Gewalt verhindern Magazin ARTISET 1-2 2023

12 ARTISET 01/02 I 2023 Rechte einer Person? Nehmen wir ein Beispiel: Als Heimbewohnerin bin ich vielleicht wütend oder enttäuscht, weil sich die Pflegefachfrau zuerst um meine Zimmernachbarin gekümmert hat. Aber das bedeutet nicht, dass ich ein Opfer von Gewalt bin. Wenn ich die Pflegerin jedoch darauf hinweise und sie antwortet: «Sie müssen warten. Sie meckern sowieso immer. Da es nun einmal so ist, müssen Sie sich eben selbst helfen», dann ist das etwas völlig anderes. Lassen sich solche Verletzungen überhaupt verhindern? Fehler können jederzeit passieren, sobald jemand mit Kindern oder alten, vulnerablen Menschen arbeitet. Sowohl in Institutionen als auch in Familien ist es daher enorm wichtig, eine gute Fehlerkultur zu pflegen: Es ist wichtig, das Fehlverhalten aufzuzeigen, sich zu entschuldigen und vor allem daraus zu lernen. Wurde beispielsweise eine Bewohnerin eine halbe Stunde auf der Toilette vergessen, wirkt es auf die aufgebrachten Angehörigen völlig anders, wenn die Pflegeverantwortlichen den Fehler zugeben, dazu stehen, sich entschuldigen und erklären, man werde Massnahmen ergreifen, damit das nicht mehr vorkomme, als wenn sie aufgebracht rufen, die Familie solle nicht so übertreiben und man habe halt einfach viel Stress. Eines Ihrer neueren Forschungsthemen betrifft die eheliche Gewalt bei alten Paaren. Auch das ist ein Thema, das in unseren Köpfen gar nicht so richtig existiert. Warum? Bei älteren Paaren denken wir nicht an Sexualität oder Emotionen, sie werden irgendwie gestaltlos. Deshalb kommen alte Paare in der Prävention häuslicher Gewalt gar nicht vor – als ob die Gewaltbereitschaft eines Ehemanns einfach verschwinden würde, sobald er seinen 60. Geburtstag feiert. Doch nur wenige ältere Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind, melden sich bei einer Anlaufstelle. Zum einen aus generationellen Gründen, weil eine 80-jährige Frau noch fest verinnerlicht hat, dass ihr Mann das Familienoberhaupt ist. Zum anderen, weil die Hilfsangebote nicht immer auf die Bedürfnisse älterer Menschen zugeschnitten sind: Viele Infos finden sich nur via Internet, und im Frauenhaus werden nur nicht-pflegebedürftige Frauen aufgenommen. Deshalb fürchten viele die Konsequenzen, beispielsweise dass sie in ein Pflegeheim gehen müssen, die Familie gegen sich aufbringen oder ihren Hund verlieren. Der Bundesrat prüft, ob ein «Impulsprogramm zu Gewalt im Alter» nötig ist, um die Situation zu verbessern. Braucht es das? Könnten wir nicht einfach als Gesellschaft besser darauf achten? Ja, ein offizielles Impulsprogramm ist sehr wichtig, weil das Thema so wenig sichtbar ist und so selten besprochen wurde. Mittel für das Thema freizusetzen, heisst letztlich auch, dem Thema einen Wert zu geben. Ausserdem existieren zwar viele Einzelangebote, aber sie sind sehr zerstückelt, und auch die Institutionen arbeiten in diesem Thema noch überhaupt nicht zusammen. Eine einheitliche Anlaufstelle wie das nationale Kompetenzzentrum «Alter ohne Gewalt» und eine gute Vernetzung sind dringend nötig. Deshalb wird man Ende Jahr mehr hören zu diesem Thema. Wie sehen aus Ihrer Sicht die idealen Voraussetzungen dafür aus, dass Pflegende und Angehörige die alten Menschen gewaltfrei betreuen können? In einer idealen Welt hätten alle Menschen die gleichen Rechte, unabhängig von Alter, Geschlecht und Landeszugehörigkeit. In der Schweiz, einem reichen, zivilisierten Land, dürften alte Menschen ihren Platz und ihren Wert trotz fortgeschrittenen Jahren behalten. Es gibt ein Sprichwort, das besagt, dass die Gesundheit eines Landes daran gemessen werden kann, wie es seine Alten behandelt. Da hat die Schweiz noch Verbesserungsbedarf. Man darf aber auch nicht vergessen, dass es auch systembedingte und politische Elemente gibt: Alters- und Pflegeheime werden im Gesundheitssystem oft nicht angemessen anerkannt und die Rahmenbedingungen erzeugen einen grossen Druck auf die Einrichtungen und ihre Angestellten. Natürlich ist jeder Einzelne für seine Taten verantwortlich, aber die Gesellschaft trägt auch eine kollektive Verantwortung für Gewalt gegen ältere Menschen. * Delphine Roulet Schwab, Dr. phil. Psychologie, 44 Jahre, ist Professorin an der Fachhochschule für Gesundheit La Source (HES-SO) in Lausanne. Sie lehrt und forscht im Bereich Alterung. Zudem präsidiert sie den Westschweizer Verein Alter Ego, der sich in der Gewaltprävention für alte Menschen engagiert. Sie ist Präsidentin des Nationalen Kompetenzzentrums Alter ohne Gewalt und von Gerontologie ch. «Alte Paare kommen in der Prävention häuslicher Gewalt gar nicht vor – als ob die Gewaltbereitschaft eines Ehemanns einfach verschwinden würde, sobald er seinen 60. Geburtstag feiert.» Delphine Roulet Schwab Im Fokus

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