ARTISET Magazin | 1-2 2022
ARTISET 01/02 I 2022 35 Fröhliches Rufen hallt durch die Gänge der beiden sozialpädagogischenWohn- gruppen Speerblick in Uznach SG, dem vorübergehenden Daheim für 14 Kin- der und Jugendliche, die zuhause eine Gefährdungs- oder Krisensituation erleben. An diesem Mittwochnach- mittag lockt die Sonne, eine Gruppe von vier Jugendlichen macht sich bereit für einen gemeinsamen Schlittelausflug zur nahegelegenen Alp Egg. «Soziales Lernen im Alltag» lautet das Motto des Speerblicks, dazu gehören auch gemeinsame Erlebnisse in der Natur. Seit Petra Derungs vor drei Jahren die Leitung übernommen hat, hat in den Wohngruppen eine neue Haltung Einzug gehalten: Statt sturen Struk turen ist ein pädagogischer Grundsatz angesagt, der auf Respekt, Partizipation undTransparenz basiert und nach Res- sourcen sucht. Die Kinder sollen selbst erfahren, was ihnen guttut: «Partizipa- tion hilft langfristig viel mehr als sture Regeln», sagt Derungs. Individuell an- gepasste Lösungen, Neue Autorität und Erlebnispädagogik sollen den Kindern helfen, sich persönlich weiterzuentwi- ckeln. Gleichzeitig erhalten ihre Eltern monatliche Coachings, in denen sie lernen, wie sie in ihrer Rolle als Eltern wieder Handlungsfähigkeit erlangen können. Petra Derungs führt durch die Woh- nungen im dritten und vierten Stock. Die hohen Räume sind frisch renoviert und modern dekoriert. Sie nickt: «Die Kinder und Jugendlichen sollen hier ein sicheres und gemütliches Zuhause erleben und sich wertgeschätzt fühlen.» Diese Haltung zeigt sich schon bei der Einrichtung, denn einer der wichtigen Grundsätze der Neuen Autorität lau- tet: «Du bist uns wichtig, wir sehen dich.» Derungs zeigt auf das Schuh- gestell beim Wohnungseingang – ein sichtbares Beispiel dafür, wie die Kin- der und Jugendlichen im Alltag mit einbezogen werden: «Ständig kam es zu Diskussionen, weil die Kinder mit schmutzigen Schuhen in die Wohnung rannten, statt sie unten auszuziehen.» Nach einer Sitzung gab das Team deshalb die Frage in die Runde: Was würde den Kindern und Jugendlichen helfen, die Schuhordnung besser ein- zuhalten? Spontan kam die Idee, auf dem Stockwerk ein Schuhgestell einzu- richten, und der Vorschlag wurde zü- gig umgesetzt. Natürlich sei das Thema Ordnung damit nicht vom Tisch, die Institutionsleiterin schmunzelt, immer noch bleiben Schuhe liegen. «Aber das Beispiel zeigt, wie wir Partizipation leben.» Anstrengender, aber nachhaltig Das habe eine ebenso spürbare Wir- kung wie das Prinzip «Wiedergutma- chung statt Machtkampf»: Wer Regeln nicht eingehalten hat, wird nicht ein- fach bestraft. Vielmehr wird in einem Gespräch geklärt, was gelaufen ist. Oft finden die Gespräche erst statt, wenn sich die Gemüter beruhigt haben. Dann können die Kinder und Jugend- lichen sich mit ihrem Verhalten ausei- nandersetzen und ihren Fehler durch eine sinnvolle Tat wieder gutmachen. Gleichzeitig erfahren sie, dass die Be- ziehung darunter nicht leidet, dass die Haltung «wir sind für dich da» auch trägt, wenn es schwierig wird. «Der Wiedergutmachungsprozess ist oft wesentlich anstrengender als ein Straf system», sagt Petra Derungs. «Für alle.» Sowohl für die Kinder und Jugend lichen wie auch für das Team bedeutet das immer wieder Dranbleiben anstatt Regeln durchzuziehen und Sanktionen abzuhaken. Trotzdem sei es der bessere Weg: «Die Wirkung ist viel nachhal- tiger.» Am besten funktioniert die neue Haltung des Speerblicks, wenn sich die Eltern an Bord holen lassen. Die Mut- ter des elfjährigen Leon* beispielsweise hatte anfangs enorm Mühe mit dem Gedanken, ihren Sohn in ein Kinder- heim zu geben, umso mehr, weil Leon zuvor in einem Internat untergebracht worden war, in dem sie die ganze Wo- che durch ausser zwei Telefongesprä- chen keinen Kontakt halten durfte. So erfuhr Tamara Schawinski* nie, wie es mit ihrem Sohn in der Schule und in der Wohngruppe überhaupt lief. «Eine sehr belastende Zeit für uns beide», sagt sie am Telefon. Dennoch liess sie sich nach Gesprä- chen und Besuchen im Speerblick auf einen Versuch ein, der Ansatz über- zeugte sie. Mittlerweile sind drei Mo- nate vergangen, und sie hat erleichtert festgestellt, dass ihr Gefühl sie nicht getrogen hat: «Ich darf auch unter der Woche zu Besuch gehen, spontan dort Znacht essen oder meinem Sohn abends noch etwas vorlesen und ihn zu Bett bringen – ja, ich werde sogar ermutigt, mich aktiv einzubringen und am Alltag teilzunehmen.» Sie fühlt sich als Mutter ernst genommen, bekommt Tipps für einen entspannten Umgang mit ihrem Sohn und wagt sich inzwi- schen, ihm an den gemeinsamen Wo- chenenden klare Grenzen zu setzen. Ansonsten darf sie die Familienzeit geniessen, ohne stets unzählige Regeln im Hinterkopf zu haben: «Ich habe gelernt, wie viel es bringt, wenn wir zusammen hinausgehen und gemein- same Erlebnisse geniessen.» ➞ In den Sozialpädagogischen Wohngruppen Speerblick in Uznach SG zählen Neue Autorität, Partizipation, Erlebnispädagogik und Elterncoachings: Diese sollen Eltern und Kindern helfen, ihre Handlungsfähigkeit wieder zu erlangen, erklärt Institutionsleiterin Petra Derungs. Von Claudia Weiss
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