14 ARTISET 01/02 I 2023 Massnahmen, Bettgitter oder auch geschlossene Abteilungen gehören. Weiter prüft die Kommission, ob es ein Konzept zur Gewaltprävention gibt – und dieses tatsächlich angewendet wird. Auch der Umgang mit Beschwerden oder die medizinische Versorgung sind wichtige Themen. In Übereinstimmung mit internationalen Vorgaben inspiziert die Kommission überdies die Lebens- und Aufenthaltsbedingungen in einem sehr allgemeinen Sinn, unter anderem die Tagesstrukturen, die für die psychische Gesundheit von Bedeutung sind. Bei ihren Besuchen in den beiden Pflegeheimen Senevita Lindenbaum in Spreitenbach sowie im La Maison de Vessy in Genf verschaffte sich die Kommission zu all diesen Bereichen einen vertieften Einblick. Zu diesem Zweck unterhielten sich die jeweils sechsköpfigen Delegationen unter der Leitung von Regula Mader, der Präsidentin der Kommission, mit mehreren Bewohnenden und Angehörigen, mit der Institutionsleitung, Mitarbeitenden sowie dem zuständigen Arzt beziehungsweise der zuständigen Ärztin. In den beiden jeweils rund siebenseitigen Berichten zieht die Kommission eine durchaus positive Bilanz: Die beiden Heime bieten den Bewohnenden ein gutes Lebensumfeld. Der Umgang mit den Bewohnenden durch die Mitarbeitenden wird in beiden Häusern als «respektvoll und freundlich» beschrieben. Explizit festgehalten wird zudem, dass die Delegationen, die ihre Besuche jeweils nur wenige Tage zuvor schriftlich ankündigen, «freundlich und offen» empfangen worden sind und «vollumfänglich» Einsicht in die gewünschten Dokumente erhielten. In den Berichten ist schliesslich auch kein Hinweis auf festgestellte Misshandlungen oder fehlende Sorgfalt zu erkennen. Massnahmen regelmässig überprüfen Trotz der grundsätzlich positiven Bilanz enthalten die beiden Berichte auch kritische Feststellungen sowie Empfehlungen zu Verbesserungen. Ohne die Tatsache explizit zu bewerten, hält der Bericht über den «Lindenbaum» fest, dass im September 2021 46 Bewohnende – und damit rund die Hälfte der anwesenden Bewohnerinnen und Bewohner – von einer freiheitseinschränkenden Massnahme betroffen waren, darunter elektronische Einschränkungen, aber auch Bettgitter oder Sitzgelegenheiten, die am Aufstehen hindern. Im Genfer Pflegeheim waren es am Besuchstag mit 78 von insgesamt 219 Bewohnenden gut ein Drittel. In einer auf diese Zahlen bezogenen Fussnote zitiert die Kommission einen Passus aus den Empfehlungen des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen an die Adresse der Schweiz vom April letzten Jahres. Unter der Ziffer 32 a heisst es hier: «Der Ausschuss empfiehlt demVertragsstaat die Abschaffung aller Formen (…) der Anwendung (…) physischer und mechanischer Zwangsmassnahmen (…) in Gesetz, Politik und Praxis.» In beiden Berichten anerkennt die Kommission die rechtmässige Anordnung der Massnahmen. Aus ihrer Sicht seien aber die Begründungen zum Teil zu wenig detailliert. In beiden Häusern war zudem die Regelmässigkeit der Überprüfung nicht klar vermerkt. Im Bericht über «La Maison de Vessy» empfiehlt die Kommission «eine ausführliche Dokumentation freiheitseinschränkender Massnahmen einschliesslich deren Überprüfung». Im Bericht über den «Lindenbaum» weist sie darauf hin, dass «Massnahmen zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit regelmässig auf ihre Rechtmässigkeit hin überprüft werden müssen». Schulungen in der Gewaltprävention Sowohl das Aargauer als auch das Genfer Pflegeheim verfügen über Standards zum Thema Gewalt. Die für den «Lindenbaum» – und alle Senevita-Heime – gültigen Richtlinien halten etwa fest, «dass Gewalt in keiner Form toleriert wird, weder von Kundinnen und Kunden noch von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern». Zudem werden allfällige Ereignisse dokumentiert. Anlässlich der Gespräche fiel der Kommission auf, «dass das Personal keine Kenntnisse über diesen Standard hatte», heisst es im Bericht. Die Kommission empfiehlt denn auch der Leitung, «das Personal über den Standard regelmässig zu informieren und zu instruieren sowie regelmässig im Aggressions- und Deeskalationsmanagement zu schulen». Die Direktiven im «La Maison de Vessy» beinhalten ein schriftliches Verfahren zur Aufdeckung und Intervention NATIONALE KOMMISSION ZUR VERHÜTUNG VON FOLTER Im Herbst 2021 hat die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) damit begonnen, die Einhaltung grundrechtlicher Standards in Institutionen der Langzeitpflege und imBehindertenbereich zu überprüfen. Bis Ende Januar 2023 hat sie neun Pflegeheime aus allen Landesteilen besucht. Die seit 2010 bestehende Kommission inspiziert die Menschen- und Grundrechtskonformität freiheitsbeschränkender Massnahmen – auch bei Patientinnen und Patienten respektive Bewohnenden in psychiatrischen Einrichtungen sowie in sozialen und sozialmedizinischen Institutionen. Die Besuche der NKVF dauern jeweils ein bis zwei Tage. Danach verfasst die Kommission einen Bericht zuhanden der Aufsichtsbehörde. Diese hat zwei Monate Zeit, Stellung zu nehmen. Liegt deren Stellungnahme vor, wird der Bericht veröffentlicht. Nach der Publikation der ersten beiden Berichte Anfang Januar 2023 werden in den kommenden Wochen und Monaten weitere Berichte publiziert. In diesem Jahr sowie in den kommenden Jahren wird die Kommission weitere Heime inspizieren, neben Pflegeheimen kommen ab 2024 Behinderteninstitutionen dazu.
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