Gewalt verhindern Magazin ARTISET 1-2 2023

ARTISET 01/02 I 2023 21 Standard nicht mehr in das Hauptgeschäft des ursprünglichen Herausgebers, des Bündner Spital- und Heimverbands. Ausserdem ist die neue Plattform nicht nur punkto Finanzen intensiv, sondern auch was den Aufwand anbelangt, denn sie muss stets weiterentwickelt und betreut werden. Um die Erweiterung aufzufangen und die Sicherung der Finanzen zu gewährleisten, wurde letztes Jahr neu die «Stiftung Bündner Standard zur Prävention und Bearbeitung von grenzverletzendem Verhalten – zum Schutz der Integrität von Menschen» gegründet. Ein amüsantes Detail am Rande: Zindel, Präsident des neuen Stiftungsrats, kommt aus dem Kanton St. Gallen, Bässler, der Vize, ursprünglich aus dem Bernischen Beatenberg. Eigentlich entstand also der Bündner Standard einst aus den Ideen eines St. Gallers und eines Berners – unterstützt von der Bündnerin Angela Hepting und dem Zürcher Jörg Leeners. Für klare Handlungssicherheit Das allerdings ist längst irrelevant, denn der Standard hat sich inzwischen weit über die Grenzen von Zizers verbreitet und ist in der ganzen Deutschschweiz und sogar in Deutschland und Österreich bekannt geworden. Martin Bässler, selber Sozialpädagoge, weiss aus dem Berufsalltag, wie schnell Grenzverletzungen passieren können. «In einer Institution mit Jugendlichen, die oft extreme Geschichten hinter sich haben, geschieht das leider nur allzu rasch», sagt er. Eine Schlägerei unter Jugendlichen oder impertinentes Verhalten von Jugendlichen gegenüber Betreuungspersonen – einige Arten von Grenzverletzung liessen sich kaum verhindern. «Sie müssen aber professionell behandelt und aufgearbeitet werden.» Andere Grenzverletzungen hingegen – jene von Betreuungspersonen gegenüber ihren Schützlingen – sollen gar nie aufgearbeitet werden müssen: «Diese gilt es unbedingt zu verhindern.» Diese Gefahr zu minimieren, gelingt erst, wenn sich Institutionen über ihre Werte und Haltungen im Klaren seien. Werte und Haltungen waren in den Institutionen zwar vorhanden. Aber dass die Urversion des Bündner Standards im sozialpädagogischen Bereich entstand, hatte einen konkreten Anlass: In den Schulheimen war es zu einem Vorfall von sexueller Gewalt unter Jugendlichen gekommen, und nachdem der «Fall H. S.» in Bern die sozialpädagogische Welt erschüttert hatte, kam es in der betroffenen Institution ebenfalls zu einem ziemlichen Medienrummel. Da zeigte sich, dass auch dort zu dieser Zeit ein geeignetes Instrument fehlte, um eine solche Situation souverän zu meistern. «Vor 20 Jahren war das Thema bei Institutionen und Aufsichtsbehörden noch kaum präsent, vor 10 Jahren geriet es erst so richtig ins Bewusstsein», erklärt Martin Bässler. In verschiedenen Institutionen – auch in denen der Stiftung «Gott hilft» – hatte er zwar bereits im Lauf der vorhergehenden Jahre nach und nach einzelne Abläufe für den Fall von Grenzverletzungen erarbeitet. Aber klar definierte Schritte, die allen Mitarbeitenden echte Handlungssicherheit verliehen, fehlten dennoch. Online und stets «up to date» Das sollte sich ändern, verlangte die Konferenz Kinder und Jugend des Bündner Spital- und Heimverbands: Ein einheitliches Instrument war gefordert, mit demVorfälle erfasst, bewertet und verschiedenen Schwere-Kategorien zugeordnet werden können. 2011 publizierte der Bündner Spital- und Heimverband zusammen mit der Konferenz Kinder und Jugend die erste Version des Handbuchs. Längst müssen sich im Kanton Graubünden alle Institutionen im Kinder- und Jugendbereich an dessen Standards halten. Auch der Kanton Bern empfiehlt inzwischen den Bündner Standard in seinen «Richtlinien zur Meldung, Bewilligung und Aufsicht von stationaren und ambulanten Leistungen fur Kinder und Jugendliche» als «erprobtes Instrument». Der grosse Vorteil sei, erklärt Bässler: «Der Standard verleiht allen eine gemeinsame Sprache.» Inzwischen ist die zweite, aktualisierte und erweiterte Auflage von 2017 ausverkauft. Und der neue digitalisierte Standard wächst weit über seine anfängliche Bestimmung hinaus. Er war bei seiner Erscheinung 2011 richtungsweisend und bleibt dank der Online-­ Version auch künftig «up to date». Inmitten der massiven und beständigen Bergketten im Kanton Graubünden entstand so ein Bündner Produkt, das jung und flexibel bleibt und soziale Institutionen darin unterstützt, Grenzverletzungen zu vermeiden. Oder zumindest professionell damit umzugehen. «Nur schon über Grenzverletzungen zu reden, ist ein wichtiger Fortschritt und wirkt präventiv: Institutionen müssen sich weitreichende Gedanken über ihre Abläufe machen und wissen, welche Werte bei ihnen zählen.» Beat Zindel Im Fokus

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