ARTISET Das Magazin der Dienstleister für Menschen mit Unterstützungsbedarf Ausgabe 09 I 2022 Im Fokus Politische Partizipation schafft Zugehörigkeit Was es braucht, damit die Langzeitpflege bis 2040 gesichert werden kann Eine Institution zeigt, wie sich Beschäftigung und Freizeitaktivitäten verbinden lassen Der Film «La Mif» sorgt für Diskussionen: Protagonistin Claudia Grob nimmt Stellung
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ARTISET 09 I 2022 3 Editorial «Die integrative Kraft unseres politischen Systems kann sich dann entfalten, wenn Menschen mit unterschiedlichsten Fähigkeiten und Interessen daran teilnehmen.» Elisabeth Seifert, Chefredaktorin Liebe Leserin, lieber Leser Während ich diese Zeilen schreibe, diskutiert die Schweiz im Vorfeld der Abstimmung vom 25. September landauf, landab über das Pro und Contra zu vier nationalen Vorlagen. Vor allem zwei davon sorgen für leidenschaftliche Debatten: Soll das Rentenalter für Frauen auf 65 angehoben werden? Und: Sollen bei der Nutztierhaltung künftig höhere Standards gelten? Relevante Anliegen, die jede und jeden von uns betreffen und die wir als Stimmbürgerin und Stimmbürger mitgestalten können. Wer über das Stimm- und Wahlrecht verfügt und diese Rechte auch tatsächlich wahrnimmt, gehört dazu. Die Rahmenbedingungen für unser Leben mitbestimmen zu können – das war für mich seinerzeit der wesentliche Grund als Ausländerin mit Niederlassungsbewilligung, die Schweizer Staatsbürgerschaft zu beantragen. Seither ist es für mich ein grosser Gewinn, mich am politischen Prozess zu beteiligen, mich zu informieren, mir eine Meinung zu bilden und meine Meinung in Debatten zu schärfen. Die politische Partizipation und damit das Gefühl, ein vollwertiges Glied der Gesellschaft zu sein, bleiben indes vielen Menschen verwehrt. Nicht, weil sie diese ablehnen würden, sondern weil wir sie davon ausschliessen. So haben derzeit Menschen mit bestimmten kognitiven oder psychischen Behinderungen keinen Zugang zu den politischen Rechten. Das steht in einem klaren Widerspruch zur UN-Behindertenrechtskonvention (Seite 10). Ebenfalls im Widerspruch zur UN-BRK können viele Menschen mit Behinderung nicht am politischen Prozess teilnehmen, weil ihnen schlicht die nötige Unterstützung fehlt. Darauf angewiesen sind auch viele betagte Menschen, die sich eine Teilnahme nicht mehr zutrauen oder für überflüssig halten. Die integrative Kraft unseres politischen Systems kann sich indes nur dann entfalten, wenn Menschen mit ganz unterschiedlichen Fähigkeiten und Interessen sowie in unterschiedlichen Lebenssituationen daran teilnehmen, ihre Themen lancieren und zur Diskussion stellen. Dies fördert das Verständnis und den Respekt gegenüber der jeweils anderen Position. Damit verbunden ist ein Entwicklungspotenzial für die Gesellschaft sowie jedes einzelne Individuum. Mit den Beiträgen in diesem Heft zeigen wir, was Menschen mit Unterstützungsbedarf dazu beitragen, um sich und ihren Meinungen Gehör zu verschaffen – und was die Gesellschaft unternehmen kann, um sie in ihrer politischen Partizipation zu fördern. In einer besonderen Verantwortung stehen die Dienstleister. Beispielhaft ist das von der Stiftung Eben-Hézer in Lausanne gemeinsam mit dem Quartierzentrum Chailly gegründete Bürgerforum, wo Menschen mit und ohne Behinderung über politische Vorlagen diskutieren, jüngst über die AHV-Reform (Seite 14). Spannend sind auch Forschungsarbeiten aus der Westschweiz, die zeigen, welche Bedeutung die politische Partizipation für die Lebensqualität selbst hochbetagter Menschen hat (Seite 20). Ein erster zentraler Schritt zur Förderung der politischen Partizipation ist die Förderung der Mitsprache innerhalb der Institutionen – seien das Institutionen für Menschen mit Behinderung, für Betagte oder für Kinder und Jugendliche. Titelbild: Im Lausanner Quartierzentrum Chailly diskutierten am 3. September Menschen mit und ohne Behinderung über die Reform der AHV. Foto: Hélène Tobler
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Inhalt Impressum: Redaktion: Elisabeth Seifert (esf), Chefredaktorin; Urs Tremp (ut); Claudia Weiss (cw); Anne-MarieNicole (amn); FranceSanti (fsa); JennyNerlich (jne) • Korrektorat: Beat Zaugg • Herausgeber: ARTISET • 1. Jahrgang • Adresse: ARTISET, Zieglerstrasse 53, 3007 Bern • Telefon: 031 385 33 33, E-Mail: info@artiset.ch, artiset.ch/ Magazin • Geschäfts-/Stelleninserate: Zürichsee Werbe AG, Fachmedien, Laubisrütistrasse 44, 8712 Stäfa, Telefon: 044 928 56 53, E-Mail: markus.haas@fachmedien.ch • Vorstufe und Druck: AST&FISCHER AG, Seftigenstrasse 310, 3084 Wabern, Telefon: 031 963 1111 • Abonnemente: ARTISET, Telefon: 031 385 33 33, EMail: info@artiset.ch • Jahresabonnement Fr. 125.– • Erscheinungsweise: 8×deutsch (je 4600 Ex.), 4× französisch (je 1400 Ex.) pro Jahr • WEMF/KS-Beglaubigung 2022 (nur deutsch): 3205 Ex. (davon verkauft 2989 Ex.), Nachdruck, auch auszugsweise, nur nachAbsprache mit der Redaktion und mit vollständiger Quellenangabe. ARTISET 09 I 2022 5 Im Fokus 6 SP-Politiker Cem Kirmizitoprak kämpft für seinen Platz in der Gesellschaft 10 Der Ausschluss von politischen Rechten ist in der Schweiz – noch – Realität 14 Bla-Bla Vote: In Lausanne gibt es ein integratives Bürgerforum 18 Politisches Engagement will gelernt sein 20 Teilnahme am politischen Leben trägt zur Lebensqualität von Betagten bei 24 Kinder und Jugendliche an die politische Partizipation heranführen kurz & knapp 28 Ein Jobportal für Menschen mit Handicap Aktuell 30 Der Film «La Mif» zeigt – teils überspitzt – den Alltag der Jugendhilfe 34 Vertreter von Artiset ref lektieren über den künftigen Bedarf der Langzeitpf lege 38 Caring Communities: 21 Beispiele guter Praxis 41 Digitalisierung: Wie ältere Menschen begleitet werden können 47 Beschäftigung und Freizeitaktivitäten miteinander verbinden Politische Feder 50 Christian Streit, Geschäftsführer von Senesuisse Bla-Bla Vote Lausanne Eine Fotoreportage zum Bürgerforum über die AHV-Reform. 24 30 50
6 ARTISET 09 I 2022 «Ich will Elefanten machen!» Kraftvolle Pose in der St. Galler Bahnhofshalle: CemKirmizitoprak, SP-Politiker, Initiant eines inklusiven Abstimmungskafis und kreativer Macher. Foto: cwe Im Fokus
ARTISET 09 I 2022 7 Cem Kirmizitoprak konnte gar nicht anders: Sein Weg in die Politik war vorgezeichnet. Er lächelt breit, nimmt einen Schluck Espresso und erklärt in sympathischem St. Galler Dialekt, wie das kam: «Ich bin als Kurde in der Türkei geboren, da bekommt man von klein auf mit, dass Sachen ablaufen, die nicht in Ordnung sind, und wird automatisch politisch geprägt.» Kirmizitoprak sitzt aufgrund einer zerebralen Tetraspastik im Elektrorollstuhl. Ein weiterer Grund, immer wieder für seinen Platz und seine Rechte zu kämpfen. So entwickelte sich der inzwischen 30-Jährige im Lauf der Jahre zum umtriebigen SP-Politiker. «Vor zwei Jahren fehlten mir nur 600 Stimmen für den Eintritt ins Stadtparlament», sagt er, und ergänzt selbstbewusst: «Bei der nächsten Wahl sollte es reichen.» Und zwar ohne Behindertenquote, bewahre, das wäre ihm ein Graus: «Dann weisst du ja gar nicht, ob sie dich gut finden!» Er hingegen will komplette Gleichstellung. Deshalb ist Kirmizitoprak, Leiter der Beratungsstelle Inklusion und Initiator eines inklusiven Abstimmungskafis, ganz absichtlich manchmal ein aufmüpfiger Zeitgenosse. Als die regionale Spitex neu organisiert wurde, beschwerte er sich umgehend mit einer Medienmitteilung und Facebook-Posts: Die neue Organisation funktioniere so schlecht, dass er als täglicher Spitex-Kunde sogar mehrmals vergessen worden sei, kritisierte er. Daraufhin habe ihn eine Stadträtin harsch verbal angegriffen, weil er das so öffentlich gemacht habe. Er lacht schelmisch. «Das hat mich extrem gefreut.» Gefreut? «Klar, das heisst, man fasst mich nicht mit Samthandschuhen an, sondern nimmt mich für voll.» Dafür setzt er sich ein, unermüdlich, seit Jahren. Als 17-Jähriger beschloss Cem Kirmizitoprak, Gesellschaftsprobleme konkret anzugehen, und trat der Partei der Jungsozialisten bei. Seine Themen, das liegt auf der Hand, waren seit je Behinderung und Migration, aber auch viele andere: «Ich will als Politiker etwas für die ganze Gesellschaft bewirken.» Als sich vor ein paar Jahren Jugendliche für eine Beleuchtung an der Skatebahn Kreuzbleicheweg starkmachten, übernahm er kurzerhand ihr Anliegen, lancierte eine Unterschriftensammlung und lieferte schon bald 3000 Unterschriften im Stadtparlament ab. Das half, er strahlt, inzwischen ist der Skatepark beleuchtet. Und auf die oft gestellte Frage, warum er als Rollstuhlfahrer sich ausgerechnet für dieses Jugendthema einsetze, für eine Skatebahn, die er selber nie würde nutzen können, antwortete Kirmizitoprak jeweils lakonisch: «Politik machen wir doch nicht nur für uns. Wenn jemand exkludiert wird, setze ich mich ein!» Fragen rund um Inklusion und politische Teilhabe, ergänzt er, beträfen schliesslich nicht nur Menschen mit Behinderung, sondern auch Jugendliche, Menschen mit Migrationshintergrund, Frauen und viele andere. Er nimmt einen Schluck Espresso, dann wird er fast philosophisch: «Alles hat einen Zusammenhang.» Politik heisst Einsatz für alle Deshalb setzt sich Cem Kirmizitoprak für Gleichstellung auf jeder Ebene ein, findet, nicht nur «gewählt werden können», sondern auch «abstimmen und informiert sein, ohne dass man einen Doktortitel haben muss, um die Vorlagen zu verstehen» gehöre zur Teilhabe: «Wir diskutieren nicht umsonst über das Abstimmungsalter 16.» Exklusive Veranstaltungen gibt es bei ihm nicht. Für sein Abstimmungskafi beispielsweise habe er Trick 77 angewandt und mit Easyvote zusammengespannt, jener Gruppierung, die vereinfachte Abstimmungsbroschüren für Jugendliche gestaltet: «Dank dieser Zusammenarbeit fühlen sich nicht nur Menschen mit Behinderung angesprochen, sondern auch Jugendliche und bestenfalls deren Eltern.» Ein Anlass für alle, so lautet sein Ziel, Inklusion pur. Am 1. September fand das Kafi zum dritten Mal statt, der Ablauf hat sich gut bewährt: Easyvote erklärt jeweils 20 Minuten lang die Vorlagen, danach äussern sich zwei Politikerinnen oder Politiker, je jemand von Links und Rechts. «Das ist keine SP-Veranstaltung, sondern Inklusion», stellt Kirmizitoprak klar. Finanzielle Unterstützung erhält das Kafi noch bis nächstes Jahr vom Kanton St. Gallen, danach wird er schauen, wie er es weiter finanzieren kann. Aber immerhin, er strahlt, ein Echo habe er geschafft. Die Idee dazu kam ihm an einem Netzwerktreffen des Brachenverbands Insos, bei dem Arbeitsgruppen jeweils ein inklusives Projekt für politische Teilhabe entwickeln sollten. Eine passende Gruppe für sich fand er dort nicht, sie waren ihm alle zu wenig radikal. Er schüttelt den Kopf, als er daran zurückdenkt, wie die anderen fanden, man müsse unbedingt die Institutionen auf das Thema aufmerksam machen. «Nein, die kennen doch das Thema längst!», ruft er vehement. Er hingegen wollte weit mehr: «Sie sollen es umsetzen!» Cem Kirmizitoprak ist keiner, der wartet, dass Bund, Gemeinden oder Institutionen etwas für ihn übernehmen, Der 30-jährige Cem Kirmizitoprak ist umtriebiger SP-Politiker, Leiter der Beratungsstelle Inklusion und Initiator eines inklusiven Abstimmungskafis. Inklusion, fordert er, müsse auf allen Ebenen stattfinden. Dafür kämpft er mit viel Schwung und Einfallsreichtum. Von Claudia Weiss
Über Starköche wird in denMedien ausgiebig berichtet. Kaum Beachtung finden dagegen die Gastronomen der Gemeinschaftsküchen, welche mit ebenso viel Kreativität, Know-how und Herzblut täglich Herausragendes leisten. Die Swiss SVGTrophy rückt die Leistung dieser Spitzenköche des Alltags ins Rampenlicht. Alle Berufsleute der Spital-, Heim- und Gemeinschaftsgastronomie können mit ihrer Küchenmannschaft zumWettbewerb antreten. Im Vordergrund steht das Ziel, gemeinsam etwas zu erreichen. Die Herausforderung stärkt den Teamgeist und wertet den gesamten Betrieb auf. Die Bewerbungsphase läuft Die Swiss SVG-Trophy verschafft den Spitzenleistungen abseits des Rampenlichts die verdiente Beachtung. Ein Team besteht jeweils aus drei Fachpersonen (Küchenchefs, Köche, Pâtissiers und Lernende im dritten Lernjahr). Die Anmeldung erfolgt mit einem Bewerbungsdossier, in dem ein Dreigangmenü für 60 Personen detailliert dokumentiert und präsentiert wird. Die Jury des Schweizer Kochverbands unter der Leitung von Sascha Heimann beurteilt die eingereichten Dossiers. Die sechs auserwählten Teams, die es ins Finale schaffen, bereiten das Gewinnermenü im Februar oder März 2023 in ihrem Betrieb zu. Die Jury des Schweizer Kochverbands beurteilt die Leistungen vor Ort nach internationalen Richtlinien. Das Siegerteam gilt 2023 als bestes Schweizer Team in der Spital-, Heim- und Gemeinschaftsgastronomie. Anmeldeschluss für die Swiss SVG-Trophy ist der 21. November 2022. Weitere Informationen gibts online unter svg-trophy.ch Swiss SVG-Trophy: Aufruf an alle Spitzenköche des Alltags PUBLIREPORTAGE Die Swiss SVG-Trophy sucht Profis, die in den Grossküchen von Spitälern, Heimen und Personalrestaurants kochen. Zu gewinnen gibt es einen Aufenthalt bei Starkoch Tobias Funke. Text: HGZ Fokussieren Sie auf die Potenziale älterer Menschen. Entwickeln Sie gemeinsam mit Ihren Studienkolleg*innen gerontologische Impulse für Ihr Praxisfeld. 21 Studientage | 15 ECTS-Credits Januar bis Oktober 2023 Ihre Weiterbildung zum Thema Alter –kompetent, engagiert, zukunftsweisend: bfh.ch/alter/weiterbildung CAS Gerontologie als praxisorientierte Wissenschaft ‣ Institut Alter Nächste Infoveranstaltung: 17. November 2022 – Online HF Diplom 3-jährige Vollzeitausbildung Dipl. Aktivierungsfachfrau HF Dipl. Aktivierungsfachmann HF Mehr zum Aufnahmeverfahren unter medi.ch Weiterbildungsangebote für Aktivierungsfachpersonen HF (Ermässigung für SVAT-Mitglieder) Zertifikat FAB Fachperson in aktivierender Betreuung Fachverantwortliche/r in Alltagsgestaltung und Aktivierung Mehr zu den Weiterbildungsangeboten unter medi.ch medi | Zentrum für medizinische Bildung | Aktivierung HF Max-Daetwyler-Platz 2 | 3014 Bern | Tel. 031 537 31 10 | at@medi.ch HÖHERE FACHSCHULE FÜR AKTIVIERUNG AM PULS DER PRAXIS > > AKTIVIERUNG
ARTISET 09 I 2022 9 sondern einer, der anpackt, «einer, der nicht aufs Maul hockt». Er setzt sich auf dem Rollstuhl zurecht und sagt klar: «Ich bin Cem, SP-Politiker, Kämpfer für Gleichstellung und Macher.» Ein St.Galler Stadtparlamentarier hatte ihn einst scherzhaft als «Cems Bond, Agent für Inklusion» bezeichnet, und das Wortspiel gefiel ihm so gut, dass er es für seinen Facebook-Account übernommen hat: Er will als Person wahrgenommen und als Politiker ernstgenommen werden. Sein Blick wird scharf, als er sagt: «Behindert bin ich nur, wenn ich eine Treppe vor mir habe oder kein rollstuhlgängiges WC finde.» Politik heisst auch gerechte Bildung Schon als Jugendlicher eckte er öfters an mit seinen klaren Ansichten und dezidierten Aussagen. Er grinst und sagt fast ein bisschen stolz: «Ich war ein unbequemer Schüler.» Mit 18 Jahren schliesslich hätte er um ein Haar den Kanton Appenzell Ausserrhoden angezeigt: In der Sonderschule für Menschen mit Behinderung habe er längst nicht die Förderung erhalten, die ihmmit seinen intellektuellen Fähigkeiten zugestanden habe. «Dadurch habe ich einen grossen Nachteil erlitten», fand er und forderte Entschädigung. Wenn er über solche Hemmnisse spricht, über «sozialen Gugus» und falsch verstandene Samthandschuhe, rutscht ihm auch schon mal ein Kraftausdruck heraus. «Zum Kotzen», sagt er dann ungeniert. Er, der als Siebenjähriger mit seinen Eltern von Izmir in die Schweiz gekommen war, sei jeweils schon vor dem Unterrichtsbeginn in der Schule gesessen, um schnell Deutsch zu lernen, und die Lehrer hätten ihm attestiert, dass er ein kluger Kopf sei. Die entsprechende Förderung hingegen vermisste er bis über die Schule hinaus. Ob er in der Regelschule eine glücklichere Schulzeit gehabt hätte? «Da sage ich deutsch und deutlich ja!» Und: «Ich habe ja keinen anderen Nachteil, als dass ich nicht laufen kann.» Alles, was er sich seither in unzähligenWeiterbildungskursen selber an Wissen zusammentragen musste, hätte er seiner Überzeugung nach mit entsprechender Förderung viel früher und einfacher erreichen können. Deshalb liess er nicht locker, bis der Kanton Appenzell 4000 Franken «für Grammatikverbesserung» verfügte. Nach der Schulzeit absolvierte Kirmizitoprak eine Ausbildung zum Industriepraktiker. Eine Notlösung, die ihm wenig Freude bereitete, er hätte sich eine KV-Ausbildung erträumt. Schon bald fiel er durch seine Forderungen und politischen Äusserungen auf und wurde von der Institutionsleitung verwarnt. Er reagierte empört und bezeichnete das als reines Mobbing. «Klar mag es ungewöhnlich sein, dass ein 18-Jähriger so klare politische Meinungen äussert», sagt er. Dennoch sei es gut gewesen, dass er bald darauf ins St. Galler Imbodehuus ziehen konnte: Dort erfuhr er endlich Verständnis und erhielt die Unterstützung, die er lange vermisst hatte, ja, dort ermunterten sie ihn sogar, 2012 seinen ersten politischen Anlass vor der Abstimmung über die Kürzung der Ergänzungsleistungen durchzuführen. Er schaffte es, den Regierungsrat ins Haus zu holen, und startete damit seine politische Karriere: «Es machte förmlich Klick!», erinnert er sich, und von da an war er nicht mehr zu bremsen. Politik benötigt auch Kreativität Nach vier vergeblichen Arbeitseingliederungsversuchen meinte er: «Warte ich zeige euch jetzt, wie Inklusion geht!» Er organisierte sich eine Weiterbildung in lösungsorientierter Beratung und Konfliktmanagement, zog in eine eigene Wohnung und richtete im Wohnzimmer seine neue Beratungsstelle Inklusion ein: Dort unterstützen er und seine Mitarbeiterin, die er selber bezahlt, andere, die sich von Institutionen, Ämtern oder Mitmenschen ungleich behandelt fühlen oder Schwierigkeiten haben, ihre Bedürfnisse durchzusetzen. Als Geschäftsform hat er absichtlich die Einzelfirma gewählt; ein Verein, er schüttelt den Kopf, wäre ihm zu schwerfällig gewesen: «Meine Firma ist klein, aber meine Pläne sind gross.» Tatsächlich sprudelt er fast über vor Ideen: Gegenwärtig steht er in Milo Raus Inszenierung von «Wilhelm Tell» im Zürcher Schauspielhaus auf der Bühne, verhilft Ratsuchenden zu Gleichstellung und leitet das Abstimmungskafi oder Anlässe zuThemen wie Behinderung und Sexualität. In zwei Jahren will er ein eigenes Theaterstück zu diesem Thema produzieren und damit einTabu auf die Bühne bringen, und für nächstes Jahr plant er ein Podium zum Thema «Strukturelle Gewalt in Institutionen»: Cem Kirmizitoprak ist flink im Denken und fantasievoll im Umsetzen. Und er besitzt eine gute Portion Selbstbewusstsein. Nach dem Gespräch dreht er im Elektrorollstuhl eine elegante kleine Runde durch die Bahnhofhalle und posiert für das Foto. Sein höchstes Ziel ist, dass es seine Beratungsstelle eines Tages gar nicht mehr braucht, weil Inklusion etabliert ist. Bis dahin kämpft er mit vollem Einsatz. Übermütig ruft er: «Genau, ich mache keine kleinen Projekte – ich will Elefanten machen!» Infos ➞ www.beratungsstelle-inklusion.ch Gemeinsamer Marsch: «Wir lassen uns nicht von euch verwalten!» 29. November 2022, 14 Uhr. Besammlung: St. Leonardspärkli St.Gallen. Im Fokus
10 ARTISET 09 I 2022 Eine unbekannte Zahl von Menschen mit Behinderung ist in der Schweiz von ihren politischen Rechten ausgeschlossen. Eine wegweisende Abstimmung im Kanton Genf führt jetzt zu einem Umdenken. Beseitigt werden müssen nicht nur juristische Hindernisse – sondern auch die faktische Benachteiligung. Von Elisabeth Seifert Grundrechte gelten für alle – ausnahmslos Menschen, die «wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt sind», haben keine politischen Rechte. Das steht in Artikel 136 der Bundesverfassung. In der Wortwahl angemessener, in der Sache aber nicht minder deutlich, konkretisiert das Bundesgesetz über die politischen Rechte den Kreis jener Menschen, die vom Stimm- undWahlrecht ausgeschlossen sind: Es sind Menschen, die «wegen dauernder Urteilsunfähigkeit unter umfassender Beistandschaft stehen oder durch eine vorsorgebauftragte Person vertreten werden». Ein solcher Ausschluss aus den politischen Rechten kontrastiert klar mit Artikel 29 der UN-Behindertenrechtskonvention: «Die Vertragsstaaten garantieren Menschen mit Behinderungen die politischen Rechte sowie die Möglichkeit, diese gleichberechtigt mit anderen zu geniessen.» Zu diesem Zweck verpflichten sich die Vertragsstaaten, zu denen seit bald zehn Jahren auch die Schweiz gehört, «sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen wirksam und umfassend am politischen und öffentlichen Leben teilhaben können…was auch das Recht und die Möglichkeit einschliesst, zu wählen und gewählt zu werden». Gemäss diesen Forderungen der UN-BRK dürfen Menschen mit Behinderung zum einen keine rechtlichen Hindernisse erfahren, ihr aktives und passives Stimm- und Wahlrecht wahrzunehmen. Und zum anderen dürfen sie bei der Ausübung ihrer politischen Rechte nicht benachteiligt sein. Wie viele ausgeschlossen sind, ist unklar Betroffen vom effektiven Ausschluss sind insbesondere Menschen mit psychischen oder kognitiven Behinderungen, dazu gehören auch Personen mit Demenz. Aufgrund fehlender Statistiken ist indes unklar, wie viele dies tatsächlich sind. Eine Vorstellung vermittelt die Statistik der Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz: Im Jahr 2020 hatten schweizweit 14 050 erwachsene Personen eine umfassende Beistandschaft und waren damit in der Regel von ihren politischen Rechten ausgeschlossen – auf nationaler, kantonaler und kommunaler Ebene. In der Praxis dürften es etwas weniger sein, wie Cyril Mizrahi gegenüber dem Magazin Artiset ausführt. Er ist Jurist bei Inclusion Handicap, dem Dachverband der Behindertenorganisationen, sowie Teilhaber der Anwaltskanzlei Droits égaux avocats et avocates in Carouge GE. In einigen Kantonen der Romandie sowie im Tessin, so Cyril Mizrahi, gelten nicht alle Personen mit einer umfassenden Beistandschaft als dauerhaft urteilsunfähig im Sinn des Bundesgesetzes – sie dürfen somit abstimmen. Der Wohnkanton kann also entscheidend dafür sein, ob jemand seine politischen Rechte wahrnehmen kann oder eben nicht. Dies auch deshalb, weil die Kantone unterschiedliche Kriterien dafür kennen, wann jemand unter eine umfassende Beistandschaft gestellt wird. Die meisten umfassenden Beistandschaften werden in der Romandie sowie im Tessin errichtet. Die Kantone Genf und Waadt verantworten rund ein Drittel der umfassenden Beistandschaften schweizweit. Gemäss Cyril Mizrahi werden damit womöglich Praktiken weitergeführt, die nicht mehr gerechtfertigt sind. Für Jan Habegger, stellvertretender GeschäftsIm Fokus
ARTISET 09 I 2022 11 führer von Insieme Schweiz, spiegeln sich hier kulturelle Unterschiede: Der Schutz- und Fürsorgegedanke sei in der Westschweiz stärker verankert als in der Deutschschweiz. Verfassungsänderung in Genf – weitere Kantone folgen «Auch wenn eine verhältnismässig kleine Zahl ausgeschlossen wird, es sind immer noch zu viele», sagt Cyril Mizrahi. Der Ausschluss beruhe auf der Vorstellung, dass Menschen, die für die Bewältigung des Alltags auf den Schutz einer umfassenden Beistandschaft angewiesen sind, zur politischen Meinungsbildung nicht fähig seien. Dies treffe aber nicht zu: «Wie in der restlichen Bevölkerung gibt es auch in dieser Gruppe Menschen, die politisch aktiv sein wollen, und andere, die sich nicht in der Lage sehen oder kein Bedürfnis haben, sich mit politischenThemen zu beschäftigen.» Es sei schlicht nicht akzeptabel, Menschen von diesem Recht auszuschliessen, hält der Jurist ganz im Sinn der UN-BRK fest. Damit werde ihnen gleichsam die Qualität als Staatsbürgerin oder Staatsbürger abgesprochen. In einer Demokratie gehören die politischen Rechte zu den Grundrechten, unterstreicht auch Jan Habegger von Insieme Schweiz. «Diese müssen allen gewährt werden, egal ob jemand diese dann auch tatsächlich wahrnimmt oder nicht.» Nicht gelten lässt Cyril Mizrahi das immer wieder gehörte Argument, dass Menschen aufgrund der Schwere ihrer Behinderung leicht instrumentalisiert oder gar Opfer eines Betrugs werden können. «Es gibt viele Menschen, die bei ihren Entscheidungen auf ihr Umfeld hören.» Und: «Ich denke, dass man gerade bei Menschen mit Behinderung zurückhaltend damit ist, diese zu beeinflussen.» Es bestehe immer ein Risiko, dass Menschen versuchen, andere von ihrer Meinung zu überzeugen oder zu manipulieren, sagt Jérôme Laederach, Präsident des Branchenverbands Insos im Kanton Genf. Sollte es zu einem Betrug kommen, müsse man diesen gerichtlich ahnden. «Entzieht man aber Menschen im Hinblick auf einen möglichen Betrug ihre politischen Rechte, bestraft man die potenziellen Opfer und nicht die Täter», so Jérôme Laederach. Im Kanton Genf hat das langjährige Engagement von Politikerinnen und Politikern, darunter auch von Cyril Mizrahi, der für die SP im kantonalen Parlament sitzt, dazu geführt, dass die Genferinnen und Genfer Ende November 2020 mit grosser Mehrheit einer Anpassung der kantonalen Verfassung zugestimmt haben. Neu dürfen in Genf auf kantonaler und kommunaler Ebene alle Menschen mit Behinderung ohne jede Einschränkung wählen und abstimmen. Dem Beispiel Genf folgend, wurden in mehreren Kantonen, so in den beiden Basel, in Neuenburg und im Kanton Waadt, parlamentarische Vorstösse angenommen, die die politischen Rechte allen Menschen mit Behinderung gewähren wollen. In weiteren Kantonen wird das Thema diskutiert. Auf Bundesebene hat der Ständerat im März 2021 ein entsprechendes Postulat von Marina Carobbio (SP, Tessin) angenommen. Als Folge davon erarbeitet der Bundesrat derzeit einen Bericht. Die Kantone und der Bund machen sich damit auf einen Weg, den zahlreiche andere Länder schon länger beschritten haben. Unter anderem können in unseren Nachbarländern Frankreich, Österreich und Italien alle Menschen mit Behinderung ihre politischen Rechte wahrnehmen. Fehlende Unterstützung – auch wegen Vorurteilen Selbst wenn niemand mehr von der Wahrnehmung der politischen Rechte ausgeschlossen sein wird, bedeutet dies nicht, dass alle Personen ihre politischen Rechte auch tatsächlich wahrnehmen respektive wahrnehmen können. Ein grosser Teil der Erwachsenen mit Behinderung hat heute bereits zumindest theoretisch die Möglichkeit dazu – in der Praxis bleiben dennoch viele davon ausgeschlossen. Dies trifft insbesondere auf Erwachsene mit einer kognitiven Beeinträchtigung zu, eine Gruppe, die Jan Habegger von Insieme Schweiz auf insgesamt rund 60000 Personen schätzt. Ein Fünftel bis höchstens ein Viertel derer, die tatsächlich abstimmen dürfen, machen das auch, meint Habegger. Und damit doch deutlich weniger als die stimmberechtigte Bevölkerung im Allgemeinen. Ein wichtiger Grund für diese Abstinenz sei die Komplexität des Wahl- und Abstimmungsmaterials, sind sich die Vertreter der Menschen mit Behinderung einig. «Junge Stimmberechtigte haben oft schon grosse Probleme, die Abstimmungsunterlagen zu verstehen, noch schwieriger ist das für Menschen mit einer geistigen Behinderung», stellt etwa Jérôme Laederach von Insos Genf fest. Diese Komplexität der Unterlagen führe dann dazu, wie Jan Habegger beobachtet, dass Eltern und auch Institutionen sich mit der Aufgabe allein gelassen fühlen, die Interessierten in der politischen Entscheidungsfindung zu unterstützen. Aus diesen Gründen dürfte so manches Abstimmungskuvert ungeöffnet bleiben, obwohl sich die entsprechenden Personen – mit der nötigen Unterstützung – womöglich durchaus eine Meinung hätten bilden können «Mit einem Ausschluss wird diesen Menschen die Qualität als Staatsbürgerin oder Staatsbürger abgesprochen.» Cyril Mizrahi, Jurist in Genf, auch für Inclusion Handicap
Ich gehe meinen Weg mit einer Weiterbildung. Natürlich bei ARTISET. • Führung /Management • Sozial- und Kindheitspädagogik • Pflege und Betreuung • Gastronomie /Hauswirtschaft • Selbst- und Sozialkompetenz Fachkurse und Lehrgänge ARTISET Bildung Weiterbildung Abendweg 1, Postfach, 6000 Luzern 6 +41 41 419 01 72 wb@artisetbildung.ch, artisetbildung.ch/weiterbildung Textilservice für Bewohnerwäsche Die Kleidung ist Teil der individuellen Persönlichkeit eines Menschen und verdient daher individuelle, sorgfältige Pflege. Das gilt auch für die Kleidung der Seniorinnen und Senioren in Alters- und Pflegeheimen. Mit dem Textilservice für Bewohnerwäsche leistet bardusch genau diese Individualität in der Aufbereitung und entlastet damit die Institutionen. Die Blusen, Wollpullover, Hemden, Hosen und Kleider in verschiedenen Stoffqualitäten verlangen viel Knowhow in der Aufbereitung, damit sich die Bewohnerinnen und Bewohner darin wohl fühlen. Mit dem Textilservice für Bewohnerwäsche nimmt bardusch den Alters und Pflegeheimen die aufwendige Pflege und Feinlogistik der Privatwäsche ihrer Bewohnerinnen und Bewohner ab. Wäscheservice und Logistik: einfach, zuverlässig, effizient Bevor der Wäscheservice für die Bewohnerwäsche startet, kennzeichnet bardusch jedes Kleidungsstück mit einem permanenten Matrixcode. Darauf sind alle wichtigen Daten des Besitzers resp. der Besitzerin gespeichert. Nach demTragen geben die Bewohnerinnen und Bewohner die Kleidung bequem in einen individuell gekennzeichnetenWäschesack und bardusch holt diesen in einem festgelegten Rhythmus ab. Die Bewohnerwäsche wird gemäss Pflegekennzeichnung und Farbe sortiert, gewaschen und getrocknet. Die Auslieferung der schrankfertig aufbereiteten Kleidung erfolgt wieder imbeschriftetenWäschesack. Vorteile mit demWäscheservice von bardusch Mit bardusch haben die Institutionen einen Partner, der die Kleidung mit grösster Sorgfalt pflegt und sie vollständig wieder anliefert. Die Verantwortlichen der Alters und Pflegeheime profitieren von einemWäschedienstleister, der zuverlässig, wirtschaftlich und mit höchstem Qualitätsanspruch arbeitet: • Institutionen sparen Investitionen in die WäschereiInfrastruktur sowie in Personal, Betriebs und Unterhaltskosten. • Die desinfizierenden Waschverfahren unterstützen die Infektionsprävention in den Institutionen. Das Hygienemanagementsystem bei bardusch ist nach EN 14065 (RABC Risikoanalyse und Kontrollsystem Biokontamination) zertifiziert. Die mikrobiologische Qualität der Wäsche wird regelmässig kontrolliert und von unabhängigen Labors bestätigt. Und nicht zuletzt profitieren die Kunden von einem Partner, der wirtschaftlich denkt und der Nachhaltigkeit verpflichtet ist. Dazu gehören u. a. eine energieeffiziente Wasch und Trockentechnik, eine emissionsoptimierte Fahrzeugflotte und der Einsatz umweltfreundlicher Waschmittel. Die verwendeten «Green Line®»Produkte sind mit dem EU Ecolabel zertifiziert, dem offiziellen und europaweit anerkannten Gütesiegel für höchste Umweltfreundlichkeit. Die Waschmittel sind dermatologisch getestet, besser für die Umwelt und haben die gleiche Wirksamkeit wie konventionelle Produkte. Rund um gut versorgt Mit dem Textilservice für Bewohnerwäsche kümmert sich bardusch um alles rund um die Wäsche im Alters und Pflegeheim. Eine persönliche Ansprechperson steht den Institutionen jederzeit beratend zur Seite. PUBLIREPORTAGE bardusch AG Flughafenstrasse 213 | CH4056 Basel Tel. +41 61 385 12 12 | info@bardusch.ch
ARTISET 09 I 2022 13 respektive bilden wollen. Die fehlende Unterstützung sei zuweilen auch auf Vorurteile zurückzuführen, stellt Jan Habegger fest. So entscheide das Umfeld oft vorschnell, dass doch kein politisches Interesse vorhanden sei, weil die Themen von der Lebenswelt der Menschen mit Behinderung viel zu weit weg seien. Solche Vorurteile seien auch im Vorfeld der Volksabstimmung in Genf ein Thema gewesen, erinnert sich Marina Vaucher, Verbandsverantwortliche von Insos Genf. Selbst einige Fachpersonen hätten sich kritisch zur Vorlage geäussert, weil die Teilnahme von Menschen gerade mit stärkeren kognitiven Behinderungen doch wenig Sinn mache und zu kompliziert sei. Eine Sichtweise, die Marina Vaucher und Jérôme Laederach explizit nicht teilen. Abstimmungscafé als Orientierungshilfe Damit Menschen mit Behinderung sich gemäss der Forderung der UNBRK «gleichberechtigt mit anderen wirksam und umfassend» am politischen Prozess beteiligen können, benötigen sie Unterstützung. Die mittlerweile in etlichen Kantonen und auf Bundesebene laufenden Bemühungen, allen Personen mit Behinderung die politischen Rechte zu gewähren, dürften hier zu vermehrten Anstrengungen führen. Das zeigt das Beispiel Genf: Die Staatskanzlei hat eine Broschüre in Leichter Sprache erarbeitet, die Interessierten erklärt, wie sie wählen können. Ergänzend zur Broschüre gibt es auch ein Erklärvideo. Nicht als ihre Aufgabe erachtet die Genfer Staatskanzlei indes die einfache Aufbereitung des Abstimmungsmaterials. Der Grund: Nicht ganz korrekte Informationen im offiziellen Abstimmungsbüchlein können dazu führen, dass eine Abstimmung für ungültig erklärt wird. In die Bresche springen Institutionen für Menschen mit Behinderung. Jérôme Laederach: «Es gibt interinstitutionelle Gruppen, die das Abstimmungsmaterial in eine leicht lesbare und verständliche Sprache übersetzen.» Darüber hinaus gebe es, ergänzt Marina Vaucher, Bemühungen, Abstimmungscafés zu organisieren, um eine Diskussion über die Inhalte zu ermöglichen. Vorbild der Genfer ist das «Bla-Bla-Vote» der Stiftung Eben- Hézer in Lausanne (siehe Seite 14). Solche Diskussions- und Austauschgruppen hält Jan Habegger von Insieme Schweiz für zentral: «Auf diese Weise werden die Interessierten befähigt, sich einen Überblick zu verschaffen.» Auch in der Deutschschweiz gebe es einige Institutionen für Menschen mit Behinderung, welche die politische Bildung ihrer Mitarbeitenden oder Bewohnenden fördern. Dabei handelt es sich vor allem um Institutionen, in denen die Mitsprache, etwa imRahmen von Selbstvertretungsgruppen, generell praktiziert wird. Noch kaum einThema sei die politische Bildung, so Habegger, in den Sonderschulen und der beruflichen Grundbildung für Menschen mit Behinderung. Bund und Kantone stehen – noch – am Anfang Die Behörden auf der Ebene der Kantone und des Bundes machen generell noch zu wenig, so Habegger. Ähnlich wie der Kanton Genf haben die Kantone Aargau und Graubünden Wahlanleitungen erarbeitet. Gleiches gilt für einzelne Städte, so etwa Uster und Wallisellen im Kanton Zürich. Auf Bundesebene hat Insieme gemeinsam mit der Organisation Easy Vote, welche die politische Beteiligung von jungen Erwachsenen fördert, im Vorfeld der eidgenössischen Wahlen von 2019 eine Wahlhilfe in Leichter Sprache erarbeitet. Diese wurde zur Hälfte vom Bund mitfinanziert. Auf Bundesebene entwickelt derzeit die Bundeskanzlei in Zusammenarbeit mit den Sehbehinderten- und Blindenorganisationen Abstimmungsschablonen. Ein Pilotversuch mit Abstimmungserläuterungen in Leichter Sprache hingegen ist vor zwei Jahren abgelehnt worden. Die Argumentation ist ähnlich wie jene der Genfer Staatskanzlei: Eine exakte Übersetzung würde zu einem viel zu langen Text führen. Und mit einer Reduktion der Information laufe man Gefahr, eine Wertung vorzunehmen. Eine Argumentation, die Jan Habegger und Cyril Mizrahi im Grundsatz nachvollziehen können. Beide sehen indes eine Möglichkeit darin, dass der Staat diese Übersetzungsarbeit an eine Organisation auslagert, diese dann aber auch dafür bezahlt. Bei der Erarbeitung des Abstimmungsmaterials müsse in erster Linie der Staat die Verantwortung übernehmen. «Das Umfeld entscheidet oft vorschnell, dass sich eine Person nicht für politische Belange interessiert – in der Annahme, dass die Themen von deren Lebenswelt zu weit weg seien.» Jan Habegger, stellvertretender Geschäftsführer von Insieme Schweiz Im Fokus
14 ARTISET 09 I 2022 Bla-Bla-Vote: Ein integratives Bürgerforum An der Abstimmungsveranstaltung zur AHV-Reform im Lausanner Quartierzentrum Chailly kamen Menschen mit und ohne Behinderung miteinander in Kontakt und tauschten sich aus. Bereits zum siebten Mal seit 2016 fand hier eine solche Veranstaltung im Vorfeld einer eidgenössischen Abstimmung statt. Fotos: Hélène Tobler Im Fokus
ARTISET 09 I 2022 15 Die Geschichte beginnt in einemWohnheim der Institution Eben-Hézer in Lausanne, wo Omar Odermatt als Nachtwächter arbeitet. Bei einer Tasse Tee erklärt der Politikbegeisterte den Bewohnerinnen und Bewohnern die Abstimmungsthemen. Der Koordinator von Bla-Bla Vote erinnert sich: «Da ich Politikwissenschaften studiert hatte, wurde ich oft zu Abstimmungsthemen befragt.» In Verbindung mit der Annahme der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-. BRK) durch die Schweiz wurde dann 2015 innerhalb der Stiftung Eben-Hézer die Bewegung «Tous Citoyens!» ins Leben gerufen. Etwas später fand eine Umfrage zu den politischen Rechten und zur Mitsprache von Menschen mit Behinderung statt. Diese zeigte Lücken auf. Zudem wurde Bruno Wägli, stellvertretender Direktor von Eben-Hézer Lausanne, von zahlreichen Betreuenden darauf angesprochen, was mit den an die Einrichtung geschickten Stimmcouverts geschehen soll. «Viele landeten im Papierkorb», erklärt Bruno Wägli. «Da erfuhr ich von den Gesprächen, die Omar Odermatt mit den Bewohnerinnen und Bewohnern führte.» Um die ermittelten Schwachstellen zu beheben, wandte sich der stellvertretende Direktor an Omar Odermatt und bat ihn, sein innovatives Konzept auch in der Stiftung Eben-Hézer anzuwenden. Eine gewinnbringende Partnerschaft 2015 erfolgt dann der Startschuss für das Projekt. Doch damit die Idee wirklich Gestalt annehmen konnte, nahm die Lausanner Institution Kontakt mit dem Quartierzentrum Chailly auf. «Eben-Hézer ist ein integraler Bestandteil des Quartiers», betont Omar Odermatt. «Die Bewohnerinnen und Bewohner der Institution werden daher als Quartierbewohnerinnen und -bewohner betrachtet, was sehr wichtig ist.» Diese Kontaktnahme kam genau zum richtigen Zeitpunkt. So verfügte das Quartierzentrum Chailly noch über kein Projekt zur Förderung der politischen Partizipation. «Ein Quartierzentrum ist ein Begegnungsort, der Menschen ermöglicht, soziale Bindungen aufzubauen und Ideen zu entwickeln», so Nadège Marwood, Koordinatorin von Bla-Bla Vote. «Die Förderung der Teilnahme am staatsbürgerlichen und gemeinschaftlichen Leben ist daher Teil unserer Aufgaben.» Das erste Bla-Bla-Vote-Treffen fand 2016 statt. Am 3. September wurde imVorfeld der eidgenössischen Abstimmung vom 25. September bereits die siebte Veranstaltung durchgeführt. Die Projektmitglieder arbeiten an der Entwicklung eines Konzepts und einer Methodik, damit das Instrument auch auf andere Einrichtungen übertragen werden kann, die ein ähnliches Bürgerforum einrichten möchten. Bla-Bla Vote steht unabhängig von ihrem Stimmrecht allen Menschen offen. «Ob Ausländerinnen und Ausländer, erwachsene Personen mit und ohne Behinderung, Kinder und Jugendliche – Bla-Bla Vote ist für alle ein Gewinn», so Nadège Marwood. Denn selbst für viele Stimmbürgerinnen und Bla-Bla Vote ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit zwischen der Stiftung Eben-Hézer in Lausanne und dem Quartierzentrum Chailly. Ziel dieses Bürgerforums ist es, den Bewohnerinnen und Bewohnern des Lausanner Quartiers Chailly die Möglichkeit zu bieten, sich eine Meinung zu eidgenössischen Abstimmungsvorlagen zu bilden. Ein Gespräch mit den beiden Forumskoordinatoren und einem Direktionsmitglied von Eben-Hézer Lausanne. Von Anne Vallelian BLA-BLA-VOTE-TREFFEN ZUR AHV-REFORM Es sind rund zwanzig Personen, Einwohnerinnen und Einwohner des Lausanner Quartiers Chailly sowie Bewohnerinnen und Bewohner der Stiftung Eben-Hézer, die amSamstag, dem3. September, den Weg zumMaison de quartier de Chailly gefunden haben, um am Bla-Bla-Vote-Treffen teilzunehmen. Auf dem Programm steht die Reform der AHV, eine der nationalen Abstimmungsvorlagen vom 25. September. Für eine kontroverse Diskussion über die Vorlage haben Nadège Marwood und Omar Odermatt, die das Bürgerforum koordinieren, Vertretende des Ja- und des Nein-Lagers eingeladen: Das Ja-Lager vertraten Faustine Tsala, Präsidentin der jungen Waadtländer Mitte-Partei, sowie Emmylou Maillard, Präsidentin der jungen SVP des Kantons Waadt. Gegen die Reform argumentierten Claire Jobin und Danielle Axelroud, Mitglieder des Waadtländer Frauenstreiks. An der Veranstaltung anwesend war auch Yvette Jaggi, «Grande Dame» der Waadtländer SP. Bei Bedarf formulierte Omar Odermatt die Fragen und Voten der Anwesenden in Leichter Sprache. Auf dem Webradio von Eben-Hézer steht allen Interessierten ein Podcast der Veranstaltung zur Verfügung. ➞ www.radio.eben-hezer.ch
16 ARTISET 09 I 2022 Stimmbürger ohne Behinderung sind die Abstimmungsunterlagen angesichts der verwendeten Fachbegriffe bisweilen schwer verständlich. «Bla-Bla Vote ist so in der Lage, möglichst vielen Menschen zu helfen.» Vorbereitungs-Workshops Vor jedem Bla-Bla-Vote-Treffen organisieren die beiden Koordinatoren ein Vorbereitungsgespräch mit den Heimbewohnenden. «Dieser Schritt ist wichtig. Ziel ist es, die Bewohnerinnen und Bewohner zu begleiten, damit sie unter optimalen Bedingungen und Voraussetzungen am Bla-BlaVote teilnehmen können», betonen Omar Odermatt und Nadège Marwood. Gemeinsam wählen sie nach verschiedenen Kriterien eine Abstimmungsvorlage aus. «Wir versuchen jeweils, einThema herauszugreifen, das für die interessierten Personen sowohl relevant als auch möglichst zugänglich ist. Und wir wählen kontroverse Themen aus. Je mehr die Ansichten auseinandergehen, desto einfacher ist es, sich eine Meinung zu bilden.» Während dieser Vorbereitungsveranstaltung stellen die beiden Koordinatoren den Bewohnenden auch die zur Debatte eingeladenen Rednerinnen und Redner vor. Um ihnen die gewählten Abstimmungsvorlage zu erläutern, verwendet das Koordinatorenduo eine leicht lesbare und verständliche Sprache. «Wir greifen auch gerne auf YouTube-Videos zurück, in denen die Vorlage vorgestellt wird, oder spielen die Filme in Zeitlupe ab, um das Verständnis zu erleichtern.» Am Ende des Workshops formulieren alle gemeinsam Fragen, die anlässlich der Debatte an die eingeladenen Personen gerichtet werden sollen. «Diese Phase ist entscheidend», fügt BrunoWägli an. «Beim ersten Bla-Bla-Vote 2016 hatten die Bewohnerinnen und Bewohner keinen Vorbereitungs-Workshop besucht und hinkten den übrigen Quartierbewohnerinnen und -bewohnern bezüglichWissensstand hinterher.» Für eine optimale Teilnahme braucht es daher im Vorfeld des Anlasses Unterstützung. «Die Bewohnerinnen und Bewohner sehen sich nicht unbedingt Nachrichten im Fernsehen an und hören auch kein Radio. Bla-Bla Vote ist in seiner Funktion als Bürgerforum ein effizientes Kommunikationsmittel, das Zugang zu aktuellen Informationen verschafft und ein besseres Verständnis politischer Vorgänge vermittelt.» Im Schnitt nehmen rund zehn Personen an den Vorbereitungs-Workshops teil und meistens sind es die gleichen. «Sie fühlen sich in der Gemeinschaft wahrgenommen und werden in erster Linie als Einwohnerinnen und Einwohner von Chailly angesehen. Das ist sehr wertvoll», erklären die beiden Koordinatoren begeistert. Die Sitzung ist auch eine gute Gelegenheit zur Nachbesprechung der letzten Bla-Bla-Vote-Ausgabe. «Es ist von zentraler Bedeutung, ihre Eindrücke zu sammeln, um die folgenden Bla-Bla-VoteTreffen zu verbessern.» Politikerinnen und Politiker machen mit Am Tag der Debatte im Quartierzentrum von Chailly geht es vor allem darum, dass das Publikum den eingeladenen Personen Fragen stellt. «Unsere Aufgabe besteht darin, die Fragen des Publikums und die Antworten der Gäste zu begleiten, zu moderieren und gegebenenfalls neu zu formulieren oder die Heimbewohnerinnen und Heimbewohner beim Lesen ihrer Notizen zu unterstützen.» Von den Projektmitgliedern wurden dafür entsprechende Rahmenbedingungen erarbeitet. «Wir haben eine Bla-Bla-Charta eingeführt, die sich für die Achtung der Meinungsvielfalt und das gegenseitige Wohlwollen einsetzt.» EBEN-HÉZER LAUSANNE Eben-Hézer Lausanne ist Teil der Stiftung Eben-Hézer, die 1899 von Schwester Julie Hofmann gegründet wurde. Die Institution hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Wohlbefinden und die Entwicklung der aufgenommenen Menschen zu fördern. «Neben unserer Betreuungsarbeit werben wir für einen positiven Blick auf Menschen mit Behinderungen und setzen unsere Kompetenzen ein, um ihnen eine Mitwirkung und den Einbezug in die Gesellschaft im weiteren Sinne zu ermöglichen», erklärt Bruno Wägli. Soziale Teilhabe, Inklusion und staatsbürgerliche Verantwortung sind daher Themen, die für die Lausanner Einrichtung von besonderer Bedeutung sind. Last but not least bietet sie ihren Bewohnenden eine breite und vielfältige Palette an Leistungen: Unterkunft (Wohnungen im Quartier, Studios im Heimgebäude oder begleitetes Wohnen), Werkstätten zur Sozialisierung, Tageszentrum sowie Sport- oder Freizeitaktivitäten. ➞ www.eben-hezer.ch Forumskoordinatorin Nadège Marwood erläutert im Quartierzentrum Chailly in Lausanne den Ablauf der Abstimmungsdiskussion über die AHV-Reform.
ARTISET 09 I 2022 17 redline-software.ch www.arbeitsheim.ch Bei uns erhalten Rohstoffe eine zweite Chance! Wir verwandeln gebrauchtes Verpackungsmaterial in Badesalz-Säckli und Recycling-Holz in Kinderspielzeug. Auf der Suche nach einem sinnvollen Geschenk hergestellt mit Herz? Schauen Sie bei uns vorbei oder nehmen Sie mit uns Kontakt auf. Anzeige Was ist das Besondere an Bla-Bla Vote? «Das Schwergewicht der Veranstaltung liegt auf den Publikumsfragen.» Die eingeladenen Personen werden angewiesen, ihre Aussagen möglichst zu vereinfachen. «Die Rückmeldungen der Politikerinnen und Politiker sind sehr positiv», bestätigen Nadège Marwood und Omar Odermatt. «Sie nehmen unsere Einladung gerne an. In der Schweiz haben wir zum Glück zugängliche Volksvertreterinnen und Volksvertreter, die gern mitmachen.» So ergriff bereits eine Reihe prominenter Waadtländer Politikerinnen und Politiker der kommunalen, kantonalen und nationalen Ebene in Chailly das Wort, um die Fragen der Quartierbewohnerinnen und -bewohner zu beantworten: Unter ihnen auch der FDP- Politiker Laurent Wehrli (Nationalrat und Stadtpräsident von Montreux). Laurent Wehrli ist Co-Präsident der Föderation Artiset. Engagierte Auftritte in Chailly hatten auch sein Parteikollege Olivier Français (Ständerat und Lausanner Stadtrat), SP-Politikerin Rebecca Ruiz (Waadtländer Staatsrätin) und ihr Parteikollege Roger Nordmann (Nationalrat). «Im Anschluss an Bla-Bla Vote erhalten Stimmberechtigte, die abstimmen möchten, Unterstützung beim Ausfüllen der Stimmzettel», erläutert Bruno Wägli. Eine vielversprechende Zukunft Die erste Veranstaltung von Bla-Bla Vote hatte grossen Zulauf. «Danach liess der Erfolg ein wenig nach», räumt Bruno Wägli ein. «Wir mussten auch mit den Einschränkungen der Pandemie zurechtkommen und boten Bla-Bla Vote als Podcast über unser Webradio an. Wir mussten uns neu erfinden, um den Fortbestand des Projekts zu sichern.» Nach Ansicht des stellvertretenden Direktors hat Bla-Bla Vote jedoch eine grosse Zukunft vor sich. «Die ersten fünf Jahre waren für uns eine Entwicklungs- und Versuchsphase, in der wir jedoch viel Erfahrung sammeln konnten.» Copil, das strategische Organ von Bla-Bla Vote, dem unter anderem die beiden Koordinationsverantwortlichen und BrunoWägli angehören, ist entschlossen, mit Bla-Bla Vote einen zweiten Anlauf zu nehmen und dazu verstärkt auf die Quartierbewohnerinnen und -bewohner zuzugehen. «Die Reaktionen aus Medien und Politik sind sehr positiv, doch fehlt uns noch dieMeinung derMenschen imQuartier. Deshalb würden wir gern die Restaurants in der Umgebung einbeziehen. Das ist ein Projekt, in das wir grosse Hoffnungen setzen.» «Wir haben eine Bla-BlaCharta eingeführt, die sich für die Achtung der Meinungsvielfalt und eine wohlwollende Haltung einsetzt.» Nadège Marwood und Omar Odermatt, Koordinatoren des Bürgerforums Eine Bildreportage zum Bla-Bla-Vote vom 3. September finden Sie hier: Im Fokus
18 ARTISET 09 I 2022 Im Fokus «Weiterbildungen sind nicht nur zum Lernen da, sie sollen die Menschen auch dazu motivieren, aktiv zu werden und ihr eigenes Netzwerk aufzubauen», betont Sébastien Kessler. AmVernetzungsanlass in Bern, der den Abschluss der ersten Ausgabe von «Politinklusiv» («Politinclusive» auf Französisch) bildete, sass ihm ein rund 60-köpfiges Publikum gegenüber. Das Angebot von Pro Infirmis richtet sich an Menschen mit Behinderungen, die sich politisch engagieren möchten. Sébastien Kessler ist Mitbegründer des Beratungsbüros id-Geo für universelle Zugänglichkeit und seit 2015 Gemeinderat von Lausanne. Er hat die französischsprachigen Module der Weiterbildung konzipiert und lebt selbst mit einer Behinderung. Dies allerdings schon so lange, dass er seinen Rollstuhl gar nicht mehr wahrnehme, meint er. Die Teilnehmenden betonten an der Weiterbildung, wie wichtig dieser Vernetzungsanlass ist, nicht zuletzt auch, weil sie sich bisher nur virtuell getroffen hatten. Das erste Mal fand Politinklusiv wegen Covid online statt und umfasste vier Module zu je drei Stunden. Die Weiterbildung wurde zwischen Februar und März 2022 parallel auf Deutsch und auf Französisch mit je 17 Teilnehmenden durchgeführt. Dazu gehörten nicht nur Politneulinge, sondern auch Personen mit ersten Erfahrungen. Sie erwarben dabei theoretische Grundlagen, erhielten praktische Ratschläge für die Umsetzung von Kampagnen oder für die Medienarbeit und lerntenTricks zur Mobilisierung und um etwas zu bewirken. Zudem konnten sie vom Wissen und den Erfahrungen der auf Politik und Kommunikation spezialisierten Modulleitenden profitieren. Eine Stimme mit zu wenig Gehör Sébastien Kessler, der die französischsprachigenTeilnehmenden betreute, gibt zu, dass es eine Herausforderung war, eine solche Weiterbildung mit Ausbildenden auf die Beine zu stellen, die weder selbst betroffen noch mit dem Behindertenwesen vertraut sind. Im Sinne von mehr Inklusion war dies aber auch gewollt. Die verschiedenen Lebensläufe stellten für die Modulinhalte zweifellos eine Bereicherung dar und zeigten, «dass es auch ohne Erfahrung in der Politik viele Möglichkeiten gibt, sich zu engagieren». «Es gibt viele Möglichkeiten, sich zu engagieren» Wie funktioniert eine Politkampagne? Wie binde ich die Medien ein? Wie mobilisiere ich für ein Anliegen? Diese und andere Fragen behandelt die neue Weiterbildung «Politinklusiv» von Pro Infirmis. Sie richtet sich an Menschen mit Behinderungen, die sich politisch engagieren möchten. Von Anne-Marie Nicole
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