Gewalt verhindern Magazin ARTISET 1-2 2023

24 ARTISET 01/02 I 2023 Im Fokus Zwölf Jahre sind vergangen, seit der «Fall H. S.» im Kanton Bern bekannt wurde: Der Berner Sozialtherapeut hatte jahrelang in verschiedenen Heimen ihm anvertraute Menschen sexuell misshandelt. Unmittelbar nach Bekanntwerden der Vorwürfe haben zwölf Verbände, Organisationen und Institutionen die «Charta zur Prävention von sexueller Ausbeutung, Missbrauch und anderen Grenzverletzungen» unterzeichnet. Darin sind seither die zehn wichtigsten Grundsätze zum Verhindern solcher Vorfälle festgehalten. Wie gut aber schützt unsere Gesellschaft insgesamt Menschen mit Behinderung vor Grenzverletzungen? Die Solothurner SP-Nationalrätin Franziska Roth, ausgebildete Heilpädagogin, wollte es genau wissen und reichte im Juni 2020 ein Postulat ein, das einen Bericht zum Thema «Gewalt an Menschen mit Behinderung in der Schweiz» fordert: Dieser soll zeigen, wie stark Menschen mit Behinderungen von Gewalt, Vernachlässigung und Grenzüberschreitungen betroffen sind, wie solche Fälle vermieden oder wenigstens besser erfasst werden können und wie die Betreuung und Nachsorge von Betroffenen verbessert werden kann. Das sei dringend nötig, erklärt Franziska Roth auf Anfrage: «Leider müssen wir davon ausgehen, dass auch in der Schweiz Menschen mit Behinderungen überdurchschnittlich oft von Gewalt betroffen sind.» Die Studie Mayrhofer im Auftrag des österreichischen Sozialministeriums 2019 zeigte beispielsweise, dass mehr als 75 Prozent aller Menschen mit Behinderungen in ihrem Leben von physischer Gewalt betroffen sind, allein 44 Prozent von sexualisierter Gewalt. Den Grund dafür sieht Roth in mehreren Faktoren: «Menschen mit Behinderungen stehen in starken Abhängigkeitsverhältnissen zu ihrem Umfeld.» Der Fokus für diese Tatsache fehle allerdings in der Ausbildung von betreuenden und begleiteten Personen. Das gelte es dringend zu ändern: «Die Kostenträger müssen den Einrichtungen Prävention für Ihre Angestellten vorschreiben!» In Fachkreisen löst das Postulat ein positives Echo aus: «Wir hoffen, dass die Resultate des Berichts zum Postulat auch auf politischer Ebene aufzeigen, was noch fehlt», sagt Matthias Spalinger, Koordinator Fachstelle Prävention von Anthrosocial, dem nationalen Verband für anthroposophische Heilpädagogik, Sozialpädagogik und Sozialpsychiatrie. Vieles sei bereits gelaufen in den letzten Jahren, aber es fehle auch noch einiges: Beispielsweise gebe es noch sehr wenige unabhängige Anlauf- und Beratungsstellen, die direkt und einfach für Menschen mit Unterstützungsbedarf zugänglich seien. Grosser Bedarf an Fachwissen Auch mehr professionelle Vorgehensberatung fände Spalinger hilfreich: «Bei einem Vorfall sexualisierter Gewalt tritt oft eine grosse Überforderung ein», sagt er. Da breche eine wahre Lawine an Aufgaben und Fragen los: «Ein solcher Fall ist so belastend und komplex, dass es sehr hilfreich wäre, wenn spezialisierte Beratende die Organisationen durch den Prozess führten.» Gewaltpräven Leitungssach Heute haben die meisten Institutionen für Menschen mit Behinderung ein Konzept, um Grenzverletzungen zu vermeiden. Das Postulat von SP-Nationalrätin Franziska Roth ist in Fachkreisen dennoch willkommen: Es soll noch genauer zeigen, wie es um den Schutz vor Gewalt steht. Und was künftig noch nötig ist. Von Claudia Weiss

RkJQdWJsaXNoZXIy MTY2NjEzOQ==