ARTISET Magazin | 1-2 2022

40  ARTISET 01/02 I 2022 Aktuell Nach einem Sturz vom Pferd im Alter von 17 Jahren, der ihr fast das Leben gekostet hätte, musste Céline van Till alles neu erlernen. Heute, 13 Jahre später, hat die bald 31-jährige Genferin, die seither mit einer Behinderung lebt, ihr zweites Buch geschrieben, ist politisch aktiv, seit mehreren Jahren Mitglied im Verwaltungsrat von Handicap International Schweiz und seit Kurzem Vizepräsidentin. Interview: Anne Vallelian «Ich lebe intensiv, ohne Reue oder Bedauern» Nach einem Reitunfall während eines Trainingslagers erlitten Sie ein schweres Schädel-Hirn-Trauma und lagen fast einen Monat im Koma. Heute jonglieren Sie zwischen Po- litik, Konferenzen und nicht zuletzt dem Sport. Bei diesem Programm ist es schwer zu glauben, dass Sie mit einer Behinderung leben, auch, weil diese nicht sichtbar ist… Meine Behinderung ist dennoch sehr prä- sent. Ich bin sehbehindert: Mein Gesichts- feld ist um die Hälfte reduziert, und ich sehe doppelt. Ausserdem habe ich Schwie- rigkeiten mit dem Gleichgewicht und der Koordination.Während meiner Rehabili- tation musste ich wieder lernen zu gehen, zu sprechen, zu schreiben und zu essen. Dreizehn Jahre sind seit meinem Unfall vergangen, aber ich muss noch immer stetig trainieren, um meine körperlichen und geistigen Fähigkeiten zu erhalten. Das bedeutet harte Arbeit. Wie leben Siemit Ihrer Behinderung? Ich lebe gut damit, auch wenn der Umstand, dass man meine Behinderung nicht sieht, manchmal für Unverständ- nis sorgt, vor allem in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Ich erkläre dann je- weils, warum ich, vor allem bei längeren Strecken, einen Sitzplatz brauche. Die Botschaft wird im Allgemeinen gut auf- genommen, auch wenn es Zeit braucht. Ich möchte die Art, wie die Menschen Behinderungen sehen, verändern. Vor Ihrem Unfall im Jahr 2008 wa- ren Sie eine vielversprechende Ju- nioren-Dressurreiterin. Vor einigen Jahren entdeckten Sie das Laufen. Was waren die Gründe dafür? Ich brauchte eine neue Herausforderung. Als Schirmherrin verschiedener Veran- staltungen hatte ich das Laufen entdeckt. So lernte ich, die Bewegungen meiner Beine zu koordinieren. Ich fand Gefallen daran und beschloss, mich auf den Wett- kampfsprint zu konzentrieren. In dieser Disziplin konnte ich grosse Fortschritte machen. Sogar mein Gangbild hat sich verbessert. Ich verwendete meine ganze Energie darauf. Um ein hohes Niveau zu erreichen, musste ich zwischen dem Reiten und der Leichtathletik wählen. Sie starteten also eine Karriere als Sprinterin, bestritten mehrere inter- nationale Wettkämpfe, doch dann brachte ein Sturz auf den Kopf das Aus, sie traten vom Leistungssport zurück. Keine Reue? Man muss flexibel bleiben und sich an- passen können. Bei den Qualifikationen für die Paralympischen Spiele in Tokio 2021 bin ich aufgrund meiner Spastik, also kleiner unwillkürlicher und unkon- trollierbarer Bewegungen, auf den Kopf gefallen. Die Folge war ein erneutes Schä- del-Hirn-Trauma. Ich will mein Leben nicht noch einmal aufs Spiel setzen. Ich habe die Spiele in Tokio abgehakt. Was geblieben ist, ist das Bedürfnis, meine Grenzen auszuloten und mich immer wieder selbst zu übertreffen. Sport bie- tet mir eine Möglichkeit, meine selbst- gewählte Mission zu erfüllen, nämlich anderen Menschen zu helfen und sie zu

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