ARTISET 01/02 I 2023 9 Im Fokus Gewalt gegenüber alten Menschen findet längst nicht nur in Form von körperlichen Misshandlungen statt, sondern weit häufiger als subtile Missachtung. «Das passiert oft deshalb, weil man alten Menschen abspricht, dass sie noch eigene Bedürfnisse haben», erklärt Psychologin Delphine Roulet Schwab*. Sie schlägt vor, unbedingt bereits in der Berufsbildung den Blick dafür zu öffnen. Interview: Claudia Weiss «Nicht nur alt, sondern alte Persönlichkeiten!» Sie forschen seit 20 Jahren auf dem Gebiet Gewalt im Alter und haben zahlreiche Studien publiziert. Gibt es etwas rund um dieses Thema, das Sie noch heute überrascht? Delphine Roulet Schwab: Schon als ich während meines Psychologiestudiums als Pflegehilfe in einem Altersheim gearbeitet habe, wunderte ich mich darüber, wie jemand «ganz Normales», jemand wie Sie und ich, plötzlich fähig ist, gegenüber einer wehrlosen Person Gewalt auszuüben. Und noch wichtiger ist natürlich die Frage, wie man das verhindern kann. Diese Frage beschäftigt mich bis heute. Im Lauf Ihrer Forschungstätigkeit haben Sie allerdings auch diverse Antworten gefunden. Wichtig ist, dass wir uns stets bewusst sind: Längst steckt nicht immer eine böse Absicht hinter Gewalttätigkeit, sondern manche übergriffigen Verhaltensweisen geschehen auch eigentlich in guter Absicht. Aber das Hauptmotiv für Gewalt ist, dass wir den alten Menschen automatisch ihren Willen und ihre Wünsche absprechen! Natürlich wird beispielsweise durch eine Alzheimererkrankung die Autonomie der Betroffenen eingeschränkt, aber wir sprechen diese oft auch allen anderen alten Menschen ab. Sie sprechen also von einer klaren Altersdiskriminierung? Ja, Altersdiskriminierung ist ein wichtiger sozialer Aspekt: Diese negative Bewertung, die Tatsache, dass alle von vornherein in denselbenTopf geworfen werden. Dass «alt» sofort mit «fragil und verletzlich» konnotiert wird und dass sich irgendwie in unseren Köpfen die Idee eingenistet hat, die Persönlichkeit verschwinde im Alter – man ist dann nicht mehr eine alte Persönlichkeit, sondern nur noch alt. Dasselbe passiert oft in Institutionen: Sie sind grosse Maschinen, die funktionieren müssen und in die sich alte Menschen irgendwie einfügen müssen.
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