ARTISET Magazin | 1-2 2022

ARTISET 01/02 I 2022  37 läuft vieles deutlich einfacher. Das ist das Modell der Zukunft.» Der Ansatz trägt sogar, wenn Eltern sich aufgrund ihrer Situation oder früherer Erfahrungen weniger gut auf eine Kooperation einlassen können. In diesen Fällen sei vor allem die Stärkung der Kinder wichtig, sagt Sozialpäda­ gogin Annina de Palatis, Sozialpäda- gogin HF in Ausbildung: Sie erklärt ihren Bezugskindern Nathalie*, 10, und Philipp*, 8, immer wieder, es sei nicht ihre Schuld, dass sie im Speerblick sind. Und auch nicht, dass die Eltern manchmal zu verabredeten Terminen nicht auftauchen. Die Geschwister sind inzwischen ein halbes Jahr dort, und als Bezugsperson der beiden Kinder ver- sucht sie immer wieder, die Eltern mit einzubeziehen, informiert sie, wenn etwas Schwieriges, aber auch wenn Gutes vorgefallen ist, und insistiert, wenn diese nichts hören wollen: «Es ist wichtig, dass Eltern in ihrer Rolle gestärkt werden.» Das System ins Boot holen Das Dranbleiben hat sich gelohnt, in- zwischen haben die Eltern gespürt, dass sie respektiert werden, und die Mutter hat sich sogar bereit erklärt, künftig an einem Coaching teilzunehmen. In den Coachings reflektiert die jeweilige Be- zugsperson mit den Eltern, wie sie mit ihrem Kind umgehen können und was ihr Verhalten für das Kind bedeutet. Alle hoffen, dass die Situation auch für Nathalie und Philipp bald einfa- cher wird und die Kinder nicht mehr entscheiden müssen, ob ihre Loyalität den Eltern oder dem Betreuungsteam gehören soll, sondern dass alle dasselbe Ziel haben. Bis das gut angelaufen ist, holt das Team des Speerblicks andere Personen aus dem System zu sich ins Boot: Trudi Roth* beispielsweise, die grossmütterliche Nachbarin der beiden Kinder. «Sie waren zwei Jahre lang so oft ganze Nachmittage lang bei mir, jetzt möchte ich unbedingt wissen, wie es ihnen im Speerblick ergeht», sagt sie. Sie und ihr Mann holen die Kinder für Veloausflüge ab oder bräteln mit ihnen am See Würstchen, damit sie unbeschwerte Momente erleben. «Die beiden sollen merken, dass jemand nur für sie da ist, dass sie uns wichtig sind.» Kurt Zimmermann, Lehrer an der Primarschule Schänis, gehört ebenfalls zum erweiterten System der Kinder und wird regelmässig informiert. Das sei ausgesprochen hilfreich, findet er: «Wenn ich weiss, dass in der Wohn- gruppe etwas vorgefallen ist, kann ich viel besser einordnen, warum ein Kind tags darauf in der Schule auffällt oder keine Zeit hatte, die Hausaufgaben zu erledigen.» Und auch Beiständin Patricia Widmer spürt einen deut­ lichen Unterschied gegenüber ähnlich gelagerten Familiensystemen, die in traditionell geführten Institutionen be- treut werden: «Man merkt sehr gut die Beständigkeit, mit der das Speerblick- Team am Familiensystem dranbleibt.» Sie hofft, dass diese beharrlichen Ange- bote eines Tages doch noch zumTragen kommen. Trotz Herausforderungen hat sich die neue Haltung bereits bestens bewährt, findet auch Petra Derungs. Von einem Tag auf den anderen lasse sich ein sol- cher Wechsel allerdings nicht vollzie- hen: «Diese Haltung muss wachsen.» Vom vorherigen Team sind heute nur noch die Sozialpädagoginnen Agnes Wieland und Melanie Brunner dabei, und sie sind von den neuen Ansätzen überzeugt:: «Seit wir individuell auf die Ressourcen der Kinder eingehen und sie mit einbeziehen, sind sie im All- ➞ www.speerblick.ch tag viel kooperativer geworden», sagt Melanie Brunner. Auch für das Team sei diese Zusammenarbeit sehr positiv: «Wir sind zusammengewachsen, Ab- sprachen laufen viel einfacher.» Ständig dranbleiben Die anderen zehn Sozialpädagogin- nen und -pädagogen kamen nach dem Leitungswechsel zum Team, und gemeinsam machten alle begeistert bei der Grundausbildung zur Neuen Autorität mit. Vier liessen sich inzwi- schen zu spezialisierten Elterncoaches weiterbilden. Alle erhalten regelmässige Weiterbildungen, Supervision und In- tervision. «Das ist wichtig», sagt Petra Derungs: «Mit einer einmaligen Ein- führung ist es noch lange nicht getan, da muss man ständig dranbleiben.» Durch die Gänge schallen Rufe und Trampeln: Die Schlittelgruppe stürmt zum Minibus hinaus, ihre Begleite- rin Christiane Pietsch wartet schon. Sobald alle verstaut und angeschnallt sind, geht es los. In zwei, drei Stunden werden die vier Buben zumNachtessen zurück sein, müde, vielleicht etwas übermütig oder überreizt, aber vollge- tankt mit frischer Luft, Sonne und ge- meinsamen Gruppenerlebnissen. Und sie werden das Gefühl haben, dass es Menschen gibt, denen es wichtig ist, wie es ihnen geht, und die ihnen Ge- staltungsfreiraum lassen. Das ist es, was im Speerblick zählt. * Namen geändert Kinder sollen nicht entscheiden müssen, ob ihre Loyalität den Eltern oder dem Betreuungsteam gehört: Alle sollten dasselbe Ziel haben.

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