ARTISET 01/02 I 2023 11 von Statistiken aus dem umliegenden Ausland sind. Das heisst, die Dunkelziffer könnte massiv höher sein. Wir gehen davon aus, dass rund 20 Prozent der über 60-jährigen Menschen davon betroffen sind, also eine von fünf Personen. Dieselben Zahlen begegnen uns übrigens im Bereich Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen oder gegen Frauen in der Ehe. Sie sagen, das passiere oft ganz subtil. Was sind erste Anzeichen? Eine Form von Gewalt ist auch Ausbeutung, und diese beginnt oft schleichend. Beispielsweise indem die erwachsenen Kinder von ihren Eltern ganz selbstverständlich erwarten, regelmässig die Grosskinder zu hüten, und dann auch nicht zögern, Druck aufzusetzen à la: «Wenn ihr nie Zeit habt, seht ihr eure Grosskinder halt nicht mehr.» Das klingt traurig. Deprimieren Ihre Forschungsarbeiten Sie nicht manchmal? Doch, schon, aber meine Motivation ist es, Möglichkeiten für die Prävention zu finden und etwas an dieser traurigen Situation zu ändern. Und, welche Möglichkeiten haben Sie gefunden? Es geht hier nicht nur um die intellektuelle Frage, was abläuft, sondern das Thema muss auch emotional berühren, damit ein echtes Umdenken stattfindet. Die Prävention funktioniert oft sehr sachlich kühl oder mit Angst. Um «von innen heraus» zu verstehen, inwiefern ein Verhalten missbräuchlich ist und die Integrität undWürde verletzt, müssen Pflegende und Angehörige jedoch die Situation durch die Augen der älteren Person nachempfinden können. Das gelingt viel besser mit persönlichen Erlebnisberichten, indem man nicht nur Fakten präsentiert, sondern Geschichten erzählt. Dasselbe fordere ich auch für die Berufsausbildung. Was schlagen Sie punkto Berufsausbildung konkret vor? Man könnte viel mehr mit Rollenspielen arbeiten, bei denen die Studierenden beispielsweise einander gegenseitig füttern oder im Rollstuhl umherschieben müssten. Heute ist enorm wichtig zu zeigen, wie unverzichtbar Expertise auch in der Langzeitpflege ist, und wie spannend diese Arbeit ist: Die Pflegenden können analysieren, komplexe Situationen handhaben und mit Multimorbidität umgehen, und es gibt auch schöne menschliche Begegnungen. Ein positives Berufsbild hätte letztlich einen guten Effekt für die Langzeitpflegeinstitutionen… Unbedingt. Und diese können ihrerseits wesentlich zur Prävention von Altersgewalt beitragen, indem sie ihre gesamte Organisation hinterfragen: Warum muss eine Pflegekraft, die an einem Vormittag vier Bewohnerinnen und Bewohner betreuen muss, diese unbedingt täglich duschen und ein eng strukturiertes Programm durchziehen, anstatt Zeit dafür zu verwenden, mit den alten Menschen zu sprechen, zu spazieren und ihnen einen Wunsch zu erfüllen? Was ist wirklich wichtig? Aus wessen Sicht? Und warum sind solche Freiheiten in einem Hotel möglich, sollen aber in einer Institution völlig unmöglich sein? Zudem ist man noch zu häufig davon überzeugt, dass ein Pflegeheim letztlich eine Wohlfahrtseinrichtung ist. Das mag früher so gewesen sein, aber heute bezahlen die Leute oft 6000 Franken monatlich für das Angebot. Dafür ist der Dienstleistungsgedanke noch viel zu wenig ausgeprägt – und das wiederum hängt ganz klar mit dem Thema Gewalt zusammen. Können Sie das bitte etwas konkreter ausführen? Dieser Gedanke der Wohltätigkeit verleiht den Pflegenden und Betreuenden Macht, und dadurch erlauben sie sich wesentlichmehr, als sich das Angestellte in einem Hotel erlauben würden. Oft hat in Institutionen ganz klar der Dienstplan Vorrang statt der betreuten Personen: Falls Frau X gerne täglich frisch duscht, soll sie das dürfen. Wenn aber Frau Y lieber wöchentlich ein schönes Schaumbad wünscht und sich sonst am Lavabo wäscht, soll sie auch das dürfen. Institutionsangestellte sollten beim Setzen der Prioritäten auch die Rechte und den Wert der alten Menschen in Betracht ziehen – sie sollten die alten Menschen mit anderen Augen sehen statt nur als Arbeit oder als Dinge, die gepflegt werden müssen. Natürlich muss man auch aufpassen, dass man nicht überall sofort Gewalt sieht, und Unstimmigkeiten gehören zum Leben, damit müssen wir alle umgehen. Woran merken wir, ob wir noch im Bereich «Unstimmigkeiten» sind oder schon in Richtung Gewalt abdriften? Die grosse Frage ist immer: Berührt es die Integrität, die Würde und die «Dieser Gedanke der Wohltätigkeit verleiht den Pflegenden und Betreuenden Macht, und dadurch erlauben sie sich oft wesentlich mehr, als sich das Angestellte in einem Hotel erlauben würden.» Delphine Roulet Schwab Im Fokus
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