Das Magazin der Dienstleister für Menschen mit Unterstützungsbedarf ARTISET Im Fokus Was Freiwillige leisten – und erleben Ausgabe 07/08 I 2024 Regel- und Sonderschulen müssen besser zusammenarbeiten, sagt ein Experte. Der Innovation Booster fördert Projekte zur Integration in den regulären Arbeitsmarkt. Ein Heimleiter-Ehepaar punktet seit drei Jahrzehnten mit immer wieder neuen Ideen.
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ARTISET 07/08 I 2024 3 Editorial «Freiwillige treten in Beziehung zu ganz unterschiedlichen Arten von Menschen und tragen auf diese Weise viel zum sozialen Zusammenhalt bei.» Elisabeth Seifert, Chefredaktorin Liebe Leserin, lieber Leser Wenige Tage bevor ich diese Zeilen geschrieben habe, gab ich mir – endlich – einen Ruck und setzte mich mit einer älteren Nachbarin, die schon öfter bei mir geklingelt hatte, in ein nahegelegenes Café. Und: Ich werde es wieder machen. Ihre aussergewöhnliche, schwierige Lebensgeschichte machte mich nachdenklich, vor allem auch, dass sie trotzdem ihren Lebensmut nicht verloren hat. Und ich merkte, dass es ihr guttut, im Haus jemanden zu haben, an den sie sich wenden kann. Sie können sicher von ähnlichen Erlebnissen erzählen und haben auch festgestellt, wie notwendig und bereichernd es zugleich ist, nicht nur den eigenen Alltag und das unmittelbare Umfeld im Blick zu haben, sondern die Bedürfnisse der Menschen rund um uns herum. Wir sind soziale Wesen. Das bedeutet, gesellig zu sein, sicher. Aber mehr noch gehört es zu unserer DNA, uns für das Wohlergehen anderer und der Gemeinschaft zu engagieren. Immer gemäss unseren Möglichkeiten. Informell oder auch formell innerhalb einer Organisation oder eines Vereins. In den Bereichen Freizeit, Gesundheit oder Soziales, auch in der Politik. Freiwilligenarbeit ist sehr verbreitet. Markus Lamprecht, der für den Schweizer Freiwilligen-Monitor verantwortlich ist, bezeichnet im Interview die Freiwilligenarbeit «als tragende Säule unserer Gemeinschaft» (Seite 10). Vor diesem Hintergrund stimmt es zuversichtlich, dass die Bereitschaft, sich für die Gemeinschaft zu engagieren, in der Schweiz nicht generell abnimmt. Lamprecht gibt aber zu bedenken, dass die Suche nach Freiwilligen nicht einfacher geworden ist. Das hat auch mit unserem Wohlstand respektive der Entwicklung der Wirtschaft zu tun. Zahlreiche Aufgaben werden von Fachpersonen erledigt. Gerade im Sozial- und Gesundheitsbereich erleben wir einen hohen Grad an Professionalisierung, wodurch qualitativ hochstehende Dienstleistungen möglich geworden sind. Und wir alle haben uns daran gewöhnt, für Arbeit mit Geld entlöhnt zu werden. Das Engagement der Zivilgesellschaft bleibt aber schon allein aufgrund der demografischen Entwicklung wichtig für unser Gemeinwesen. Die Begleitung und Betreuung der vielen älter werdenden Menschen etwa lässt sich mit Profis allein nicht bewältigen. Freiwillige tragen zudem viel zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei, indem sie mit ganz unterschiedlichen Arten von Menschen in Beziehung treten. Lassen Sie sich von unseren Beiträgen inspirieren, selbst freiwillig tätig zu sein oder besser zu verstehen, wie sich Freiwillige für bestimmte Aufgaben gewinnen lassen. Über den Fokus hinaus empfehle ich Ihnen das Porträt von Beat und Susanne Hirschi, die seit 35 Jahren mit immer wieder neuen Ideen das Alterszentrum Jurablick in Niederbipp BE leiten, der Zeit zumeist voraus (Seite 30). Und vor dem Hintergrund der lauter werdenden Kritik an der integrativen Schule zeigt Romain Lanners, Direktor am Schweizer Zentrum für Heil- und Sonderpädagogik, wie die integrative Schule respektive die Schule für alle – endlich – zum Fliegen kommen kann (Seite 33). Titelbild: In den inklusiven Wohngemeinschaften des Vereins Arche in Fribourg begleiten neben Profis auch Freiwillige, meist Studierende, ihre Mitbewohnenden mit einer Behinderung. Foto: Marco Zanoni
Die Zukunft ist offen. Wir bereiten Sie darauf vor! Weil erstklassige Bildung wirkt. artisetbildung.ch ARTISET Bildung ist kompetente Dienstleisterin für umfassende Bildung im Gesundheits- und Sozialbereich. Kompetenzorientiert, vielfältig, bedarfsorientiert – wir bieten wertvolle Impulse für Fach- und Führungspersonen zur Professionalisierung der eigenen Arbeit und ermöglichen damit fachliche und persönliche Weiterentwicklung mit vielfältigen beruflichen Perspektiven. • Führung und Management • Sozialpädagogik • Kindheitspädagogik • Pflege und Betreuung • Gastronomie und Hauswirtschaft Als Mitglied von CURAVIVA, INSOS und YOUVITA profitieren Sie von reduzierten Kurspreisen. Gerne erarbeiten wir für Sie und mit Ihnen auch massgeschneiderte Inhouse-Weiterbildungen in Ihrem Betrieb. Nehmen Sie mit uns Kontakt auf! wb@artisetbildung.ch, T +41 41 419 01 72
Inhalt ARTISET 07/08 I 2024 5 Impressum: Redaktion: Elisabeth Seifert (esf), Chefredaktorin; Salomé Zimmermann (sz); Anne-Marie Nicole (amn); France Santi (fsa); Jenny Nerlich (jne) • Korrektorat: Beat Zaugg • Herausgeber: ARTISET • 3. Jahrgang • Adresse: ARTISET, Zieglerstrasse 53, 3007 Bern • Telefon: 031 385 33 33, E-Mail: info@artiset.ch, artiset.ch/ Magazin • Geschäfts-/Stelleninserate: Zürichsee Werbe AG, Fachmedien, Tiefenaustrasse 2, 8640 Rapperswil, Telefon: 044 928 56 53, E-Mail: markus.haas@ fachmedien.ch • Vorstufe und Druck: AST&FISCHER AG, Seftigenstrasse 310, 3084 Wabern, Telefon: 0319631111 • Abonnemente: ARTISET, Telefon: 03138533 33, E-Mail: info@artiset.ch • Jahresabonnement Fr. 125.– • Erscheinungsweise: 8 × deutsch (je 4600 Ex.), 4 × französisch (je 1400 Ex.) pro Jahr • WEMF/KS-Beglaubigung 2023 (nur deutsch): 3167 Ex. (davon verkauft 2951 Ex.) • ISSN: 2813-1355 • Nachdruck, auch auszugsweise, nur nach Absprache mit der Redaktion und mit vollständiger Quellenangabe. Im Fokus 06 Ein Pflegeheim vermittelt Freiwillige an Betagte in der Region 10 Die Bedeutung der Freiwilligenarbeit – und wie sie gefördert werden kann 14 Wie in einer inklusiven WG alle voneinander lernen können 18 Was Freiwillige in Schwerin DE leisten – und wie ihre Arbeit geschätzt wird 22 Rocco Brignoli: Sommer für Sommer einen inklusiven Mikrokosmos mitgeprägt 25 300 Freiwillige in 25 Sommercamps – der Tessiner Verein Atgabbes machts möglich kurz & knapp 28 Gesucht: Kreative und nachhaltige Produkte für den Socialstore Award 2024 Aktuell 30 Ein langjähriges Heimleiter-Ehepaar mit immer wieder neuen Ideen 33 Wie die integrative Schule gelingen kann 37 Innovation Booster: 16 Projektideen, die Leistungserbringer weiterbringen 40 Die Branchen tauschen sich aus – an der Artiset-Delegiertenversammlung 44 Ein Dashboard unterstützt Pflegeheime bei der Indikatoranalyse Politische Feder 46 Christina Zweifel, Geschäftsführerin Curaviva 18 33 46
6 ARTISET 07/08 I 2024 Sie ermöglichen Betagten, zuhause zu wohnen Rita Spuhler (69) und Klaus Wolter (65): Die beiden Freiwilligen besuchen regelmässig betagte Menschen in der Nachbarschaft – und erleben viel Dankbarkeit. Foto: Marco Zanoni
ARTISET 07/08 I 2024 7 Im Fokus Die Aareperle, ein Pflegeheim im aargauischen Döttingen, geht bei der Freiwilligenarbeit neue Wege. Hier sind ehrenamtlich Tätige nicht nur in der Institution selbst aktiv, sondern auch zuhause bei Betagten, die sich Gesellschaft oder Unterstützung bei einfachen Arbeiten wünschen. Ein Modell mit Zukunft? Von Tanja Aebli Die Idee, ältere Menschen in deren eigenen vier Wänden zu unterstützen, sei während der Covid-Pandemie entstanden, erinnert sich Steven Weill, der die Aareperle seit fünf Jahren leitet. Die anvisierte Nachbarschaftshilfe in der Region wollte bestehende Angebote anderer Anbieter wie Pro Senectute nicht konkurrenzieren, sondern Lücken schliessen. Mit dem Ziel, dass Betagte so lange wie möglich in einem Umfeld wohnen können, mit dem sie vertraut sind. In enger Zusammenarbeit mit Benevol AG und der kantonalen Fachstelle für Altersfragen reichten die Verantwortlichen der Aareperle bei Swisslos ein Gesuch ein. Und zogen das grosse Los: Mit dem zugesicherten Betrag konnte während dreier Jahre eine 30-Prozent-Koordinationsstelle für die Freiwilligenarbeit finanziert werden. Mehr als die Hälfte dieser Zeit ist um. Zeit für eine Zwischenbilanz. Kaffee trinken, spazieren, vorlesen «Das neue Angebot kommt bei der Zielgruppe gut an; gerade die Nachfrage im Bereich Nachbarschaftshilfe steigt kontinuierlich», freut sich Steven Weill. Manchmal sind es die erwachsenen Kinder, die anrufen oder eine E-Mail schreiben, manchmal die Betroffenen selbst. Die enge Zusammenarbeit mit Sozialdiensten und Hausärztinnen und -ärzten hilft ebenso, dass das kostenlose Angebot in der Region immer bekannter wird. Aber auch in der Aareperle selbst sind die Plakate der Freiwilligen-Koordinationsstelle nicht zu übersehen. Gesellschaft leisten oder kleinere Hilfestellungen im Alltag erbringen, insbesondere im administrativen oder digitalen Bereich – das sind die aufgelisteten Interventionsfelder im Rahmen der Nachbarschaftshilfe. «Wir sehen uns als offenes Haus, als einen Ort der Begegnung», umreisst Steven Weill die Philosophie der Aareperle. Mit der Freiwilligenvermittlung will die Institution, die nach einer Totalsanierung im Jahr 2023 einen neuen Namen trägt, auch einem sozialen Auftrag nachkommen. «Die Menschen werden immer älter. Aber auch immer einsamer. Hier sind wir als Gesellschaft und als Pflegeinstitution gefordert», so Weill. Das neue Freiwilligenprojekt soll Vorzeigecharakter haben und innovative Ansätze im Umgang mit dem demografischen Wandel liefern. Die Nachbarschaftshilfe und die Freiwilligeneinsätze innerhalb der Institution seien zwar kein Ersatz für Fachkräfte, schafften aber dennoch einen klaren Mehrwert für Betagte, zeigt sich der Institutionsleiter überzeugt. «Die Menschen werden immer älter. Aber auch immer einsamer. Hier sind wir als Gesellschaft, aber auch als Pflegeinstitution gefordert.» Steven Weill, Institutionsleiter Aareperle
8 ARTISET 07/08 I 2024 Sinnstiftende Tätigkeit nach der Pensionierung Derzeit sind rund 70 Personen im Freiwilligenpool der Aareperle aktiv. Der Grossteil davon engagiert sich direkt vor Ort in der Lese-, Strick-, Sing- oder Lottogruppe, im Mahlzeitendienst oder bei Projekten, die sie selbst ins Leben rufen, wie den kürzlich initiierten Männerstammtisch. Der «klassische» Freiwillige ist pensioniert, pflegt einen aktiven Lebensstil, will einer sinnstiftenden Tätigkeit nachgehen, sich aber auch nicht allzu stark binden, um weiteren Interessen nachgehen zu können. Rund ein Dutzend Personen aus diesem Pool leisten ihre Einsätze im Rahmen der Nachbarschaftshilfe. Wo liegen die Unterschiede? Die Frage geht an Nadia Zanchi, die umtriebige Freiwilligenkoordinatorin im Haus, deren Türen immer offenstehen. «Unsere Freiwilligen, die Betagte zuhause aufsuchen, sind bei ihren Einsätzen stärker auf sich allein gestellt. Sie tragen eine grössere Verantwortung», sagt sie. Die ausgebildete Kulturmanagerin hat ihre Tätigkeit im März 2022 aufgenommen, schreibt im Rahmen ihres 30-Prozent-Pensums Konzepte, schaltet Inserate, führt Gespräche, nimmt Anfragen entgegen, organisiert die Einsätze, kümmert sich um kurzfristige Vakanzen – kurz: Sie ist die Anlaufstelle für alle Fragen und Anliegen rund um Freiwilligenarbeit. Und von diesen gibt es viele. Intuition und Information Wie findet sie heraus, ob ein Freiwilliger den Anforderungen gerecht wird und wie aus zwei Individuen ein Team wird? «Wichtig sind die Erstgespräche», sagt sie. «Hier versuche ich herauszufinden, wieso sich jemand engagieren will. Ich zeige auf, welches die schönen Seiten, aber auch die Herausforderungen dieses Engagements sind.» Einige springen wieder ab, andere bleiben im Rennen. Für sie sucht Nadia Zanchi einen Ort, wo ihre Fähigkeiten zum Tragen kommen – direkt in der Aareperle oder in der Nachbarschaftshilfe. «Ein gut begleiteter Einstieg ist wichtig, gerade bei Einsätzen im Rahmen der Nachbarschaftshilfe», weiss Nadia Zanchi. Beim ersten Treffen zuhause sind idealerweise auch Angehörige zur Stelle, damit wichtige Informationen fliessen und die gegenseitigen Erwartungen geklärt werden. «Die Freiwilligen sind nicht für das Leben von jemand anderem verantwortlich. Es ist wichtig, Nein sagen zu können und sich vor Überforderung zu schützen.» Nadia Zanchi, Freiwilligenkoordinatorin Aareperle RITA SPUHLER: «DIE RICHTIGE BALANCE FINDEN» Jeden Montag von 14 bis 17 Uhr ist Rita Spuhler ganz in ihrem Element. Kleine Strasse, Dreierpasch, Full House: Die 90-jährige Frau, die Rita Spuhler seit rund einem halben Jahr wöchentlich aufsucht, würfelt fürs Leben gern. Dass sie mit jemandem «pläuderlä» und spielen kann, weiss die vife, unternehmenslustige Seniorin ungemein zu schätzen. Denn seit Sehkraft und Hörsinn weiter nachgelassen haben, hat sich ihr Aktionsradius nochmals dramatisch verkleinert. Weil es zuhause nicht mehr klappte, wohnt die betagte Frau seit kurzem in einer Institution in Zurzach. Doch so richtig heimisch ist sie dort noch nicht geworden: Rita Spuhler, die sie bereits im eigenen Domizil aufgesucht hat und jetzt auch am neuen Ort zur Stelle ist, bildet eine der wenigen Konstanten in diesen von Umbrüchen geprägten Zeit. Für Rita Spuhler ist klar: Den Montag möchte sie keinesfalls missen. «Es kommt so viel zurück, es ist so viel Dankbarkeit da.» Und doch sei es auch wichtig, eine gewisse Distanz zu wahren, damit das Engagement nicht zur Belastung werde. Vielen Hochbetagten fehlten die sozialen Kontakte und Möglichkeiten, um mit andern zu reden. Diese Erkenntnis ist nicht nur einfach: «Zu wissen, dass die Person, die ich begleite, sich viel mehr Aussenkontakt und Austausch wünscht, kann zu einem gewissen Druck führen.» Ihr helfe es, nach dem Einsatz jeweils mit ihrem Mann zu sprechen, um schwierige Themen zu verarbeiten. Und sich selber nicht zu viel aufzubürden – weder zeitlich noch emotional. Froh ist sie auch, dass es unter den Freiwilligen immer wieder Anlässe zum informellen Austausch gibt und sie sich bei Problemen an die Freiwilligen-Koordinatorin der Aareperle wenden kann.
ARTISET 07/08 I 2024 9 SIMON KELLER www.keller-be atung.ch 056 483 05 10 5405 Baden-Dättwil Strategie Projekte Controlling Prozesse StandortbeStimmung mittelS betriebSanalySe «Erhalten Sie eine schnelle Einschätzung zum Stand Ihres Betriebes unter Einbezug unserer Erfahrungswerte und Vergleichsdaten. Gerne berate ich Sie persönlich.» Ihre Spezialisten für Spital, Heim und Spitex Anzeige Im Fokus KLAUS WOLTER: «ICH MÖCHTE ETWAS ZURÜCKGEBEN» «Als ich mich vor zwei Jahren frühpensionieren liess, wollte ich mich in irgendeiner Weise engagieren», erinnert sich Klaus Wolter, ein passionierter Sportler und Familienmensch, der zeit seines Lebens vollzeitlich gearbeitet hat. «Ich möchte so etwas zurückgeben, weil es das Leben mit mir bisher wirklich gut gemeint hat.» Seit einigen Monaten begleitet er eine 91-jährige Frau aus der Region auf ihren Spaziergängen mit Rollator. Eine anspruchsvolle Aufgabe, zumal ihr Gang wegen Knieproblemen unsicher ist und sich ihre Altersdemenz zusehends verschlimmert. «Ich muss wirklich voll und ganz bei der Sache sein», so Wolter. Mit seinen Einsätzen entlastet er auch den 94-jährigen Ehemann und die drei Söhne, die sich aufgrund eigener gesundheitlicher Probleme oder beruflicher Verpflichtungen nicht um die Eltern kümmern können. Und hin und wieder springt er auch in anderer Mission beim Ehepaar ein, wie unlängst, als er half, eine Einladung am Computer zu finalisieren. Klaus Wolter kommt seine Erfahrung im Umgang mit Demenz jetzt zugute – bereits seine Mutter hatte damit zu kämpfen. «Ich spreche auf den Spaziergängen viel von früher, das mag sie», umreisst er seine Strategie. Dennoch: Einiges sei auch belastend und gehe nicht spurlos an ihm vorbei, räumt er ein. Gedanken ans eigene Älterwerden mache er sich schon. Aber Aufhören ist keine Option: «Die Frau ist wirklich froh, dass ich komme.» Doch damit nicht genug: Klaus Wolter hat noch einen zweiten Freiwilligenjob in der Aareperle selbst. Einmal im Monat heisst es, Karten und Abdeckplättchen verteilen, Zahlen überprüfen und sich um «seine» Leute am Tisch kümmern. Ein Einsatz, der ihm viel bedeutet: «Die freuen sich jedes Mal so aufs Spielen und halten mir immer den gleichen Platz frei», sagt er lachend. Er gilt an seinem Tisch als Glücksbringer par excellence. Merkblätter und weitere Tools, die laufend eingeführt bzw. optimiert werden, vereinfachen die Abläufe ebenso. Manchmal gingen «Basics» vergessen, wie etwa einem Freiwilligen ein Glas Wasser oder einen Sitzplatz anzubieten, so Zanchi, die hier mit einem neuen Merkblatt für Leistungsbezüger Gegensteuer geben will. Eigene Grenzen wahrnehmen Nadia Zanchi gibt den Freiwilligen dort, wo nötig, Rückendeckung und ist zur Stelle, wenn es knifflig wird. «In 90 Prozent der Fälle tauchen keine Probleme auf», so ihre Erfahrung nach über zwei Jahren in dieser Position. Ein Thema, das bei den Einsätzen immer wieder zur Sprache kommt, ist die Abgrenzung. «Die Freiwilligen sind nicht für das Leben von jemand anderem verantwortlich. Es ist wichtig, auch Nein sagen zu können und sich vor Überforderung zu schützen», hält sie fest. Was die Freiwilligen auch rege nutzen, sind die Veranstaltungen, die die Aareperle eigens für sie organisiert, wie den jährlichen Ausflug, das Neujahrsapéro oder die regelmässigen «Freiwilligenkafis» im Bistro der Aareperle, wo plaudern und sich austauschen angesagt ist. Vergünstigungen, In-house-Weiterbildungen oder Gratistickets sind weitere Formen der Anerkennung. Nadia Zanchi: «Wir versuchen, den Freiwilligen immer wieder Wertschätzung zu zeigen, leisten sie doch einen ungeheuer wichtigen Einsatz für Menschen im hohen Alter und im Kampf gegen Isolation und Einsamkeit.»
10 ARTISET 07/08 I 2024 Freiwilligenarbeit bringt Menschen zusammen, schafft Kontakte und eröffnet Partizipationschancen. Der Wert der ehrenamtlichen Arbeit umgerechnet in Zahlen würde Milliardensummen ergeben, sagt Markus Lamprecht*. Er ist verantwortlich für den Schweizer Freiwilligen-Monitor – und gibt im Interview etwa Auskunft darüber, wie zufrieden Ehrenamtliche mit ihrer Tätigkeit sind. Interview: Salomé Zimmermann « Freiwilligenarbeit in der Schweiz nimmt nicht ab» Herr Lamprecht, wie definieren Sie Freiwilligenarbeit? Im Freiwilligen-Monitor wird Freiwilligenarbeit anhand von drei Kriterien definiert. Diese Kriterien sind auch in der Definition des Bundesamts für Statistik enthalten. Erstens ist Freiwilligenarbeit freiwillig und unbezahlt. Damit grenzen wir Freiwilligenarbeit von der Erwerbsarbeit ab. Kleinere Spesen- und Aufwandsentschädigungen sind allerdings auch in der Freiwilligenarbeit gang und gäbe. Zweitens muss das freiwillige Engagement Menschen ausserhalb des eigenen Haushalts zugutekommen. Dies unterscheidet Freiwilligenarbeit von der familiären Care-Arbeit. Drittens muss die Freiwilligenarbeit für andere Personen einen Nutzen haben und einen gemeinnützigen Beitrag leisten. Zusätzlich unterscheiden wir im Monitor zwischen informeller und formeller respektive institutioneller Freiwilligenarbeit. Letztere findet im Rahmen von Vereinen und Organisationen statt. Wenn es sich dabei um ein klar definiertes Amt handelt, spricht man von ehrenamtlicher Arbeit. Welche Bedeutung hat ehrenamtliche Arbeit in der Schweiz? Eine Schweiz ohne Freiwilligenarbeit kann man sich kaum vorstellen. In der Politik, bei den Hilfswerken und Kirchen, in sozialen Bewegungen, bei vielen Freizeitaktivitäten, im Pflegebereich oder bei der Nachbarschaftshilfe – wo «Auffällig ist die hohe Zufriedenheit der Ehrenamtlichen. Die grosse Mehrheit würde das jetzige Amt nochmals übernehmen, wenn sie erneut wählen könnten.» Markus Lamprecht
ARTISET 07/08 I 2024 11 Im Fokus wir auch hinblicken: Überall spielt Freiwilligenarbeit eine wichtige Rolle. Wie steht die Schweiz im Vergleich zu anderen Ländern da? Internationale Vergleiche sind nicht ganz einfach, weil es unterschiedliche Definitionen gibt und Freiwilligenarbeit unterschiedlich erhoben wird. Und bei den grossen EU-Studien zu Volunteering ist die Schweiz nicht dabei. Gemäss Freiwilligen-Monitor leisten 39 Prozent der Schweizer Bevölkerung im Alter ab 15 Jahren formelle Freiwilligenarbeit. Damit würden wir leicht hinter den EU-Spitzenreitern Schweden, Niederlande und Österreich, aber noch vor Dänemark, Deutschland und Finnland liegen. Der Spitzenplatz der Schweiz erklärt sich auch mit der sehr hohen Vereinsdichte hierzulande. In der Schweiz gibt es je nach Schätzung 80 000 bis 100 000 Vereine, die alle auf Ehrenamtliche und freiwillige Helfende bauen. Wie sähe die Schweiz ohne Freiwilligenarbeit aus? Und welchen Wert hat die Freiwilligenarbeit, emotional und finanziell? Ohne Freiwilligenarbeit würde eine tragende Säule unseres Gemeinwesens wegbrechen, die Folgen wären verheerend. Freiwilligenarbeit ist aber nicht nur fur die Gesellschaft und den sozialen Zusammenhalt von unbezahlbarem Wert, sie kann auch fur die Freiwilligen selbst ein grosser Gewinn sein. Freiwilligenarbeit bringt Menschen zusammen, schafft Kontakte und Freundschaften, erweitert den Horizont, stärkt das Selbstwertgefühl und eröffnet Partizipationschancen. In Freiwilligenorganisationen kann man nicht nur seine Kenntnisse und Fähigkeiten erweitern, man lernt demokratische Spielregeln, Solidarität und Kompromissbereitschaft und gewinnt Vertrauen in seine Mitmenschen und in die Institutionen. Die vielen positiven Effekte eines freiwilligen Engagements konnten auch im Freiwilligen-Monitor nachgewiesen werden. Dagegen haben wir bewusst darauf verzichtet, den Wert von Freiwilligenarbeit monetär zu beziffern. Würde man es machen, käme man zweifellos auf Milliardensummen. Welche Bedeutung hat ehrenamtliche Arbeit im Dienst von Menschen mit Unterstützungsbedarf? Und sind die Freiwilligen hauptsächlich mit betagten oder eingeschränkten oder jugendlichen Menschen tätig? Sie hat eine sehr grosse Bedeutung. Wir haben die Personen, die Freiwilligenarbeit innerhalb von Vereinen und Organisationen leisten, gefragt, für welchen Personenkreis oder für welche Zielgruppe sie sich hauptsächlich engagieren würden. Ein Achtel der formell Freiwilligen engagiert sich für Menschen mit Behinderung oder für pflegebedürftige Personen. Dazu engagieren sich 10 Prozent für Migrantinnen und Migranten oder Flüchtlinge und 9 Prozent für finanziell oder sozial schlechter gestellte Personen. Schliesslich engagieren sich 21 Prozent generell für ältere Personen und sogar 39 Prozent für Kinder. Dazu kommt die informelle Freiwilligenarbeit ausserhalb von Vereinen und Organisationen. Hier steht die Betreuung von Kindern an erster Stelle vor der Betreuung und Pflege von Betagten, der Pflege von Kranken sowie der Betreuung von Menschen mit einer Behinderung. Arbeiten Freiwillige auch in Institutionen für Menschen mit Unterstützungsbedarf? Zweifellos, allerdings haben wir dazu keine handfesten Zahlen. Wir sehen aber zum Beispiel wo und von wem Ehrenamtliche und freiwillige Helfende gesucht werden. Da gibt es sehr viele Institutionen für Menschen mit Unterstützungsbedarf, die Freiwillige für die unterschiedlichsten Aufgaben suchen. Sehr viele Freiwillige werden für gemeinsame Freizeitaktivitäten und Fahrdienste gesucht, aber auch für andere Aufgaben wie zum Beispiel Treuhanddienste. Wer organisiert freiwillige Arbeit im institutionellen Bereich in der Schweiz? Zuerst sind es einmal die unzähligen Vereine und Non-Profit-Organisationen. Diese werden ihrerseits unterstützt durch staatliche und private Förderer. Eine wichtige Rolle für die Vernetzung und die Suche nach Freiwilligen spielt beispielsweise «Benevol» – die Dachorganisation der regionalen Fachstellen für freiwilliges Engagement in der Schweiz.S chliesslich kann ich auch die Schweizerische «Nicht vergessen darf man zudem, dass auch viele Aufgaben, die früher von Freiwilligen getragen wurden, professionalisiert und in bezahlte Arbeit überführt wurden.»
12 ARTISET 07/08 I 2024 Gemeinnützige Gesellschaft erwähnen, welche zusammen mit dem Migros- Kulturprozent und der Beisheim-Stiftung den Monitor finanziert, und sich auch sonst für die Förderung der Freiwilligenarbeit einsetzt. Gerade bei Institutionen für Menschen mit Unterstützungsbedarf ist eine sorgfältige Planung und Koordination der Freiwilligenarbeit wichtig, damit die Freiwilligen die richtigen Fähigkeiten und Kenntnisse mitbringen. Welche Motive haben Leute, freiwillig zu arbeiten und wie sieht es mit Entlöhnung aus? An erster Stelle stehen der Spass und die Freude an der jeweiligen Tätigkeit. An zweiter Stelle folgen soziale Motive: Man kann bei der Freiwilligenarbeit andere Menschen treffen, man möchte anderen Menschen helfen oder etwas mit anderen bewegen. Danach kommen persönliche Motive: Man möchte bei der Freiwilligenarbeit seine Kenntnisse und Fähigkeiten erweitern, sich persönlich weiterentwickeln oder ein persönliches Netzwerk pflegen. Finanzielle Gründe werden nur von ganz wenigen Freiwilligen ins Feld geführt, was natürlich auch daran liegt, dass nur wenige substanzielle Entschädigungen erhalten. Auffällig ist die hohe Zufriedenheit der Ehrenamtlichen. Die grosse Mehrheit würde das jetzige Amt nochmals übernehmen, wenn sie erneut wählen könnten. Wer arbeitet freiwillig in der Schweiz? Und in welchen Bereichen vor allem? Freiwilligenarbeit wird von den verschiedensten Bevölkerungsgruppen geleistet. Bei der formellen Freiwilligenarbeit finden wir etwas häufiger Männer, Personen im Alter von 45 bis 74 Jahren sowie Personen mit höherer Bildung, höherem Einkommen und einem Schweizer Pass. Bei der informellen Freiwilligenarbeit sind die Frauen klar in der Mehrheit. Das Profil der Freiwilligen in Vereinen und gemeinnützigen Organisationen dürfte sich in den nächsten Jahren allerdings ändern. Bei Frauen, jüngeren Personen und den in der Schweiz lebenden Ausländerinnen und Ausländern finden wir eine besonders hohe Bereitschaft, sich zukünftig zu engagieren. Besteht die Gefahr, dass Politik und Wirtschaft Arbeiten auf Freiwillige abzuwälzen versuchen? Ja, die Gefahr besteht, und dazu gibt es auch Beispiele. Etwa wenn eine Grossveranstaltung «Recycling-Heros» sucht, welche bei der Abfallentsorgung helfen sollen. Solche Initiativen sind aber häufig wenig erfolgreich. Freiwilligenarbeit muss auch für die Freiwilligen gewinnbringend sein, eben Spass machen oder Sinn und Wertschätzung beinhalten. Das Zusammenspiel von Freiwilligen und bezahlten Mitarbeitenden hat sicher seine Fallstricke, klappt in aller Regel aber sehr gut. Nicht vergessen darf man zudem, dass auch viele Aufgaben, die früher von Freiwilligen getragen wurden, professionalisiert und in bezahlte Arbeit überführt wurden. Wie kann Freiwilligenarbeit gefördert werden? Wertschätzung und Anerkennung sind sicher wichtig. Seitens der Kantone, aber auch von Organisationen und Medien werden dazu verschiedene Preise und Auszeichnungen vergeben. Die Vergaben helfen, den Wert von Freiwilligenarbeit besser zu würdigen und uns bewusst zu machen, was alles freiwillig und unentgeltlich geleistet wird. Wenn wir die Freiwilligen selbst fragen, stehen öffentliche Anerkennung und Wertschätzung allerdings nicht an erster Stelle. Als Bedingungen für die Übernahme eines Amtes werden häufiger genügend Zeit, ein gutes Thema, eine interessante, erfüllende Aufgabe sowie Flexibilität und ein tolles Team genannt. Als Hinderungsgrund wird neben der mangelnden Zeit auch häufig die Angst vor Verpflichtungen genannt. Das heisst, genauso wichtig wie die gesellschaftliche Anerkennung sind die Wertschätzung im Team, flexible und angepasste Angebote sowie die Förderung von Partizipation und Integration. Entscheidend ist auch, dass die Freiwilligen persönlich angefragt und überzeugt werden. Was sind die wichtigsten Resultate des Freiwilligen-Monitors 2020? Und welches sind die überraschendsten Resultate? Vieles wurde ja bereits gesagt. Etwas kann ich aber noch hinzufügen: Allen Unkenrufen zum Trotz nimmt die Freiwilligenarbeit in der Schweiz nicht generell ab. Die Suche nach Freiwilligen ist sicher nicht einfacher geworden, es gibt aber nach wie vor ein beträchtliches Potential an Personen, die sich freiwillige engagieren wollen – gerade auch bei jüngeren Leuten oder bei Personen unmittelbar vor der Pensionierung. «Sehr viele Freiwillige werden in Institutionen für Menschen mit Unterstützungsbedarf für gemeinsame Freizeitaktivitäten und Fahrdienste gesucht, aber auch für andere Aufgaben wie zum Beispiel Treuhanddienste.»
ARTISET 07/08 I 2024 13 Derzeit ist ein aktueller Freiwilligen-Monitor in Entstehung, sind da bereits erste Tendenzen erkennbar? Die Erhebung wurde eben erst abgeschlossen. Wir beginnen gerade mit den Analysen und sind sehr gespannt auf die neuesten Ergebnisse und Entwicklungen. Haben Sie selber schon einmal freiwillig gearbeitet? Ja, verschiedentlich: In meiner Jugend war ich als Pfadileiter aktiv, später viele Jahre als Trainer im Volleyball und als Leiter in Jugendskilagern. Seit 30 Jahren koordiniere ich ehrenamtlich ein Forschungskomitee der Schweizer Gesellschaft für Soziologie. Und schliesslich kümmere ich mich auch etwas um meine 97-jährige Mutter, wobei ich Letzteres nicht wirklich als Freiwilligenarbeit sehe – obwohl es gemäss einer weiten Definition so wäre – und die Hauptarbeit ohnehin von den Pflegenden in ihrem Alterszentrum geleistet wird. * Markus Lamprecht, Dr. phil., ist Verwaltungsratspräsident der Lamprecht und Stamm Sozialforschung und Beratung AG (L&S). Das Forschungsinstitut leitet in Zusammenarbeit mit dem Befragungsinstitut Link die Erhebung für den Freiwilligen-Monitor Im Fokus Hier gelangen Sie zum Freiwilligen-Monitor 2020: Markus Lamprecht: «Ohne Freiwilligenarbeit würde eine tragende Säule unseres Gemeinwesens wegbrechen, die Folgen wären verheerend.» Foto: zvg
14 ARTISET 07/08 I 2024 Zusammenleben – mit und ohne Einschränkungen Zum Abendessen treffen sich alle WG Mitglieder, um sich über den Tag auszutauschen. Fotos: Marco Zanoni
ARTISET 07/08 I 2024 15 Im Fokus In einer inklusiven Wohngemeinschaft in Fribourg kümmern sich neben Profis auch Freiwillige – häufig Studierende – um ihre Mitbewohnenden mit kognitiven Einschränkungen. Sie profitieren dafür von reduzierter Miete und gemachter Wäsche und bezeichnen als grösste Herausforderung das richtige Mass von Ansprechbarkeit und Abgrenzung. Die WG-Bewohnenden geniessen insbesondere das Lernen voneinander. Von Salomé Zimmermann Eine schöne alte Villa mit Garten, mitten in Fribourg, in der Nähe vom Bahnhof und von der Universität. Hier leben Menschen mit und ohne Behinderung zusammen. Die Personen mit kognitiven Einschränkungen erfahren ausser von Fachpersonen Unterstützung von Freiwilligen, hauptsächlich Studierenden, diese wiederum erhalten vergünstigte Mietkonditionen. Möglich macht dies der christlich geprägte, weltweit tätige Verein Arche, gegründet von einem kanadischen Theologen. In Fribourg gibt es drei solcher Arche-Wohngemeinschaften in drei Häusern. Das inklusive Zusammenwohnen ist in der Schweiz immer noch eher aussergewöhnlich. Eine zweite Familie Wie das alltägliche Zusammenleben funktioniert, zeigt ein Augenschein vor Ort zum Zeitpunkt, der alle versammelt, nämlich beim Abendessen. Wir befinden uns in der kleinsten und jüngsten Fribourger Wohngemeinschaft «Grain de Sel», wo insgesamt sechs Personen zusammenleben, drei davon mit Behinderung. Gekocht haben der von Verein Arche angestellte Hausverantwortliche und Sonderpädagoge Andreas Uhlig und der langjährige Bewohner Olivier Ducrest. Es gibt Reis mit Rucola, Käse, Erdbeeren und Salat. Versammelt sind am Tisch die gesamte Wohngemeinschaft und Gaëlle, die Freundin von Mitbewohner Nayden Frossard. Am Tisch geht es zu und her wie überall, es wird gelacht und gescherzt und der Tag kommentiert – auf Französisch. Valerie Kaufmann, die 21-jährige, freiwillig tätige Studentin, bringt Olivier nach dem Essen seine Medikamente. Sie studiert Heilpädagogik und hat nun zwei Jahre in der WG verbracht, bald zieht sie nach Bern, um dort ihre Studien fortzusetzen. Nach dem Essen stossen auch zwei Freiwillige aus den beiden anderen Häusern in unmittelbarer Nachbarschaft dazu, um von ihren Erfahrungen zu erzählen. Da ist einerseits die 22-jährige Zoë Koch, die in der ältesten und mit ungefähr zehn Personen grössten Wohngemeinschaft «La Grotte» lebt. Sie studiert Jus und möchte ihren Master bilingue abschliessen. Deshalb hat sie sich entschieden, in die französischsprachige Wohngemeinschaft einzuziehen und folgt dabei auch dem Beispiel ihrer Mutter, die vor 25 Jahren als Studentin auch in einem der drei Arche-Häuser in Fribourg lebte. «Mir gefällt es sehr, hier eine zweite Familie zu haben», so Zoë. Die dritte Freiwillige ist Krista Haeni aus der Wohngemeinschaft «Béthanie». Die Mittvierzigerin arbeitet als Heilpädagogin auswärts. Ist es ihr nicht zu viel, sowohl bei der Arbeit wie auch zuhause mit Menschen mit Behinderungen konfrontiert zu sein? «Ich schätze die Gemeinschaft hier sehr, das Zusammengehörigkeitsgefühl – und Arbeit ist Arbeit, das ist etwas ganz anderes», sagt Krista. Sie habe als Lehrerseminaristin damals eine Arbeit über die Arche verfasst und sei so dazugestossen. «Bei der Arbeit gibt es Ansprüche und den Druck, die Arbeit möglichst gut zu machen. Dies fällt in der Arche-WG weg, hier bin ich zuhause», so Krista. Valerie, die zukünftige Heilpädagogin, lernt im Zusammenwohnen viel für ihre Arbeit – die Praxis sieht sie als ideale Ergänzung zur Theorie in der Ausbildung. Die Ehrenamtlichen geniessen gewisse Annehmlichkeiten wie die Erledigung der Wäsche oder die Tatsache, dass sie im Turnus nur einmal pro Woche für alle kochen müssen – die günstige Miete ist natürlich auch ein wichtiger Faktor. Als Freiwilliger gestartet Andreas lebte damals als Student ein Jahr als Freiwilliger in der Arche-WG, daraus sind nun über zwanzig Jahre geworden. Er studierte seinerzeit in Erfurt und wollte Französisch lernen und Erfahrungen mit Menschen mit kognitiven Einschränkungen machen. Da kam ihm der Anschlag am Schwarzen Brett an der Uni gerade recht, und er zog in die Schweiz um. Seit Langem wohnt auch seine Frau Anne Uhlig – als Freiwillige – in der Wohngemeinschaft. «Mir entspricht diese gemeinsame Lebensform sehr, ich treffe Menschen, mit denen ich sonst nichts zu tun hätte», sagt Andreas. Er erinnert sich, wie erstaunt er in den Anfängen war, dass es so «normal» zu und her ging, dass Menschen eben einfach Menschen sind, egal ob mit oder ohne Behinderung. Das Paar sorgt für Konstanz, während die jungen Freiwilligen zirka alle zwei bis drei Jahre wechseln. Ihm passe dieser Rhythmus gut, meint Andreas. Krista hingegen hat manchmal Mühe mit den Wechseln, weil sie auch
Unsere Dienstleistungen • Offene Vakanzen auf Geschäftsleitungsebene: Wir übernehmen den gesamten Rekrutierungsprozess oder unterstützen Sie im Teilmandat. • Wunschkandidat oder -kandidatin: Vielleicht ist er oder sie schon in unserem Kandidatenpool. Rufen Sie uns an oder besuchen Sie unsere Webseite. • Ad Interim Lösungen: Unser Expertenpool bietet ausgewiesene Fach- und Führungskräfte auf Zeit. • Pensionierungen in den nächsten 5 Jahren: Kontaktieren Sie uns frühzeitig für eine erfolgreiche Nachfolgebesetzung. Unsere Kernkompetenzen und Motivation: • Passgenaues Matching. Wir bringen passende Führungspersönlichkeiten mit Institutionen/ Organisationen zusammen. • Beratung und Selektion. Expertise in der Beratung sowie der Suche und Selektion von Führungspersonen im Gesundheits- und Sozialbereich. • Aussagekräftige Inserate. Erstellung von Inseraten, die das gesuchte Profil exakt widerspiegeln. • Vertrauensvolle Zusammenarbeit. Transparente Beziehungen zu Trägerschaften, Geschäftsleitungsmitgliedern und Kandidat:innen. • Ziel- und ressourcenorientiert. Wirtschaftliches Denken und nachhaltige Lösungen. Suchen Sie Mitglieder für Ihre Geschäftsleitung? Profitieren Sie von unserer Erfahrung, unserem spezialisierten Branchenwissen und unserem grossen Netzwerk. Ihr vertrauter Partner für den Gesundheits- und Sozialbereich ARTISET Kaderselektion ist eine Dienstleistung der Föderation ARTISET mit ihren Branchenverbänden CURAVIVA, INSOS und YOUVITA. Als Personalvermittler haben wir uns auf Institutionen für Menschen mit Unterstützungsbedarf spezialisiert. Mehr Infos mit Video Kontaktieren Sie uns: Jona Herrmann, Leiter ARTISET Kaderselektion, T +41 31 385 33 65
ARTISET 07/08 I 2024 17 liebgewonnene Menschen ziehen lassen muss. Sie leiste viel als Freiwillige, aber erhalte auch viel von ihren Kolleginnen und Kollegen mit und ohne Einschränkungen. Die Bewohnenden mit Behinderungen sind unterschiedlich alt und unterschiedlich lange schon in der WG – Nayden seit zwei Jahren, Olivier seit über zwanzig und Alexandra seit zehn Jahren. Alexandra Berthoud ist die zurückhaltendste Bewohnerin von allen, es gefalle ihr gut, sagt sie. Das richtige Mass finden Was sind denn die Schwierigkeiten der gemeinsamen Lebensform? Andreas Uhlig findet es manchmal anspruchsvoll, sich bei Konflikten abzugrenzen. Valerie teilt diese Ansicht, sie findet es aber auch ohne Konflikte schwierig, das richtige Mass an Ansprechbarkeit und Rückzug zu finden. Die drei ehrenamtlich tätigen Frauen nennen zudem vor allem die Zeit. Studium, Arbeit, Herkunftsfamilie, Freundeskreis und WG-Leben unter einen Hut zu bringen, sei eine ständige Herausforderung. Die Freiwilligen haben bestimmte Präsenzzeiten, diese unterscheiden sich jedoch von Haus zu Haus. Meistens gehört die Verantwortung für ein Abendessen und ein Morgenessen pro Woche dazu sowie die Teilnahme an der wöchentlichen Sitzung, an der alles Wichtige besprochen wird. Die Betreuung der Personen mit Beeinträchtigung tagsüber erfolgt durch professionelle Begleitpersonen, die auch von auswärts dazustossen oder durch Mitarbeitende, welche in den geschützten Werkstätten und Ateliers tätig sind. Das entlastet die Freiwilligen – das Wissen darum, dass es gerade bei Problemen ausgebildete Fachpersonen gibt, welche die Verantwortung tragen. Junge Freiwillige haben es leichter Und welche Personen eignen sich als Freiwillige für eine Arche-Wohngemeinschaft? Andreas Uhlig findet wichtig, dass eine Person den Umgang mit Menschen mit Behinderungen ausprobieren will und dass sie generell offen ist. «Ausserdem habe ich festgestellt, dass es jüngeren Menschen leichter fällt, sich auf eine Arche-WG einzustellen, ebenso wie Personen, die an Wohngemeinschaften gewohnt sind», sagt Andreas Uhlig. Er stellt zudem fest, dass vor allem Deutschsprachige und Tessiner in die WG kommen, obwohl oder gerade weil die WG auf Französisch kommuniziert. Die Professionellen, also die Begleitpersonen und Sozialpädagoginnen, hingegen seien mehrheitlich aus der Romandie. Interessierte leben eine Woche im Haus, damit alle Beteiligten entscheiden können, ob es passt. Bis zur Corona-Krise fanden sich laut Andreas Uhlig immer genug Freiwillige. Dann wurde es schwierig, weil die Studierenden nicht mehr an die Universitäten durften und weil die Einschränkungen mit vulnerablen Menschen beträchtlich waren. Seither hat sich die Situation wieder etwas stabilisiert. Auf Seiten der festen Bewohnerinnen und Bewohner gibt es auch Einschränkungen: Eine gute Mobilität muss gegeben sein. Die Gebäude sind alt, mit mehreren Stockwerken versehen und ohne Lift, das heisst, dass Personen mit eingeschränkter Mobilität nicht aufgenommen werden können. Und hier liegt das Problem: Die Menschen werden älter, und dadurch nimmt auch ihre Beweglichkeit ab. Was passiert, wenn sie sich nicht mehr selbständig von Stockwerk zu Stockwerk bewegen können und nicht mehr selbständig in die nahe gelegenen Werkstätten laufen können? Um dem Älterwerden der Bewohnerinnen und Bewohner zu begegnen, ist der Verein L’Arche Fribourg derzeit auf der Suche nach einem modernen und behindertengerechten Gebäude. Grosse Veränderungen Ein allfälliger Umzug stellt jedoch eine Herausforderung an das Prinzip der Freiwilligkeit dar: Weniger Zimmer stünden den Menschen mit dem Willen zur ehrenamtlichen Tätigkeit zu Verfügung. Und diese Zimmer werden wohl noch im selben Haus, aber nicht mehr direkt in der WG sein. Zum schwierigeren Stand der ehrenamtlichen Tätigkeit trägt auch die Professionalisierung der Betreuung bei, erklärt Andreas Uhlig. 1983, als die Arche Fribourg gegründet wurde, gab es noch kein Recht der Menschen mit Behinderung auf individuelle Wohnformen und entsprechende Finanzierung. Die Hauptlast der Verantwortung trugen die Ehrenamtlichen. Nun hat sich die Situation grundsätzlich verändert. Trotzdem hoffen alle Bewohnerinnen und Bewohner, dass das einmalige Konzept Zukunft hat, denn es bringt Nähe und Vorteile, welche die Institutionen so nicht bieten können. Im Fokus Andreas Uhlig (r.) und Olivier Ducrest haben zusammen ein feines Znacht zubereitet.
18 ARTISET 07/08 I 2024 Im Fokus Freizeitaktivitäten für Menschen mit Behinderungen werden bei den Dreescher Werkstätten in Schwerin DE nur von Freiwilligen durchgeführt. An denen mangelt es zum Glück nicht – dank individuellen Einsatzmöglichkeiten und einer wertschätzenden Haltung. Werfen Sie mit mir einen Blick auf das freiwillige Engagement in Deutschland. Von Jenny Nerlich (Text und Fotos) Freie Zeit gemeinsam gestalten
ARTISET 07/08 I 2024 19 Ich möchte Sie gerne mit auf eine Reise nehmen – dorthin, wo das Land flach ist, das Wetter manchmal rau und die Seeluft frisch. Dort, im Nordosten Deutschlands, eingebettet in eine naturnahe Landschaft aus Seen und Wäldern, dort liegt Schwerin. Meine Heimatstadt. Nicht sehr gross für deutsche Verhältnisse, mit gerade mal 99 000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Aber auch mit 70 Freiwilligen, die sich bei den Dreescher Werkstätten für Menschen mit Behinderungen engagieren. Doch erst mal von vorne, damit Sie verstehen, warum Sie in einem Schweizer Fachmagazin einen Beitrag aus Deutschland lesen. Das ist ganz einfach: Ich habe in Schwerin nach meiner Matura ein freiwilliges soziales Jahr gemacht. Das ist nichts anderes als ein zwölfmonatiger Freiwilligendienst. Dieses soziale Jahr habe ich in einem Integrationsbetrieb für Menschen mit Behinderungen bei den Dreescher Werkstätten absolviert – einer gemeinnützigen Organisation, die in Schwerin seit den frühen 1990er Jahren Wohneinrichtungen und Integrationsbetriebe (Werkstätten) für Menschen mit Behinderungen betreibt. Ich habe mich also mit achtzehn freiwillig sozial engagiert. Und meine Mutter macht das heute mit siebzig. Sie arbeitet als freiwillige Projektleiterin und Betreuerin seit mittlerweile über zehn Jahren bei den Dreescher Werkstätten. Immer wieder erzählt sie mir von ihrer Arbeit. «Weisst du, Jenny», sagte sie mal, «auf unserer Reise in den Spreewald, da waren wir drei Reisebegleiter für acht Teilnehmer. Alles Freiwillige.» Das hat mich beeindruckt. Also habe ich mich auf den Weg nach Schwerin zu den Dreescher Werkstätten gemacht. Ein grosses Angebot an Aktivitäten Die Organisation hat eines ihrer Büros im Bürgerzentrum «Campus am Turm» auf dem Dreesch – einem grossen Stadtteil mit Plattenbauten aus DDR-Zeiten. Hier wird die Freiwilligenarbeit für die zahlreichen Freizeit- und Reiseangebote koordiniert. Zu den Angeboten gehört der familienunterstützende Dienst, mit dem pflegende Angehörige entlastet werden können. Die Freiwilligen begleiten oder betreuen Menschen mit Behinderungen eins zu eins, gehen mit ihnen spazieren, begleiten sie zu Freizeitaktivitäten oder bieten ihnen eine paar schöne Stunden. Dann gibt es den Freizeitclub. Hier können sich Menschen mit Behinderungen zu verschiedenen Freizeitaktivitäten anmelden, zum Beispiel zum Bowling, zum Singen oder Musizieren, zum Kochen, zum Line Dancing oder zum kreativen Gestalten in der Kunstwerkstatt. Und zu guter Letzt der Reiseservice: Der bietet Tagesfahrten bis einwöchige Reisen an, sogar nach Mallorca. Meine Mutter leitet zweimal im Monat eine Kochgruppe. An diesem warmen Dienstagnachmittag nimmt sie mich mit. Sie plant zusammen mit ihrem Team die Gerichte und kauft die Zutaten ein. Heute gibt es Rosmarinkartoffeln mit Frikadellen und Salat. Bevor die sechs Teilnehmer ab halb vier nach und nach eintrudeln, ist ihr Team bereits da: Regine und Musa. Infos zu den Dreescher Werkstätten: ➞ dreescher werkstaetten.de Regine, eine Freiwillige der Kochgruppe (l.), gibt wertvolle Tipps an die Teilnehmenden weiter.
20 ARTISET 07/08 I 2024 Musa kommt aus Afghanistan und trägt eine Beinprothese. Seit sechs Jahren engagiert er sich für die Dreescher Werkstätten. In der Kochgruppe kann er seine Kochkenntnisse an die Teilnehmer weitergeben. Das macht ihm viel Spass. Regine ist seit fünf Jahren dabei. Was sie an ihrem freiwilligen Engagement schätzt, ist einerseits das Überraschende: «Man kann nicht planen, es kommt immer anders, als man denkt», und andererseits das Herzliche: «Mal wird man gedrückt, mal bekommt man ein Lächeln.» Gemeinsam kochen und dabei lernen Die Teilnehmer kommen. Sie werden mit dem Fahrdienst direkt von ihrer Arbeit zum Kochstudio im Bürgerzentrum gebracht. Nach einem langen Arbeitstag können sie sich erst mal bei einem Tee oder Kaffee entspannen und stärken. Doch dann geht es an die Arbeit. Denn wer essen will, muss auch zubereiten. Das ist eines der Ziele der Kochgruppe, erklärt mir Regine: lernen, wie man sich eine köstliche Mahlzeit zubereiten kann. «Wir machen einfache Gerichte, damit die Leute die Rezepte leicht zu Hause nachkochen können.» Gesagt, getan. Meine Mutter und Regine verteilen die Aufgaben. Katrin schneidet Zwiebeln, Paul mischt sie unter das Hackfleisch, Yvonne formt es zu Frikadellen. Und Emilie schneidet Salat – mit ein paar Tipps von Regine. «Schau mal, Emilie, wenn du das Messer so hältst, kannst du besser schneiden.» Emilie ist neu in der Kochgruppe und braucht mehr Anleitungen als die Alteingesessenen. Mit Regine hat sie die richtige Unterstützung an ihrer Seite. Die grosse, blonde Frau wirkt auf mich wie ein sanfter Ruhepol im quirligen Küchenteam. Während sie die Frikadellen brät, beantwortet sie hier Fragen und reicht dort Kochutensilien. Katrin: «Sind die Klopse schon gut?» Regine: «Noch nicht. Schau mal, da ist noch rotes Fleisch.» Yvonne: «Regine, kannst du mir mal den Löffel geben.» Regine: «Bitte schön.» Emilie mit ihrer Salatschüssel: «Guck mal.» Regine: «Das hast du gut gemacht, Emilie.» Wer sich bei den Dreescher Werkstätten freiwillig engagieren will, der muss das Herz am rechten Fleck haben, muss offen und ehrlich sein, aber auch mutig genug für neue Herausforderungen und einen aufrichtigen Blick auf sich selbst. Das erklärt mir Heike Winkler. Sie ist die Teamleiterin für den Bereich «Familie & Freizeit» bei den Dreescher Werkstätten. Interessierte kommen zuerst zu ihr. Winkler sucht mit ihnen gemeinsam den passenden Einsatzbereich, sie sagt aber auch deutlich, was sie von den Freiwilligen erwartet. Dazu gehört auch die Bereitschaft, sich weiterzubilden. Bei Reisebegleitern ist das besonders wichtig, denn sie tragen eine grosse Verantwortung. «Wir tun viel dafür, damit die Freiwilligen mit einem guten Gefühl in die Begleitungen gehen können», betont Heike Winkler. Freiwillige fördern und wertschätzen Die Dreescher Werkstätten bieten ihren Freiwilligen kostenlose Fortbildungskurse und reisevorbereitende Teamsitzungen an. Es gibt Formblätter mit festen Abläufen, zum Beispiel zu Pflegestandards, oder Protokolle zur Medikamentenvergabe. Auch eine positive Fehlerkultur, Vertrauen in die Fähigkeiten der Freiwilligen, Erfahrungsaustausche und feste Ansprechpartner fördern das gute Gefühl. Und noch etwas: Die Freiwilligen gehören so selbstverständlich zu den Dreescher Werkstätten wie die Festangestellten. Zu Festen und Feierlichkeiten, wie zum Beispiel zum Neujahrsempfang, werden alle eingeladen, zu Weihnachten bekommen alle ein Weihnachtsgeschenk, und wenn jemand sein Engagement beenden will, wird er würdevoll verabschiedet. Freiwilliges Engagement wird in Deutschland nicht nur von den gemeinnützigen Trägern gewürdigt, sondern auch von Stadt, Land und Staat. Die Stadt Schwerin bedankt sich jedes Jahr bei engagierten Schwerinern mit einem Ehrenamtsdiplom. Das Land Mecklenburg-Vorpommern zeichnet freiwillig Engagierte für ihre Verdienste mit einer Ehrennadel aus und vergibt ausserdem die «EhrenamtsKarte MV». Damit erhalten Freiwillige Vergünstigungen für ausgewählte Angebote. Der Staat verleiht einmal im Jahr den Deutschen Engagementpreis, nicht nur an Bürger, sondern auch an Organisationen. Man tut in Deutschland viel, um das freiwillige Engagement zu würdigen und zu fördern, zum Beispiel mit staatlichen Förderprogrammen. Heike Winkler erzählt mir, dass die Dreescher Werkstätten Fördergelder für ihre Freizeitangebote vom Land erhalten. Doch das reicht nicht. Deswegen werden die Angebote mit Teilnahmegebühren mitfinanziert. Aufwandsentschädigungen für Freiwillige gehören trotzdem selbstverständlich dazu. «Wir finden, dass Freiwillige, die ihre Zeit und Energie unseren Teilnehmern schenken, die Aufwendungen, die für ihre Engagement «Wir tun viel, damit die Freiwilligen mit einem guten Gefühl in die Begleitungen gehen können.» Heike Winkler, Teamleiterin Dreescher Werkstätten
ARTISET 07/08 I 2024 21 Im Fokus entstanden sind, zurückerhalten sollen», erklärt Heike Winkler. Die Aufwendungen reichen von der Rückvergütung eines Fahrscheins bis zu einer Tagespauschale für Reisebegleiter. Auch jenseits des Finanziellen gibt es Bestrebungen das freiwillige Engagement zu fördern. Vom Deutschen Roten Kreuz organisiert, findet jedes Jahr eine Ehrenamtsmesse in Mecklenburg-Vorpommern statt. Hier werben Träger und Organisationen für sich und ihre Einsatzbereiche. Auch Heike Winkler war für die Dreescher Werkstätten jahrelang dabei. Seit einigen Jahren ist sie Mitglied im Fachkreis «EiS – Ehrenamt in Schwerin». Darin setzt sie sich für eine starke Zusammenarbeit von Akteuren aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft ein, damit die Rahmenbedingungen für das freiwillige Engagement stetig verbessert werden können. Denn sie ist überzeugt: «Ohne freiwilliges Engagement könnten wir vieles in unserer Gesellschaft nicht leisten.» Gemeinsam essen und dabei plaudern Zurück im Kochstudio. Mittlerweile sind die Frikadellen und Rosmarinkartoffeln gar und der Tisch ist gedeckt. Neun hungrige Köche inklusive mir können es kaum erwarten das selbst zubereitete Essen zu probieren. Musa hilft beim Auffüllen der Speisen. «Wie schmeckt es euch?», fragt Regine in die Runde. «Ja, es schmeckt gut», antwortet Paul. Auch den anderen mundet es vorzüglich. Die Rosmarinkartoffeln sind goldbraun und zart, die Frikadellen fein gewürzt und der Salat knackig frisch. Miteinander essen und sich austauschen: Das ist das zweite Ziel der Kochgruppe. Diese gemeinsamen Momente tun allen gut und bieten die Chance, ins Gespräch zu kommen, über Ferienpläne zu reden oder über andere Freizeitgruppen. Regine und Katrin unterhalten sich über den Chor, bei dem beide dabei sind. Katrin als Teilnehmerin, Regine als Betreuerin. Später beim Abwaschen erzählt mir Regine, dass diese kurzzeitigen und regelmässig stattfindenden Freizeitgruppen genau das Richtige für sie sind. Aufgrund einer Erkrankung ist sie nicht erwerbstätig. Den ganzen Tag zu Hause sitzen ist nichts für sie, einen ganzen Tag als Betreuerin auf Trab sein aber auch nicht. Die Freizeitgruppen, die je zwei bis drei Stunden dauern, haben für Regine die passende Länge. So macht ihr das freiwillige Engagement Spass und bietet ihr einen angenehmen Ausgleich. Nachdem das Geschirr geputzt und der Boden gefegt ist, geht es für uns alle nach Hause. Die Teilnehmer werden gefahren. Auch das macht eine Freiwillige. Ich verabschiede mich von allen. Dann setze ich mich noch zu meiner Mutter und Musa auf eine Bank in der Abendsonne. «Jetzt hast du mal gesehen, Jenny, was wir Freiwilligen alles machen,» lächelt meine Mutter. Ich bin nach wie vor beeindruckt. Eine Teilnehmerin der Kochgruppe bei der Zubereitung von Frikadellen.
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