenn immer möglich, auch individuelle Bedürfnisse berücksichtigt. In Fragen der Dienstplanung, aber auch generell, punkten Arbeitgebende bei ihren Mitarbeitenden, wenn diese – gemeinsam mit den Bewohnerinnen und Bewohnern – den Betrieb mitgestalten können. Ein hierarchisches Führungsverständnis entspricht deshalb nicht mehr den Werten der jüngeren Generation. Titelbild: Die Lebensqualität der Bewohnenden ist abhängig von der Arbeitsplatzqualität der Pflegenden und Betreuenden. Foto: Lindenhof
‣ Gesundheit Weiterbildung an der BFH MAS Gerontologie – Altern: Lebensgestaltung 50+ Start: mit jedem CAS des Instituts Alter CAS Clinical Research Coordinator | Start: August 2023 CAS Qualität in der Medizin für die patientennahe Arbeitspraxis Start: November 2023 Fachkurs Ältere Menschen und Angehörige systemisch und ressourcenorientiert beraten | Start: August 2023 Fachkurs Entscheidungen in der letzten Lebensphase unterstützen bfh.ch/gesundheit/weiterbildung Start: Januar 2024 04_WB_INA_PFL_v1.indd 1 29.03.2023 11:29:45 Bei uns finden Sie das passende Personal! sozjobs.ch Der Stellenmarkt für Sozial- und Gesundheitsberufe Sozjobs_Inserat_2022_Curaviva_halbseitig_180x130.indd 1 22.06.22 16:37 MAS in Gerontologischer Pflege Erwerben Sie Fachführungskompetenzen, um alte Menschen und ihre Angehörigen zielführend und umfassend zu pflegen. Mehr Infos unter: zhaw.ch/gesundheit/weiterbildung Infoanlass am 6. Juni 2023
Impressum: Redaktion: Elisabeth Seifert (esf), Chefredaktorin; Urs Tremp (ut); Claudia Weiss (cw); Anne-Marie Nicole (amn); France Santi (fsa); Jenny Nerlich (jne) • Korrektorat: Beat Zaugg • Herausgeber: ARTISET • 2. Jahrgang • Adresse: ARTISET, Zieglerstrasse 53, 3007Bern•Telefon: 031 385 33 33, E-Mail: info@artiset.ch, artiset.ch/ Magazin • Geschäfts-/Stelleninserate: Zürichsee Werbe AG, Fachmedien, Laubisrütistrasse 44, 8712 Stäfa, Telefon: 044 928 56 53, E-Mail: markus.haas@fachmedien.ch • Vorstufe und Druck: AST&FISCHER AG, Seftigenstrasse 310, 3084 Wabern, Telefon: 031 963 11 11 • Abonnemente: ARTISET, Telefon: 031 385 33 33, E-Mail: info@ artiset.ch • Jahresabonnement Fr. 125.– • Erscheinungsweise: 8× deutsch (je 4600 Ex.), 4× französisch (je 1400 Ex.) pro Jahr • WEMF/KS-Beglaubigung 2022 (nur deutsch): 3205 Ex. (davon verkauft 2989 Ex.) • ISSN: 2813-1355 • Nachdruck, auch auszugsweise, nur nach Absprachemit der Redaktion undmit vollständiger Quellenangabe. Inhalt ARTISET 04/05 I 2023 5 Im Fokus 06 Wie ein Alters- und Pf legeheim in Trogen dem Fachkräftemangel trotzt 10 Artiset-Bildungsverantwortliche Monika Weder über fehlendes Fachpersonal 14 Zufrieden dank Partizipation 17 Passende Arbeitszeitmodelle entwickeln 20 Was Mitarbeitende wirklich wünschen 24 Freude am Lernen – Freude am Beruf 27 Liniengespräche sorgen für ein gutes Betriebsklima kurz & knapp 30 «Sesamstrasse» wird inklusiv Aktuell 32 Jahrzehnteprojekt EPD 37 Psychiater Thomas Ihde-Scholl über die Bedürfnisse junger belasteter Menschen 41 Selbstref lexion im Umgang mit psychisch kranken Menschen 43 Was ist gute kommunale Alterspolitik? 46 Was das neue Datenschutzgesetz bringt 48 Eine WG nach soziokratischen Prinzipien Politische Feder 50 Anna Jörger, Geschäftsführerin ad interim von Curaviva 14 37 50 «Darum arbeite ich gerne hier» Fachkräfte erzählen
6 ARTISET 04/05 I 2023 Im Fokus Bedingungen schaffen, die die Leute halten Personal vor dem Alters- und Pflegeheim Vorderdorf in Trogen AR: Angebote an die Fachkräfte machen. Bild: Haus Vorderdorf
ARTISET 04/05 I 2023 7 Das Alters- und Pflegeheim Haus Vorderdorf in Trogen AR trotzt dem Fachkräftemangel. Statt immer und überall zu sparen, investiert man in die Ausbildung und in Massnahmen für ein gutes Betriebsklima. Die Erfahrungen damit sind gut, die Fluktuationsraten beim Personal niedrig. Von Urs Tremp Trogen: 900 Meter über Meer, 1850 Einwohnerinnen und Einwohner, eine halbe Bahnstunde von St. Gallen. Zwar Mit-Hauptort eines Halbkantons (Appenzell Ausserrhoden) und ausgestattet mit kunsthistorisch bedeutenden Wohn-, Repräsentations- und Kirchenbauten. Doch Trogen liegt abseits der grossen Verkehrswege. Die Eisenbahn endet hier: eine Sackgasse der Appenzeller Bahnen. Und ausgerechnet imTrogner Alters- und PflegeheimHaus Vorderdorf, einem Haus für verschiedene Wohnformen, soll der Fachkräftemangel kein oder kaum ein Thema sein? Ilir Selmanaj weiss natürlich, dass man sich dies in Zürich oder Bern kaum vorstellen kann. Und der Leiter des Hauses streitet gar nicht ab, dass man die Klage über fehlendes Pflegepersonal auch in Trogen kennt. Doch er sagt auch: «Wir müssen aufhören zu jammern.» Stattdessen: «Etwas unternehmen.» Neuausrichtung auch beim Personal Tatsächlich hat man im Haus Vorderdorf, das eigentlich mehrere Häuser umfasst, in den vergangenen Jahren einigen Aufwand betrieben, um aus dem Alters- und Pflegeheim nicht nur für die rund 70 Bewohnerinnen und Bewohner, sondern auch für die ebenso vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einen attraktiven Ort zu machen. 2003, das Ehepaar Sabine und Ilir Selmanaj hatte eben die Leitung des Hauses übernommen, wurde aus dem früheren Gehörlosenheim sukzessive ein zeitgemässes Alters- und Pflegezentrum mit Alterswohnungen, Wohnungen für betreutes Wohnen und mit Pflegezimmern (durchschnittliche Besa-Einstufung derzeit: 7). Diese Entwicklung bedingte nicht nur bauliche Erweiterungen und Anpassungen, sondern auch eine Neuausrichtung beim Personal. Fachleute waren gefragt, die dem Charakter des Hauses entsprechen und das nötige Knowhow für Pflege, Betreuung oder Aktivierung mitbringen, aber auch für die Hotellerie und die ihr anverwandten Dienste. «Dafür mussten wir mehr machen, als nur Inserate zu schalten und zu warten, dass sich qualifizierte Leute melden», sagt Ilir Selmanaj. «Wir mussten Angebote machen, damit sich auch Männer und Frauen melden, die umsteigen wollen oder einen Einstieg in den Pflegeberuf vielleicht einmal erwogen, sich dann aber aus unterschiedlichen Gründen nicht dafür entschieden haben.» Ein solcher Mann ist Timo Fahrni. Der junge Berufseinsteiger hat eine handwerkliche Lehre gemacht und auf dem Bau gearbeitet. Jetzt macht er im Haus Vorderdorf eine Ausbildung zum SRK-Pflegehelfer. Mit der Aussicht, später eine verkürzte FaGe-Ausbildung absolvieren zu können. «Bei vollem Lohn», sagt Heimleiter Selmanaj. Andere Institutionen würden hier die Sparschraube anziehen. Aber Selmanaj sagt: «Unter dem Strich kommt das für uns günstiger. Denn so können wir die Leute behalten und müssen nicht dauernd neue suchen. Eine solche Suche ist mit allen Folgekosten teuer und bringt nicht immer, was man sich erhofft.» So ist man im Trogner Alters- und Pflegezentrum zur Einsicht gekommen, dass Aus- und Weiterbildungen wichtige Massnahmen gegen den Fachkräftemangel sind. In die Ausbildung investieren Die Stiftung, die Trägerin des Hauses ist, unterstützt diese Strategie. «Wenn man Personal halten will, muss man in die Ausbildung investieren», sagt Antonia Fässler, die Stiftungsratspräsidentin. Das tut die Stiftung Haus Vorderdorf nicht allein, sondern imVerbund mit anderen Altersinstitutionen aus dem Appenzellerland. Dafür haben acht Alters- und Pflegeheime in den beiden Halbkantonen den Ausbildungsverbund «Pflege AR/AI» gegründet. Er will für die Übergangszeit bis zur Umsetzung der Pflegeinitiative ein Konzept zur Ausbildungsförderung der Pflege HF erarbeiten und hat einen Fonds zur Ausbildungsförderung geäufnet. Dank namhafter Beiträge von Stiftungen kann seit März den
Schweizer Frauen für Mädchen weltweit. Wir fördern gezielt Mädchen in Armutsregionen und schützen sie vor Ausbeutung. Helfen Sie mit: www.plan.ch «WÄRE ICH ALS MÄDCHEN IN THAILAND GEBOREN, WÄRE DAS WOHL MEIN ABENDPROGRAMM.» Sandra Studer, TV-Moderatorin
ARTISET 04/05 I 2023 9 Im Fokus Studierenden eine monatliche Pauschale in Ergänzung zum Ausbildungslohn gewährt werden. In den beiden Kantonen sind es einige junge Männer und Frauen, die derzeit von diesem Angebot Gebrauch machen. «Wir haben natürlich das Glück, dass wir finanziell gesund dastehen», sagt Antonia Fässler. Das erlaubt, nicht allein in die Ausbildung zu investieren, sondern auch in die allgemeine Personalzufriedenheit. «Wir sind daran, permanent die Arbeitsbedingungen zu verbessern», sagt Fässler. «Auch dies ist ein Beitrag gegen den Fachkräftemangel.» Konkret bedeutet dies im Haus Vorderdorf», dass man etwa die geteilten Dienste auf ein absolutes Minimum per 1. Juni reduzieren wird. Das kostete zwar etwas. Doch Co-Geschäftsleiterin und Projektleiterin Sabine Selmanaj sagt: «Die geteilten Dienste – das haben wir immer wieder feststellen müssen – sind ein Hemmschuh bei der Rekrutierung von Personal.» Aufhören mit Sparen «Ich empfehle den Institutionsleitungen aus eigener Erfahrung, mit dem Sparen beim Personal aufzuhören», sagt Ilir Selmanaj. Sein Rezept? «Dafür sorgen, dass jeder und jede in seiner Rolle zur Geltung kommt.» Wertschätzung ist ein Begriff, den der Heimleiter gerne wiederholt – Wertschätzung gegenüber den Bewohnerinnen und Bewohnern, Wertschätzung gegenüber dem Personal. So lässt man sich im Haus Vorderdorf einiges einfallen, um das Betriebsklima so positiv wie möglich zu halten. «So kann», sagt Heimleiter Selmanaj, «auch die Qualität der Betreuung und Pflege gesteigert werden. Sprich: mehr Zeit für die Bewohnerinnen und Bewohner, mehr Angebote, mehr Kommunikation, mehr Gemeinsames.» Denn – und dies ist für den Geschäftsleiter klar: «Wir sind für alle verantwortlich – für die Bewohnerinnen und Bewohner und für das Personal.» Auf beiden Seiten seien die Ansprüche gestiegen – und dem müsse man Rechnung tragen. «Wenn wir Änderungen in den Arbeitsplänen, in der Organisation oder in Betriebsabläufen vornehmen, müssen wir uns immer die Frage stellen: Was hat der Bewohner davon?» Daraus sei das Projekt «Optimal leben und arbeiten» entstanden. Es berücksichtigt individuelle Wünsche auf Bewohner-, aber auch auf Angestelltenseite. «Beide Seiten sollten von einer Veränderung etwas haben.» Pausen sind tatsächlich Pausen Denn was nützen die bestens ausgebildeten Fachkräfte, wenn die Arbeitsbedingungen nicht stimmen? Der Leitung des Hauses Vorderdorf ist deshalb ebenso wichtig, auch in sogenannt «weiche Faktoren» zu investieren. Dazu gehört etwa, dass alle Mitarbeitenden und deren Kinder bis 12 Jahre vergünstigte Mahlzeiten beziehen können, dass ihnen ein Ruheraum eingerichtet wurde (bezahlt vom Stiftungsrat) oder dass Pausen wirklich Pausen sind. Selmanaj zitiert eine Mitarbeiterin. «Seit ich hier arbeite, kann ich die Arbeit tatsächlich so unterbrechen, dass ich durchatmen und mich erholen kann.» Teamspirit heisst es auf Neudeutsch, wenn vom Betriebsklima in einer Unternehmung die Rede ist. Ein solcher Teamspirit kann nicht einfach von oben verordnet werden. Er muss entstehen. «Als Leitung einer Institution kann man aber viel dazu beitragen», sagt Ilir Selmanaj. Zum Beispiel so, dass er zur Selbstverständlichkeit gemacht hat, dass man sich begrüsst, wenn man zur Arbeit erscheint. Oder auch so, dass er für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das «Feierabendbier» initiiert hat. Einmal imMonat trifft man sich in einer Beiz im Dorf zu diesem «Feierabendbier». Bier ist dabei allerdings nicht Pflicht. Aber verpflichtend ist, dass zwar über alles geredet werden darf, nur über eines nicht: über die Arbeit. «So lernen sich die Leute von einer ganz anderen Seite kennen, entdecken vielleicht gemeinsame Interessen, ähnliche Vorlieben, reden über anderes als bei der täglichen Arbeit», sagt Selmanaj. Das Feierabendbier ist zu einer festen Veranstaltung geworden – wie auch andere Personalanlässe, die regelmässig stattfinden: der Sommerausflug, das Weihnachtsessen. Timo Fahrni, der Handwerker, der nun eine SRK-Pflegehelfer-Ausbildung macht, schätzt im Haus Vorderdorf «den angenehmeren Umgangston als auf dem Bau». Und seine Kollegin Danica Cikric, eine FaGe-Lernende, ist beeindruckt, mit welchem Respekt man miteinander umgeht. Und dies – so sagt Ilir Selmanaj – bei Bedingungen, die «immer komplexer werden». Es brauche heute sehr viel medizinisches Fachwissen, um kompetent pflegen zu können. Darum sei gut geschultes Personal unabdingbar. «Bildung ist Investition in die Zukunft», sagt er noch einmal, «und Sparen in diesem Bereich ist kontraproduktiv. Das sage ich auch an die Adresse anderer Pflegeinstitutionen.» «Seit ich hier arbeite, kann ich die Arbeit so unterbrechen, dass ich durchatmen und mich erholen kann.» Eine Mitarbeiterin im Haus Vorderdorf
10 ARTISET 04/05 I 2023 Im Fokus Nicht nur Pflegeheime, sondern auch Institutionen in den Bereichen Behinderung sowie Kinder und Jugendliche haben vermehrt Mühe, auf dem Arbeitsmarkt fündig zu werden. Monika Weder, Leiterin Artiset Bildung*, erläutert die Gründe – und was Institutionen tun können. Sie kritisiert zudem die allzu negative Kommunikation über die Arbeitsbedingungen in der Langzeitpflege. Interview: Elisabeth Seifert «Wir brauchen ein gutes Berufsmarketing» Frau Weder, Sie haben seit vielen Jahren einen vertieften Einblick in die Personalsituation von Leistungserbringern für Menschen mit Unterstützungsbedarf: Wie beurteilen Sie die aktuelle Herausforderung, geeignete Fachpersonen zu finden? Die Betriebe sind aktuell stark gefordert. Wir sind heute ja mit einem generellen Arbeits- und Fachkräftemangel konfrontiert, der auch unsere Branche trifft. Eine neuere Entwicklung ist, dass nicht nur die Langzeitpflege, sondern vermehrt auch Kinder- und Jugendinstitutionen oder Behinderteninstitutionen Mühe damit haben, geeignetes Personal zu finden, selbst dann, wenn sich diese an attraktiven Standorten befinden. Mit der Pensionierung der Babyboomer-Generationen wird sich derMangel weiter verschärfen. Die Institutionen aus allen Unterstützungsbereichen müssen sich also auf einem zunehmend ausgetrockneten Arbeits- und Fachkräftemarkt behaupten? Ja, und erschwerend kommt hinzu, dass wir in der Gesellschaft einen Wertewandel erleben. Jüngere Leute beurteilen dieWork-Life-Balance oft anders als ältere Personen. Dies hat zur Folge, dass unsere Branche in jenen Bereichen, wo sie Dienstleistungen an sieben Tagen pro Woche während 24 Stunden erbringt, besonders gefordert ist. Im Kontakt mit den Institutionen stelle ich fest, dass die Betriebe die Herausforderungen erkannt haben und sich sehr bemühen, die Arbeitsbedingungen im Rahmen des Möglichen zu verbessern. Besonders ausgeprägt ist der Fachkräftemangel in der Pflege, ganz besonders auch in der Langzeitpflege. Aufgrund der demografischen Entwicklung steigt der Bedarf an Pflegenden, ganz besonders an Pflegefachpersonen, in den kommenden Jahren zunehmend an. Das ist eine zusätzliche Herausforderung. Aufgrund erhobener Zahlen wissen wir schon länger, dass die Ausbildungsleistung ungenügend ist, um den Bedarf zu decken. Aus diesem Grund ist in verschiedenen Kantonen auch eine Ausbildungsverpflichtung eingeführt worden. Für den Sozialbereich liegen indes kaum erhärtete Zahlen vor? Im Sozialbereich haben wir nur wenige Zahlen. Wir wissen zum Beispiel nicht, wie viele Fachpersonen es überhaupt gibt. Es bestehen auch kaum Bedarfsplanungen, die uns zeigen würden, ob
ARTISET 04/05 I 2023 11 genügend Fachleute ausgebildet werden. Savoirsocial, die Dachorganisation der Arbeitswelt Soziales, ist nach einer ersten Fachkräftestudie aus dem Jahr 2016 jetzt daran, eine aktuelle Erhebung zu machen. Interessant wird unter anderem sein, zu sehen, inwieweit Fachpersonen verstärkt in den wachsenden Bereich ambulanter sozialer Dienstleistungen einsteigen, wo sie keine Nacht- und Wochenenddienste übernehmen müssen. Der Fachkräftemangel gerade in der Langzeitpflege wird in der öffentlichen Diskussion immer wieder mit wenig attraktiven Arbeitsbedingungen erklärt: Was sagen Sie dazu? Von den Arbeitsbedingungen in der Pflege wird in der öffentlichen Kommunikation oft ein sehr düsteres Bild gezeichnet. Ein Bild, das nicht der Realität entspricht, wie ich sie innerhalb der Institutionen wahrnehme. Im Sozialbereich, wo wir ähnliche Arbeitsbedingungen haben, gibt es diese negative Kommunikation nicht. Die Pflege ganz allgemein, auch die Langzeitpflege, hat ein Imageproblem. Das Problem ist meines Erachtens auch der politischen Diskussion im Umfeld der Pflegeinitiative geschuldet. Steigen aber nicht tatsächlich zu viele Pflegende aus dem Beruf aus? Wenn wir uns die Statistiken genauer anschauen, dann wird deutlich, dass Fachpersonen aus vielen Branchen den Job wechseln oder aus ihren angestammten Berufen aussteigen. Für einen solchen Jobwechsel gibt es zahlreiche Gründe. Man darf den Wechsel nicht einfach auf eine fehlende Attraktivität der Branche zurückführen. Zurzeit ist es zudem auch sehr leicht, einen neuen Job zu finden. Der Punkt ist ein anderer: Aufgrund der demografischen Entwicklung ist die Langzeitpflege dringend auf mehr Fachpersonal angewiesen. In einer solchen Situation vergrössert jeder und jede Einzelne, der oder die aussteigt, den Mangel. Im Rahmen der Umsetzung der Pflegeinitiative hat das Parlament eine Ausbildungsoffensive beschlossen, um die Zahl von Pflegefachpersonen zu erhöhen. Was erhoffen Sie sich davon? Erwachsene, die eine Ausbildung zur diplomierten Pflegefachperson TAGUNG: WIE ARBEITGEBENDE NOCH ATTRAKTIVER WERDEN KÖNNEN Unter dem Titel «Hier arbeite ich gerne» organisiert Artiset Bildung am 23. Juni in der Eventfabrik Bern eine zweisprachige (Deutsch und Französisch) Fachtagung für Mitglieder der Branchenverbände Curaviva, Insos und Youvita. Am Vormittag zeigen Expertinnen und Experten aus Praxis und Forschung in Gesprächen und Vorträgen auf, was Arbeitgebende attraktiv macht und weshalb Fachkräfte in einem Unternehmen bleiben. Am Nachmittag ermöglichen vier parallele Sessions Vertiefung und Austausch. Hier erfahren Sie mehr zum Programm: Hier melden Sie sich zur Tagung an: «Von den Arbeitsbedingungen in der Pflege wird in der öffentlichen Kommunikation oft ein sehr düsteres Bild gezeichnet, das nicht der Realität entspricht.» Monika Weder
12 ARTISET 04/05 I 2023 absolvieren möchten, sollen neu Ausbildungsbeihilfen erhalten. Das ermöglicht es ihnen, während der Ausbildung ihre Lebenshaltungskosten zu bestreiten. Bis jetzt war das oft ein Problem. Der Bund schüttet die entsprechenden Gelder allerdings erst dann aus, wenn die Kantone die dafür nötigen gesetzlichen Grundlagen geschaffen und ein Bedarfsplanung erstellt haben. Dazu müssen sie auch Berechnungen über die Anzahl der auszubildenden Pflegefachpersonen anstellen und die Hälfte der Finanzierung übernehmen. …und viele Kantone lassen sich damit zu viel Zeit? Jedes Jahr, in dem diese Gelder nicht fliessen, ist ein verlorenes Jahr. Ein Bericht des Bundesamtes für Gesundheit von Ende letztes Jahr zeigt ein sehr breites Spektrum: Wenige Kantone, etwa Bern und Tessin, haben ihre Aufgaben gemacht, sehr viele Kantone haben einzelne Teile der erforderlichen Gesetzgebung realisiert, und andere haben noch gar nichts. Ich gehe aber davon aus, dass sich das mittlerweile geändert hat. Hinzu kommt, dass es mit den Ausbildungsbeihilfen allein nicht getan ist. Was braucht es über die Ausbildungszuschüsse hinaus? Damit diese Ausbildungen aber wirklich erfolgreich und nachhaltig sein können, sind die Praxisbetriebe darauf angewiesen, dass ihre Ausbildungsleistung finanziert wird. Man kann ja nicht einfach eine Anzahl von Auszubildenden verordnen, sondern man muss auch dafür sorgen, dass sie in den Betrieben die entsprechende Praxisausbildung erhalten. Dafür müssen die Aufwände der Betriebe auch ausfinanziert sein. Eine wichtige Aufgabe haben überdies auch die Höheren Fachschulen und Fachhochschulen: Sie sind gefordert, flexiblere und attraktive Ausbildungskonzepte zu entwickeln, um einer breiteren Gruppe den Zugang zur Tertiärausbildung zu ermöglichen. Eine Herausforderung ist, dass viele Interessierte eine Ausbildung zur Pflegefachperson im Akutbereich anstreben, nicht in der Langzeitpflege. Was ist zu tun? Wir sind hier als Branche im Ausbildungs- und Berufsmarketing gefordert und müssen in der Öffentlichkeit noch besser bekannt machen, welche Möglichkeiten dieTertiärausbildung gerade auch in der Langzeitpflege eröffnet. In diesem Zusammenhang ist auch wichtig, dass die Betriebe mit ihren Lernenden eine entsprechende Laufbahnplanung machen. Dafür müssen sie natürlich die nötigen Ausbildungsplätze schaffen und auch für genügend Praxisbildnerinnen sorgen. Die Ausbildungsleistungen nützen wenig, wenn Pflegende wieder aus dem Beruf aussteigen. Was ist zu tun, um die Fachpersonen länger im Betrieb zu halten: Braucht es mehr Geld – oder «Vor dem Hintergrund des künftigen Bedarfs an Personal sind wir schweizweit zwingend auf eine bessere Finanzierung angewiesen.» Im Fokus sind vor allem die Arbeitgebenden selbst gefragt? Es braucht beides. Um als Arbeitgeber attraktive Arbeits- und Anstellungsbedingungen zu ermöglichen, ist mehr Geld erforderlich. Will man die hohe Arbeitsbelastung reduzieren, etwa mit personell besser dotierten Schichten oder einer geringeren Anzahl Stunden pro Woche oder auch mit mehr Ferientagen, dann braucht es mehr Personal. Und das kostet Geld. Die Pflegeinitiative fordert mehr Geld für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Die Ende Januar publizierten Umsetzungsvorschläge des Bundesrats lassen die Finanzierungsfrage allerdings ungeklärt. Artiset schlägt deshalb ein Förderprogramm vor, das dafür sorgt, dass die Leistungserbringer Massnahmen für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen finanziell tragen können. Die Arbeitgeberattraktivität lässt sich aber auch ohne mehr finanzielle Ressourcen steigern: Es gibt Institutionen, die kaum Probleme damit haben, passendes Personal zu finden und zu halten: Was machen diese besser als andere? Solche Institutionen habe eine operative und strategische Leitung, die das Thema Arbeitgeberattraktivität schon lange priorisiert. Wichtige Bestandteile sind die Arbeitsorganisation, die Personalentwicklung oder die Betriebskultur. Oder auch die Organisationsentwicklung und die Unterstützung des Personals in schwierigen Situationen. Man muss aber fairerweise auch sagen, dass verschiedene Betriebe über bessere Rahmenbedingungen verfügen als andere. Vor dem Hintergrund des künftigen Bedarfs an Personal sind wir schweizweit zwingend auf eine bessere Finanzierung angewiesen. Nicht erwähnt haben Sie bis jetzt die Höhe der Löhne. Wären bessere Löhne nicht tatsächlich ein wichtiger Hebel, um Pflegende im Beruf zu halten? Die Löhne sind von Kanton zu Kanton sehr unterschiedlich. Es gibt einzelne
ARTISET 04/05 I 2023 13 Betriebe, die tatsächlich tiefere Löhne haben. In Zürich zumBeispiel hat man eine Funktionsanalyse gemacht und daraufhin Korrekturen eingeleitet. In gewissen Kantonen werden aber recht gute Löhne gezahlt. Es macht deshalb keinen Sinn, die Löhne nach dem Giesskannenprinzip zu erhöhen. Man muss hier sehr genau hinschauen. Die Motivation durch mehr Lohn verpufft zudem schnell wieder, wenn die sonstigen Arbeitsbedingungen nicht stimmen. Kommen wir auf den Sozialbereich zurück, wo sich ja auch ein Mangel an Fachkräften abzuzeichnen beginnt: Wo sehen Sie hier zentrale Verbesserungsmöglichkeiten? Ein zentraler Aspekt für Institutionen im Bereich Behinderung sowie Kinder- und Jugendliche ist das Ausbildungs- und Berufsmarketing. Die Institutionen müssen sich gegenüber anderen Dienstleistern im Sozialbereich behaupten und deshalb deutlich machen, dass sie ein attraktiver Ausbildungs- und Arbeitsort sind. Wichtig ist auch hier, dass die Verantwortlichen rechtzeitig Laufbahnplanungen machen mit den Mitarbeitenden. Um die Arbeitgeberattraktivität zu steigern, braucht es im Übrigen die gleichen Anstrengungen wie in der Langzeitpflege auch. Beispiele aus der Praxis legen nahe, dass gerade im Sozialbereich partizipative Führungsmodelle von besonderer Bedeutung sind für die Arbeitszufriedenheit. Wie erklären Sie sich das? Es gibt keine Forschung, die das belegt. Aber auch mir fällt in den Diskussionen mit Institutionen und Fachpersonen auf, dass dies ein wichtiger Aspekt ist. Eine Erklärung ist, dass in der täglichen Arbeit der Fachpersonen gerade im Behindertenbereich die UN-BRK mit ihren Postulaten Teilhabe und Selbstbestimmung von grosser Bedeutung ist. Ein hierarchisches Führungsmodell passt da nur schlecht ins Bild. Sind innerhalb der Institutionen auch Bereiche wie die Hotellerie, Monika Weder, Leiterin von Artiset Bildung: «Die Betriebe müssen rechtzeitig Laufbahnplanungen mit Lernenden machen.» Foto: esf die Hauswirtschaft und/oder die IT vom Fach- und Arbeitskräftemangel betroffen? Gerade Fachleute im Bereich IT sind in allen Branchen sehr gefragt, und deshalb ist es sehr schwierig, diese zu finden. Im Bereich Hotellerie stehen wir in Konkurrenz zur Gastronomie, die derzeit stark leidet, und müssen gut aufzeigen können, weshalb die Arbeit in einer Institution sehr spannend sein kann. In der Hotellerie und der Hauswirtschaft sind ein gutes Ausbildungs- und Berufsmarketing absolut zentral. Die Institutionen haben in diesen Bereichen nämlich auch Mühe, überhaupt genügend Lernende zu finden. * Monika Weder ist Leiterin Bildung der Föderation Artiset mit ihren Branchenverbänden Curaviva, Insos und Youvita. Artiset und Curaviva schlagen ein Förderprogramm vor, das dafür sorgt, dass die Leistungserbringer Massnahmen für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen finanziell tragen können. Die Details finden Sie hier:
14 ARTISET 04/05 I 2023 Im Fokus Vom Chef, der rügt, zum Chef, der unterstützt
ARTISET 04/05 I 2023 15 Die Fondation Domus in Martigny hat es gewagt: Seit fünf Jahren leben die Mitarbeitenden partizipatives Management, in dem die Teams auch ihre Arbeits- und Ferienpläne selber gestalten. Ganz einfach lief das nicht ab. Aber alle finden es spannend, dass sie sich in die neuen Strukturen stärker einbringen können, und sehen einen grossen Mehrwert für ihre Arbeit. Von Claudia Weiss Durch die Fenster der Büros in Martigny sieht man auf den fast 3 000 Meter hohen Grand Chavalard. Massiv und unverrückbar steht er da. Alles andere als starr und unverrückbar hingegen ist die Fondation Domus: Die Institution, die 56 Menschen mit meist psychischer Beeinträchtigung beherbergt und 83 Plätze im therapeutischen Tageszentrum sowie 140 Wohnungen für Klientinnen und Klienten bietet, ist ausgesprochen lebendig und passt sich demWandel der Zeit an. Genau genommen, sei der Bedarf nach neuen Strukturen schon lange dagewesen, sagt Geschäftsführer Philippe Besse. «Nur ich war noch nicht so weit.» Er schmunzelt. Es sei nicht so einfach, als «Directeur», der vor 20 Jahren in der Fondation angefangen und seine Führungsrolle gern wahrgenommen habe, so mir nichts, dir nichts Aufgaben und Kompetenzen abzutreten und im partizipativenTeam zu funktionieren. Er überlegt kurz und sagt dann ehrlich, dass es ihm wohl nicht gelungen wäre, hätte ihn nicht ein komplettes Burnout für mehrere Monate zur Erholung gezwungen und ihm gezeigt, dass es so nicht weitergeht. Zurückgekommen sei vor sechs Jahren quasi ein neuer Philippe Besse: einer, der die Zeichen der Zeit wahrnahm, wusste, dass besonders die jungen Nachwuchskräfte andere Ansprüche an ihre Stelle haben. Und der daher ohne langes Zaudern gemeinsam mit dem Leitungsteam eine neue partizipative Managementform plante und einführte. Ein Jahr Testlauf im achtköpfigen kooperativen Leitungsteam mit enger Begleitung durch einen externen Coach zeigte: Es kann funktionieren – wenn alle dahinterstehen und am selben Strick ziehen. Stéphanie Emery Haenni, Verantwortliche Personal und Bildung, stiess just zu dieser Zeit zum Team, sie lernte Philippe Besse bereits als offenen Chef kennen, einen, der allen Verantwortung für ihre jeweiligen Positionen zugesteht. Einen, der alle ermuntert, selber Verantwortung zu übernehmen, Initiative zu zeigen und mitzureden. Ihr entspricht diese Form sehr – für sie ist partizipatives Management sogar die einzig sinnvolle Form für eine Institution, die Menschen mit mehrheitlich psychischen Beeinträchtigungen bei der Wiedereingliederung in den Alltag helfen will: «Wir arbeiten mit psychosozialer Rehabilitation. Die Leute, die wir begleiten, sollen lernen, wieder ihr eigenes Leben zu pilotieren. Das können wir ihnen nur glaubwürdig vermitteln, wenn wir auch im Team Selbstbestimmung leben.» Partizipation für alle 130 Mitarbeitenden Nachdem das Direktionskollegium das Testjahr überstanden hatte, wagte es deshalb im Februar 2019 den Sprung, präsentierte den Teams die neue Vision und erklärte, dass die partizipative Führungsform nun für die gesamte Institution, also für alle rund 130 Mitarbeitenden, eingeführt werde. Die Reaktionen waren gemischt: Einige begegneten dem neuen Modell etwas zurückhaltend, ein paar waren total dagegen und wiederum andere superenthusiastisch. «Aber die meisten waren interessiert und offen gegenüber unseren Ideen», sagt Philippe Besse. So starteten alle Teams mit dem Coaching in partizipativem Management – begeistert, aber immer wieder überrascht, wie komplex die Fragen rund um diesen Wechsel sind. Und rasch zeigte sich: Es geht keineswegs darum, dass alle demokratisch über alles bestimmen, vielmehr müssen die Rahmen punkto Regeln, Finanzen oder Ziele noch viel exakter definiert sein als zuvor. «Die grosse Freiheit liegt innerhalb dieses Rahmens», erklärt Stéphanie Emery Sie sehen das partizipative Management der Fondation Domus als Bereicherung ihrer Arbeit: Sozialarbeiterin Charlotte Reuse, Pflegefachmann Sébastien Cattiez, Personalverantwortliche Stéphanie Emery Haenni und Direktor Philippe Besse (von links). Foto: cw ➞ fondation-domus.ch
16 ARTISET 04/05 I 2023 Haenni. Einfach war der Wechsel nicht. Philippe Besse schmunzelt. «Anfangs war ich naiv und dachte einfach, es sei eine schöne Idee.» Rasch merkten er und sein Team: Mit der externen Schulung und dem Coaching, nach dem Direktionskollegium auch für jede einzelne Gruppe, war erst der Anfang getan. Danach habe es eine ganze Haltungsänderung gebraucht: «Es geht nicht nur darum, partizipativ zu arbeiten, sondern verantwortlich. Das heisst, man muss sich viel mehr persönlich einbringen.» Stéphanie Emery Haenni nickt und erklärt: «Ich muss Philippe geradeaus sagen können, wenn mir etwas nicht passt. Er hingegen muss auch hinhören können – es ist ein beidseitiges Einlassen.» Das liege nicht allen gleich gut, und anfangs sei die Führung durch das Kollegium noch instabil und zerrissen gewesen. Einige konnten nicht mit der neuen Verantwortung umgehen und verliessen das Team. «Nicht alle mögen das – und nicht alle können das», das war Philippe Besse von Anfang an klar. Mehr Autonomie, mehr Wert der Arbeit Andere hingegen waren begeistert. Sozialarbeiterin Charlotte Reuse, die seit 10 Jahren in der Fondation Domus arbeitet, fand nach dem Wechsel: «Es braucht viel persönlichen Einsatz. Dafür habe ich viel Autonomie gewonnen und neue Kompetenzen entwickelt, und meine Arbeit hat dadurch an Wert gewonnen.» Pflegefachmann Sébastien Cattiez stieg gleich mit der neuen Managementform ein und fand schon bald: «Die zusätzliche Verantwortung macht mir Lust, mich selber einzubringen und Sachen auf meine Weise zu machen – auch wenn mal ein Fehler passiert.» Denn Fehler sind offiziell erlaubt, alle haben ein «Recht auf Irrtum», und das Direktorenteam setzt auf eine gute Fehlerkultur. Die jeweiligen Vorgesetzten bis hinauf zum Direktor haben deshalb einen ganz neuen Umgang damit gefunden: Philippe Besse sagt, er habe sich inzwischen «vom Chef, der rügt, zum Chef, der unterstützt» gemausert. Vieles hätten er und sein Team mangels Vorkenntnissen quasi im Blindflug gemacht, viele Fragen durch Versuch und Irrtum gelöst und dabei laufend gelernt. Besse ist heute froh, dass er damals nicht alle Schwierigkeiten kannte, «sonst hätte ich den Schritt vielleicht nicht gewagt». Aber zurück zur alten Führungsformmöchte niemand mehr, denn die Arbeit sei nicht nur viel komplexer, sondern auch viel reicher geworden: «Alle müssen mehr wissen, müssen erkennen, wie sie zu den nötigen Antworten kommen, und sich deshalb auf eine engere Zusammenarbeit einlassen.» Es sei eigentlich ein ganz anderes, neues Berufsbild, ergänzt Stéphanie Emery Haenni: «Man muss interdisziplinär zusammenarbeiten, einander fragen und Qualität und Quantität selber mitgestalten.» Das komme begeisterten, energischen und talentierten Mitarbeitenden entgegen, die willens sind, sich viel stärker persönlich einzubringen und Verantwortung zu übernehmen. Und es entspricht jenen Frischausgebildeten und Studierenden von der Team-Akademie der Fachhochschule HES-SO Wallis, die ihre Studieninhalte mit Hilfe von Coaches selber zusammenstellen: Sie möchten ihre Selbstständigkeit und Eigenverantwortung nicht wieder hergeben, und die Fondation Domus findet bei ihnen dank dem partizipativen System genug Nachwuchs. «Ausserdem können alle ihre Arbeit nach Wunsch bereichern, indem sie sich in Spezialkommissionen einbringen», sagt Emery Haenni. Gruppen für Kommunikation, Lagerplanung oder Gesundheit am Arbeitsplatz: Damit können die Mitarbeitenden auch eigene Stärken einbringen und selbst den Takt angeben, statt nur nach dem Takt der Leitung zu funktionieren. In den Gruppen sind übrigens auch Klientinnen und Klienten vertreten: Auch sie dürfen zu ihrem Erstaunen mitreden – das gehört zum ganzheitlichen Ansatz des Hauses. Motivierte Mitarbeitende, die länger bleiben In einem Jahr wird eine neue Herausforderung auf das Leitungskollegium zukommen: Wenn das neue Gebäude im nahegelegenen Ardon eröffnet wird, ziehen nebst den Bewohnerinnen und Bewohnern aus dem Provisorium in Martigny auch 18 neue Bewohnerinnen und Bewohner dort ein, und das Team wird dementsprechend vergrössert. «Das wird schwierig, dann müssen wir sämtliche neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Grund auf schulen, und sie werden sich an die ganz neue Arbeitsweise gewöhnen müssen», sagt Besse. Die anderen Teams haben bereits gelernt, wie sie sich absprechen müssen, um Arbeitspläne zu erstellen, selbstständig Vertretungen zu organisieren oder Ferienpläne einzubauen. Sie regeln das weitgehend selbstständig. Das geht, weil auch hier klare Richtlinien bestehen, wer wie oft einspringen muss und wer als Nächstes an der Reihe ist. Bei Uneinigkeiten hilft der oder die jeweilige Vorgesetzte, und zwar im Sinn eines Coachings – sie servieren keine fertigen Lösungen, sondern helfen beim Suchen von Lösungsmöglichkeiten. Einfach sei das nicht, sagt Stéphanie Emery Haenni. «Aber es ermöglicht allen, über sich hinauszuwachsen und sich immer besser zu qualifizieren.» Was aber kostet ein solcher Wechsel? Mehrkosten, antwortet Philippe Besse, seien vor allem im Bereich Bildung entstanden. Aber diese, davon ist er überzeugt, zahlten sich längst aus, weil die Mitarbeitenden produktiver, motivierter und glücklicher seien und deshalb länger blieben. «Ausserdem hat die Fondation heute keine Probleme, neue Mitarbeitende zu finden, und die Studierenden sind begeistert», ergänzt Stéphanie Emery Haenni. Alles in allem, sagt Besse: «Heute sind wir im ersten Mount-Everest-Basiscamp angekommen.» Seine Kollegin nickt und findet dann, eigentlich seien sie sogar schon weiter: «Wir können erstmals ernten.» «DARUM ARBEITE ICH GERNE HIER» Fachkräfte erzählen
ARTISET 04/05 I 2023 17 Im Fokus Es ist eine Herausforderung, in der Langzeitpflege Arbeitszeitmodelle zu kreieren, die den Bedürfnissen der Mitarbeitenden und dem betrieblichen Bedarf gerecht werden. Wertschätzung und die Möglichkeit zur Mitsprache tragen dazu bei, dass Mitarbeitende zum Einsatz in Ausnahmesituationen bereit sind. Dies geht aus einer Umfrage der Keller Unternehmensberatung hervor. Von Lara Lohkamp* Auf der Suche nach dem passenden Arbeitszeitmodell Arbeitnehmerfreundliche Arbeitsmodelle sind ein wichtiger und vieldiskutierter Aspekt, um dem Fachkräftemangel in der stationären Langzeitpflege zu begegnen. Im Hinblick auf die Konzeption solcher Modelle stellen sich eine Reihe von Fragen: Welche Bedürfnisse von Mitarbeitenden stehen im Zentrum? Welche Herausforderungen ergeben sich daraus aus betrieblicher Sicht? Und wie können Pflegende dazu motiviert werden, in Ausnahmesituationen flexibel zu sein? Zwecks Datenerhebung führte und führt die Keller Unternehmensberatung AG noch immer eine Online- Umfrage innerhalb der Zielgruppe von Alters- und Pflegezentren in der Schweiz durch. In diesem Bericht wird der Rücklauf bis zum 17. März 2023 berücksichtigt, dieser enthält 152 Beantwortungen mit insgesamt 77 vollständigen Antwortbögen. Ausgefüllt wurden diese zu 40 Prozent durch die Heimleitung, zu 26 Prozent durch die Pflegedienstleitung und zu 34 Prozent durch Stationsleitungen, Leitungen Hotellerie, HR, übrige Pflege und andere. Eine Teilnahme an der Befragung ist weiterhin möglich, die vollständigen und detaillierten Ergebnisse werden im Sommer publiziert. Bedürfnisse aus Sicht der Mitarbeitenden In einem ersten Schritt werden die Vorstellungen und Erwartungen der Mitarbeitenden an die Arbeitszeitmodelle erfragt. In der Wahrnehmung der Befragten sind vor allem folgende Bedürfnisse vertreten (siehe Grafik 1): Am häufigsten genannt wird die Flexibilität in der Planung. Auffallend ist indes, dass aus der Befragung kein direkter Zusammenhang zwischen der Zufriedenheit und einer flexiblen Planung abgeleitet werden kann. Hervorzuheben ist, dass im Hinblick auf die Work-Life-Balance gleichzeitig auch möglichst regelmässige Dienstzeiten ein Anliegen sind. In Kommentaren wird neun Mal das Bedürfnis nach keinen oder wenigen Wochenend- und Nachtdiensten genannt. Die Vermeidung von geteilten Diensten ist mit fünf und die verlässliche Planung mit vier Stimmen vertreten.
18 ARTISET 04/05 I 2023 Im Fokus Leitung muss betrieblichen Bedarf miteinbeziehen Aus Arbeitgebersicht kollidiert eine nach den individuellen Bedürfnissen der Mitarbeitenden ausgerichtete Planung mit dem betrieblichen Bedarf: Bei flexibleren Modellen bestehen vor allem Bedenken, dass nicht mehr alle Dienste abgedeckt werden könnten (64 Nennungen). Dies hätte einen Qualitätsverlust in der Pflege und Betreuung der Bewohnerinnen und Bewohner zur Folge und muss verhindert werden. Weiter wird eine erhebliche Komplexitätssteigerung in der Planung und Koordination (60 Nennungen) erwartet, die sich aus der Vielfalt der individuellen Bedürfnisse der Mitarbeitenden ergeben kann. Zudem bestehen Bedenken, dass bei individuellen Arbeitszeitmodellen nicht sichergestellt werden kann, dass alle Mitarbeitenden gleich behandelt werden (46 Nennungen). Wie Spitzenzeiten gemanagt werden Einstimmigkeit herrscht in Bezug auf das erfolgreiche Managen von Spitzenzeiten. 95 Prozent (N=88) der befragten Personen sind der Meinung, dass hierzu Erfahrungswerte eher bis sehr wichtig sind. Auch der abteilungsübergreifende Personaleinsatz (83 Prozent Zustimmung), der Einsatz von geteilten Diensten (73 Prozent Zustimmung) und der Einbezug anderer Berufsgruppen (71 Prozent Zustimmung) tragen aus Sicht der Teilnehmenden eher bis wesentlich zum besseren Umgang mit Spitzenzeiten bei. Zudem wird das Personal teilweise etwa durch Pensionierte, Freiwillige, Zivildienstleistende, die Leitungsebene (Pflegedienst- und Heimleitung) aufgestockt. Der Beizug von temporärem Personal ist aus Kostengründen häufig wenig populär (4 Nennungen). Auffällig sind die wenigen Stimmen (2), die nicht personal-, sondern bewohnerseitig Veränderungen vornehmen wollen. Zum Beispiel, indem die Pflegeprozesse über denTagesverlauf so organisiert werden, dass das Personal möglichst kontinuierlich eingesetzt werden kann. Das Management von Tageszeiten mit tiefer Auslastung erfolgt bei den Institutionen einerseits durch Stundenkompensationen (5 Nennungen) oder durch Aushilfe auf anderen Stationen und bei administrativen Aufgaben (5 Nennungen). Zwei Betriebe passen die Tagesstrukturen bereits individuell an und verlagern Aufgaben bei Bedarf. Von Umgang mit kurzfristigen Personalausfällen Eine zusätzliche Belastung sind Personalausfälle in einem Umfeld, wo bereits Fachkräftemangel herrscht. Nur 20 Prozent (N=89) der befragten Sinnstiftung kann durch Mitsprache erreicht werden. Zum Beispiel, wenn Mitarbeitende eine Stimme bei der Dienstplanung haben. 28% Flexibilität in der Planung 26% Regelmässige Dienstzeiten 17% Anstellung im Teilzeitpensum 12% Mögliche Einsatzzeiten (Vielfalt) 6% Flexibles Arbeitspensum 6% Einhaltung der Ruhezeiten 6% Mitsprache bei den Ruhezeiten Grafik 1: Wahl der aktuellen Bedürfnisse der Mitarbeitenden (max. 3 wählbar). N = 98
ARTISET 04/05 I 2023 19 Institutionen geben an, über ein Anreizsystem zu verfügen, um Mitarbeitende für einen zusätzlichen Einsatz zu motivieren. Zu 88 Prozent erfolgt dies durch finanzielle Anreize, teilweise auch über einen zusätzlichen Ferientag. 20 Prozent der Betriebe, wo aktuell noch kein Anreizsystem vorhanden ist, wollen sich zukünftig damit auseinandersetzen oder befinden sich bereits in der Planung. Die Mehrheit der Befragten ist aber aus diversen Gründen gegen ein solches Anreizsystem. Insbesondere fehle es dafür an finanziellen Mitteln (22 Prozent) oder es wird ein administrativer Mehraufwand erwartet (4 Prozent). Der Fokus liegt auch stark auf der Gleichberechtigung. Vollzeitmitarbeitende würden durch ein Anreizsystem schlechtergestellt werden, da hauptsächlich Personal mit einem Teilzeitpensum die zeitlichen Ressourcen für eine Aushilfe bereitstellen kann (7 Prozent). Zusätzlich besteht eine Missbrauchsgefahr durch Absprachen zwischen den Mitarbeitenden, wodurch das Thema Absenzen weiter verschärft werden würde (9 Prozent). Anstatt eines Anreizsystems, das wenigen Mitarbeitenden zugutekommt, sollen generell gute Arbeitsbedingungen für alle geschaffen und an nicht-finanziellen Anreizen wie einem guten Teamgeist gearbeitet werden (13 Prozent). Motivierend: Wertschätzung und Mitsprache In den Kommentaren befürwortet eine Mehrheit Motivationsfaktoren zur Bewältigung von Ausnahmesituationen, die über finanzielle Anreize hinausgehen (69 Prozent, N=88). Hervorgehoben wird insbesondere die Sinnstiftung (56 Prozent). In einer Institution, die den Mitarbeitenden Wertschätzung entgegenbringt und den Teamgeist untereinander fördert, steigt potenziell die Identifikation mit dem Betrieb und damit auch die Bereitschaft zu Einsätzen in Ausnahmesituationen. Sinnstiftung kann auch durch Mitsprache erreicht werden. Zum Beispiel, wenn Mitarbeitende eine Stimme bei der Dienstplanung haben oder wenn sie 38% Ja, denkbar 27% Vielleicht 17% Nein, nicht denkbar 11% Ja, wird bereits umgesetzt 7% Nein, bereits versucht, aber erfolglos zwischen Kompensation und Auszahlung von Überstunden wählen können. Eine Kultur des Gebens und Nehmens ist dabei fundamental. Als sinnstiftend erleben Pflegende ihre Arbeit gerade auch dann, wenn sie mehr Zeit für die Bewohnenden haben. Wie der Grafik 2 entnommen werden kann, scheint bei der Teamverantwortung im Bereich Dienstplanung Potenzial zu bestehen. Gemäss Kommentaren wird dadurch, dass die Verantwortung über den Einsatzplan den Teams überlassen wird, die Kommunikation untereinander gefördert. Zudem steigt die Motivation durch Mitbestimmung und Eigenverantwortung. Kritisch betrachtet werden die fehlende Planungskompetenz bei den Mitarbeitenden, die hohe Komplexität der Planungsaufgabe und ein hohes Konfliktpotenzial untereinander. Ein eingespieltes Team, bei dem die Bereitschaft zu Kompromissen besteht, ist folglich eine Notwendigkeit zur Einführung der Selbstorganisation. Arbeitszeitmodelle so anzupassen, dass Arbeitgebende, Arbeitnehmende und die Bewohnenden zufriedengestellt werden, ist herausfordernd. Gleichzeitig bieten sich darin aber auch Chancen, sich von Mitbewerbern zu differenzieren, indem innovative Ansätze aktiv geprüft, für den eigenen Betrieb bezüglich Passung auf Kultur und Prozesse evaluiert, pilotiert und bei Erfolg flächendeckend implementiert werden. * Lara Lohkamp ist Beraterin bei der Keller Unternehmensberatung AG Grafik 2: Teamverantwortung über Einsatzplanung. N = 86
Im Fokus Wertschätzung ist mehr als nur ein Wort
ARTISET 04/05 I 2023 21 «DARUM ARBEITE ICH GERNE HIER» Fachkräfte erzählen Organisationen im Gesundheitswesen buhlen um Pflegepersonal. Sie werben mit attraktiven und familienfreundlichen Arbeitsbedingungen. Mitarbeitende wünschen sich aber weit mehr: Wertschätzung und ein gutes Arbeitsklima zählen ebenso sehr, wie ein Besuch im Lindenhof im aargauischen Oftringen zeigt. Von Monika Bachmann Kurz nach Sonnenaufgang beendet Yvonne Ruf ihre Nachtschicht im Lindenhof. Sie zieht die Berufskleidung aus, packt ihre Tasche und fährt mit dem Lift ins Erdgeschoss. Im Entree steigt ihr der Duft von frisch gebackenem Brot in die Nase. Die hauseigene Bäckerei hat gewirkt. «Am Sonntagmorgen hole ich mir jeweils einen Zopf, bevor ich mich auf den Heimweg mache», sagt die diplomierte Pflegefachfrau. Sie schätze es, diesen im Haus beziehen zu können. Als Mitarbeiterin hat Yvonne Ruf auf alle Produkte, die sie bei ihrem Arbeitgeber kauft, zwanzig Prozent Rabatt. Das gilt auch für interne Dienstleistungen, beispielsweise medizinische Massagen oder Trainings im Fitnessraum. Und wenn sie zum Frühdienst antritt, darf Yvonne Ruf, wie alle anderen Mitarbeitenden, kostenlos und à discrétion frühstücken. Auch die Parkplätze vor demHaus stehen den Arbeitnehmenden kostenlos zur Verfügung. Dies sind einige Vorteile, die der Lindenhof seinem Personal bietet. Sie zeugen von einer Philosophie, die in der Organisation verankert ist: «Der Mensch steht bei uns im Mittelpunkt», sagt Isabelle Kuhn, stellvertretende Geschäftsführerin und Bereichsleiterin HR. Dieser Slogan ist im Gesundheitswesen oft zu hören. Deshalb folgt eine Präzisierung: «Unsere Mitarbeitenden sind auch unsere Kundinnen und Kunden», hält Isabelle Kuhn fest. Wer in diesem Haus arbeitet, soll rundum zufrieden sein. Verlässlicher Arbeitgeber Sie nennen sich «Lindenhöfler», die Mitarbeitenden. Einige von ihnen kleben das Logo ihres Arbeitgebers aufs Auto oder tragen privat eine Jacke, die mit dem grünen Lindenbaum versehen ist. Ein Verhalten, das von Identifikation zeugt. An den Anstellungsbedingungen alleine dürfte dieses Bekenntnis nicht liegen. Beim Gehalt orientiert man sich an den gängigen kantonalen Vorgaben – das gilt auch für das Pflegepersonal. Und die Arbeitszeit liegt mit 42 Stunden pro Woche im Durchschnitt. Das Wohlbefinden der Mitarbeitenden hängt im Wesentlichen von anderen Faktoren ab, zum Beispiel vom Arbeitsklima. Yvonne Ruf, die bereits ihre Ausbildung zur Fachfrau Gesundheit imHaus absolviert hat, bezeichnet die Atmosphäre als «familiär», man tausche sich aus und höre sich gegenseitig zu; und zwar nicht nur im Team, sondern auch mit anderen Berufsgruppen. «Es ist ein Miteinander», findet sie. Die 29-Jährige hat zudem die Erfahrung gemacht, dass man sich auf den Arbeitgeber verlassen darf. Als Lernende hatte sie gesundheitliche Probleme, musste sich einer Hüftoperation unterziehen und fiel lange aus. Die Ausbildung sei «auf der Kippe» gestanden, erzählt sie. Es gab viele Gespräche, und man fand Lösungen. «Ich habe hier grosse Unterstützung erfahren und konnte die Lehre mit einem Jahr Verspätung abschliessen», erzählt Yvonne Ruf. Ein Coach für persönliche Anliegen Begriffe wie Wahrnehmung und Wertschätzung werden im Lindenhof nicht nur grossgeschrieben, sondern auch gelebt. Krankheitsmeldungen landen stets auf dem Tisch von Geschäftsführer Ralph Bürge. Er schenkt ihnen Beachtung. Sobald die betroffene Person zurück am Arbeitsplatz ist, erkundigt er sich persönlich nach deren Befinden. Das gilt auch für Eltern, die wegen erkrankter Kinder abwesend waren. Der Lindenhof bezeichnet sich als «familienfreundlicher Betrieb», der mit einer eigenen Kita sowie einemHort Akzente setzt. Auf Anliegen und Fragen von Arbeitnehmenden wird eingegangen. Die Bürotüre der HR-Verantwortlichen ist stets offen: «Wir sind für die Leute da, und sie suchen uns täglich auf», heisst es. Eine weitere Dienstleistung bietet ein interner Coach. Mitarbeitende können ihn sowohl bei beruflichen Fragen oder Konflikten kontaktieren als Zufriedene Mitarbeitende tragen wesentlich zur Lebensqualität der Bewohnerinnen und Bewohner bei. Foto: Lindenhof
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