ARTISET Magazin | 1-2 2022

ARTISET 01/02 I 2022  11 Baukulturfachfrau Schwalfenberg: «Am nachhaltigsten ist, wenn die Menschen sich selbst fragen: Was kann ich zu einem lebendigen Quartierleben beitragen?» Foto: Privat fristig einen Mehrwert generieren. Sonst ist es nicht nachhaltig. Nennen Sie uns ein Beispiel, das zeigt, wie man nachhaltig baut, das zeigt, wie sozial nachhaltiges Leben möglich wird. Mich hat Oodi, die neue Zentralbi­ bliothek von Helsinki, beeindruckt. Ein Haus, dem es derart gelingt, ein Ort für alle zu sein, habe ich selten erlebt. Das fängt damit an, dass Oodi weit mehr sein möchte als eine klassische Bibliothek. Bücher ausleihen, arbeiten, rumhängen, ein Treffen abhalten oder ein T-Shirt nä­ hen: Alles ist dort möglich – und alles ist ausdrücklich erwünscht. Was sicher auch ganz wichtig ist, dass Eintritt und WLAN frei sind. So haben Jugendli­ che zum Beispiel einen Ort, wo sie sich einfach treffen können, ohne konsumie­ ren zu müssen, und gleichzeitig Social Media nutzen können. Und für eher traditionelle Bibliotheksbesucherinnen und Bibliotheksbesucher gibt es einen sogenannten Bücherhimmel – ein heller, geschwungener und lichtdurchfluteter Raum mit vielen Büchern. Was macht die Zentralbibliothek in Helsinki zu einem sozial nachhalti­ gen Ort? In der Oodi sind verschiedene soziale und räumliche Voraussetzungen gegeben: Es gibt ein breites, allgemein zugängliches Angebot an Aktivitäten und an Räumen. Um es mit einem Wort zu sagen: Oodi ist Vielfalt. Woran kann sozial nachhaltiges Bauen und Planen denn scheitern? Gefahren für ein sozial nachhaltiges Bau­ en und damit ein nachhaltiges Leben gibt es viele: Orientierung an kurzfristiger Rendite, mangelnde Vielfalt oder fehlen­ de Schönheit. Neben den Gefahren müs­ sen wir aber auch die Chancen sehen, die ein demokratisches Gemeinwesen wie die Schweiz bietet: sich einzumischen und so zu sozial nachhaltigem Bauen und Leben beizutragen. Wie müssen Bauvorschriften for­ muliert sein, damit sozial nachhaltig gebaut wird? Bauvorschriften müssen sozial nachhalti­ ges Bauen wie eine qualitativ hochwertige Baukultur insgesamt alsWert deklarieren, damit sozial nachhaltig gebaut wird. Wie weit verbreitet ist sozial nach­ haltiges Bauen in der Schweiz denn schon? Die Schweiz ist international teilwei­ se Vorreiter. Genossenschaftssiedlungen wie die Kalkbreite in Zürich, wo neue Formen des Zusammenlebens erprobt werden können, leisten einen Beitrag zur Zukunft des Wohnens. Das Beispiel der Genossenschaftssiedlungen zeigt aber zugleich, wie sehr die soziale Nachhal­ tigkeit immer auch eine Frage der Per­ spektive ist. Dass Ausländer in Zürcher Genossenschaften deutlich untervertre­ ten sind, ist jedenfalls kein Ausweis an Zugänglichkeit und Vielfalt. Dass man sich in manchen Bereichen langsam ge­ löst hat von der Vorstellung, nur für eine spezifische Zielgruppe zu bauen, ist wie­ derum eine gute Entwicklung, dass man etwa nicht nur für Menschen mit Behin­ derung baut, sondern für alle. Und was gibt es noch zu tun? Sozial nachhaltiges Bauen ist eine Dau­ eraufgabe. Jedes Projekt, das den gestalte­ ten Lebensraum verändert, muss den An­ spruch haben, einen Beitrag zum sozial nachhaltigen Bauen zu leisten. Jede und jeder Einzelne ist gefragt, im Rahmen der Möglichkeiten mitzugestalten.  * Claudia Schwalfenberg, 54, ist Leiterin Fachbereich Politik und Verantwortliche Baukultur beim Schweizerischen Ingenieur- und Architektenverein SIA. Sie hat Germanistik, Geschichte und Kommunikationswissenschaften studiert und arbeitete unter anderem bei der Deutschen Stiftung Denkmalschutz und der deutschen Bundesarchitektenkammer.

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