Herausforderndes Verhalten – wie reagieren | Magazin ARTISET | 10-11 2024

ARTISET Das Magazin der Dienstleister für Menschen mit Unterstützungsbedarf Im Fokus Herausforderndes Verhalten – wie reagieren? Ausgabe 10/11 I 2024 Restaurant «Elefant» in Baar ZG: Vielfältige Ausbildungen im Gastrobereich Menschen mit Beeinträchtigungen bis in den Tod begleiten Daniel Höchli und Marianne Pfister erläutern ihr Ja zur einheitlichen Finanzierung

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ARTISET 10/11 I 2024 3 Editorial «Mit herausfordernden Verhaltensweisen verleihen Menschen oft ihrem Nicht-Verstanden-Werden Ausdruck.» Elisabeth Seifert, Chefredaktorin Liebe Leserin, lieber Leser Wir alle möchten verstanden werden. Und wenn wir uns für einmal nicht verstanden fühlen, insbesondere von Menschen, die uns tagtäglich umgeben, unseren Angehörigen, Freunden, auch von unseren Kollegen am Arbeitsplatz, dann fühlen wir uns unwohl, unzufrieden, wir ziehen uns in der Folge vielleicht sogar zurück oder begehren auf. Wenn es schon uns so geht, wie dann erst jenen, die sich aufgrund schwerer kognitiver Beeinträchtigungen oder auch traumatischer Erlebnisse nicht verstanden fühlen und sich kaum verständlich machen können. Es stellt sich dann schnell eine Traurigkeit, Verzweiflung oder auch Leere ein. Wenn diese Menschen um sich schlagen, schreien oder sich sonst irgendwie auffällig benehmen, wollen sie niemandem bewusst etwas zu Leide tun. Mit herausfordernden Verhaltensweisen verleihen sie oft vielmehr ihrem Nicht-Verstanden-Werden Ausdruck und machen auf unbefriedigte Bedürfnisse aufmerksam. Eine breite Erfahrung im Umgang mit diesen Personen haben Institutionen und Fachpersonen, die Menschen mit schweren Behinderungen begleiten. Mit Rahel Huber, Bildungsbeauftragte Sozialpädagogik von Artiset Bildung, und Angelika Voigt, Heimleiterin des Wohnheims Sonnegarte in St. Urban LU, konnten wir zwei ausgewiesene Expertinnen für einen Beitrag gewinnen (Seite 17). Sie zeigen auf, wie es gelingt, tragfähige Beziehungen mit diesen Menschen aufzubauen und sie so immer besser verstehen zu lernen. Ein weiterer wichtiger Aspekt, um sich wohlzufühlen, ist die Vermittlung von Sicherheit und Orientierung. Beide Aspekte, ein stabiles Umfeld sowie der Aufbau von Beziehungen, sind auch in der Begleitung und Betreuung von schwer traumatisierten jungen Menschen von zentraler Bedeutung, wie unser Bericht über das Schlupfhuus in Zürich deutlich macht (Seite 14). Dieses sozialpädagogische Know-how kann gerade auch in Pflegeinstitutionen, die Menschen mit Demenz begleiten, eine grosse Hilfe sein: Verschiedene Heime haben sich bereits auf den Weg gemacht, so etwa die Alters- und Pflegeheime Glarus Nord (Seite 6). Die beiden Pflegewissenschaftlerinnen Franziska Zúñiga und Brigitte Benkert unterstreichen, dass sich hinter heraufordernden Verhaltensweisen von Menschen mit Demenz oft unbefriedigte emotionale, psychische oder soziale Bedürfnisse verbergen. In der Pflege und Betreuung gelte es, diese noch besser zu erkennen und dann entsprechend darauf zu reagieren. Titelbild: Hinter herausfordernden Verhaltensweisen verbergen sich oft unbefriedigte emotionale oder soziale Bedürfnisse. Foto: Symbolbild/Marco Zanoni THEMENHEFT IM DEZEMBER Anstatt der regulären Ausgabe des Magazins Artiset werden Sie im Dezember eine Sonderausgabe zum Thema «Koordinierte Betreuung im Alter» in Ihren Händen halten. Die monothematische Ausgabe entsteht derzeit in Zusammenarbeit von neun Organisationen und Verbänden, die sich alle für ein würdevolles Altern einsetzen: Artiset mit Curaviva, Paul Schiller Stiftung, Pro Senectute, Alzheimer Schweiz, Gerontologie.ch, Entlastungsdienst, Schweizerisches Rotes Kreuz, Senesuisse, Spitex Schweiz. Die Idee zu einer organisationsübergreifenden Publikation ist vor dem Hintergrund entstanden, dass es für gut funktionierende und adäquate Angebote für Menschen mit Unterstützungsbedarf vielfach die Kooperation und das Engagement verschiedener Akteure benötigt. Das Thema «Betreuung im Alter» haben wir aufgrund der hohen politischen und fachlichen Aktualität gewählt.

Genau das. Bye bye Sorgen – Hallo Pistor Sie kämpfen mit ausstehenden und unvollständigen Lieferungen? Mit Pistor als Ihre Grosshandelspartnerin müssen Sie nicht mit leeren Kochtöpfen kochen. Verlassen Sie sich auf uns – wir halten, was wir versprechen. Hier mehr erfahren: pistor.ch/heimbedarf zur einheitlichen Finanzierung 24. November ja Kosten senken, Versorgung stärken. Für die Langzeitpflege ist diese Abstimmung zentral, denn: • das Sondersetting für die Pflege wird aufgehoben. Die Pflege wird aufgewertet und ist nicht mehr länger nur der verlängerte Arm der Medizin. • die Entwicklung einer integrierten Versorgung in der Pflege vom angestammten Zuhause über das betreute Wohnen bis zum Pflegeheim wird gefördert. • die Leistungserbringer sitzen neu mit Versicherern und Kantonen an einem Tisch und verhandeln die Tarife zur Abgeltung der Pflegeleistungen. Mit Ihrem JA helfen Sie mit, die Gesundheitsversorgung auf ein neues, tragfähiges Finanzierungsfundament zu setzen. Am 24. November stimmen wir über die einheitliche Finanzierung aller Gesundheits- leistungen in Medizin und Pflege ab.

Inhalt ARTISET 10/11 I 2024 5 Impressum: Redaktion: Elisabeth Seifert (esf), Chefredaktorin; Salomé Zimmermann (sz); Anne-Marie Nicole (amn); France Santi (fsa); Jenny Nerlich (jne) • Korrektorat: Beat Zaugg • Herausgeber: ARTISET • 3. Jahrgang • Adresse: ARTISET, Zieglerstrasse 53, 3007 Bern • Telefon: 031 385 33 33, E-Mail: info@artiset.ch, artiset.ch/ Magazin • Geschäfts-/Stelleninserate: Zürichsee Werbe AG, Fachmedien, Tiefenaustrasse 2, 8640 Rapperswil, Telefon: 044 928 56 53, E-Mail: markus.haas@ fachmedien.ch • Vorstufe und Druck: AST&FISCHER AG, Seftigenstrasse 310, 3084 Wabern, Telefon: 0319631111 • Abonnemente: ARTISET, Telefon: 03138533 33, E-Mail: info@artiset.ch • Jahresabonnement Fr. 125.– • Erscheinungsweise: 8 × deutsch (je 4600 Ex.), 4 × französisch (je 1400 Ex.) pro Jahr • WEMF/KS-Beglaubigung 2024 (nur deutsch): 3426 Ex. (davon verkauft 3398 Ex.) • ISSN: 2813-1355 • Nachdruck, auch auszugsweise, nur nach Absprache mit der Redaktion und mit vollständiger Quellenangabe. Im Fokus 06 Ein Pflegeheim macht vor, wie auffälliges Verhalten reduziert werden kann 09 Menschen mit Demenz: Zwei Expertinnen erläutern, was zur Beruhigung beiträgt 14 Schlupfhuus Zürich: Wie traumatisierte junge Menschen zur Ruhe kommen 17 Menschen mit schweren kognitiven Beeinträchtigungen verstehen lernen 20 Brühlgut Winterthur: Gute Bedingungen für Menschen mit Autismus 22 Eine Mutter erzählt, wie ihr Leben von ihrer Tochter mit Autismus geprägt wird kurz & knapp 24 Neue Plattform für Inklusionsprojekte Aktuell 26 Messe Swiss Abilities in Luzern 29 Plädoyer für die einheitliche Finanzierung 30 Palliative Care für Menschen mit Behinderung 36 Gutes Leben in Organisationen 38 Ausbildungen im Gastro-Bereich 40 Partizipative Führung im Generationenhaus Neubad in Basel 43 Care Report unterstützt Datenanalyse Politische Feder 46 Marianne Streiff und Laurent Wehrli, Co-Präsidium Artiset 14 29 46

6 ARTISET 10/11 I 2024 Es passiert selten etwas ohne Grund Kommunikation wird in den Alters- und Pflegeheimen Glarus Nord grossgeschrieben. Für Harald Klein, Geschäftsleiter und Präsident Artiset Glarus, Raphael Baumgartner, den Leiter Pflegedienst, Sepp Gallati, stv. Leiter Technischer Dienst (von links), und die ganze Belegschaft gehört ein intensiver Austausch zum Alltag.

ARTISET 10/11 I 2024 7 Im Fokus Was tun, wenn in einer Institution lebende Betagte um sich schlagen, beissen, handgreiflich werden? In den Alters- und Pflegeheimen Glarus Nord lautet das oberste Gebot: hinschauen, präsent sein, kommunizieren. Die Erfahrung zeigt: Nur so ist es möglich, Eskalationen beizukommen und eine Atmosphäre zu schaffen, in der Aggressionen gar keinen Nährboden haben. Von Tanja Aebli (Text und Foto) Wer die vollautomatisierte Glastür des Alters- und Pflegeheims Letz in Näfels passiert, macht den ersten Schritt auf orange-rotem Linoleum. Der leuchtend warme Boden führt vom Empfang bis weit hinten zu den Arztpraxen, wo ein Augenarzt, zwei Allgemeinpraktiker und der Heimarzt niedergelassen sind. Ebenfalls vor Ort: Praxen für Physiotherapie und Fusspflege, ein Coiffeur, die Spitex, Pro Senectute und Alzheimer Glarus. Jung und Alt gehen in diesem brandneuen, einladenden Gesundheitszentrum mitten im Dorf ein und aus: einige mit schnellem Schritt und fixem Ziel, andere in gemütlichem Tempo, gestützt auf einen Rollator. Ein älterer Mann hat sich in einem der Sessel mit Blick auf den Empfang positioniert, beobachtet die Freilandhühner und die Hasen vor der weitläufigen Fensterfront und das emsige Treiben im langen Gang. Er mustert und grüsst jeden Passanten, diesmal den nicht zu übersehenden Harald Klein, seines Zeichens Präsident von Artiset Glarus und Leiter der Alters- und Pflegeheime Glarus Nord – einem Zusammenschluss dreier Institutionen, zu denen auch das Alters- und Pflegeheim Letz gehört. Im vor zwei Jahren eröffneten Neubau befinden sich zwei Demenzstationen à 18 und 19 Seniorinnen und Senioren, die in sechs Wohngruppen aufgeteilt werden können. Heute ist es hier ausgesprochen ruhig, einige laufen im Gemeinschaftsraum herum, andere unterhalten sich mit Pflegefachleuten, eine Frau hält ein Nickerchen, eine andere starrt gebannt aus dem Fenster. «Es ist hier ein bisschen wie in einer WG», sagt Raphael Baumgartner, Leiter Pflegedienst und Mitglied der Geschäftsleitung. Mit allen Pros und Contras: Manchmal prallen Menschen aufeinander, Meinungen, Vorlieben, Launen, Ideen. Manchmal wird gelacht und geschäkert, manchmal wird es laut, ungemütlich, selten auch gefährlich. Eine Infrastruktur mit Optionen Diesem Wissen um die Herausforderung des Zusammenlebens unterschiedlicher Individuen, die vor dem Heimeintritt teils mehrere Jahre allein gelebt haben, wurde bereits bei der Planung des Neubaus Rechnung getragen: Auf dem ganzen Stock gibt es abgeschirmte Zonen, um Ruhe zu finden und sich zurückzuziehen. Da sind Plüschtiere und Sofas, ein Massagestuhl mit integrierten Musikboxen, der aufgebrachte Bewohner/-innen im Nu zu besänftigen vermag, oder der umzäunte Demenzgarten mit angrenzendem Hühnergehege, wo vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang beste Unterhaltung garantiert ist. Harald Klein und Raphael Baumgartner grüssen auf ihrem Rundgang durch die Abteilung jeden Passanten, mit den Mitarbeitenden sind die beiden per Du. Man kennt sich, tauscht sich aus, spricht die gleiche Sprache, verfolgt das gleiche Ziel. Und doch: Nicht immer ist es auf den Demenzabteilungen so ruhig und friedlich wie heute. Bisswunden, blaue Flecken oder weitere Verletzungen – auch solche seelischer Natur – sind zwar nicht an der Tagesordnung, aber doch genügend häufig, um das Thema «herausforderndes Verhalten» zur obersten Priorität zu erklären. Reflektieren und experimentieren Wie umgehen mit Aggressionen und Handgreiflichkeiten, wenn es hart auf hart geht? «In einer akuten Situation», so Geschäftsführer Harald Klein, «macht es meist Sinn, sich kurz auszuklinken und sich erst einmal einen klaren Kopf zu verschaffen.» Dies kann eine weitere Eskalation verhindern bzw. die Wogen glätten. Der nächste Schritt ist dann bereits etwas weniger offensichtlich bzw. erfordert Erfahrung und die Bereitschaft, zu experimentieren. Vielleicht ist es zielführend, dass eine andere Person aus dem Team übernimmt oder ein Hilfsmittel zum Einsatz kommt: ein beruhigender Duft, der Massagesessel oder ein Spaziergang durch den Garten. Die Fachleute der Alters- und Pflegeheime Glarus Nord setzen noch viel früher an, damit es gar nicht erst zu Stress, Unzufriedenheit und damit einhergehenden Verhaltensauffälligkeiten kommt. Bei regulären Eintritten heisst es zuhören, worauf jemand Wert legt und wo der Schuh drückt. «Die meisten Neueintritte erfolgen direkt ab Spital, weil eine Rückkehr nach Hause nicht mehr möglich ist. Unsere Arbeit beginnt, noch bevor die betroffene Person bei uns ist», sagt Pflegedienstleiter Raphael Baumgartner. An Rundtischgesprächen tauschen sich die Fachkräfte aus dem Heim mit all jenen aus, die mit der einzuweisenden, manchmal nicht mehr urteilsfähigen Person in Kontakt stehen: mit

8 ARTISET 10/11 I 2024 Angehörigen, Hausärzten, Fachleuten aus dem Spital und weiteren involvierte Stellen. Es geht darum, gesundheitlich relevante Informationen zusammenzutragen, aber auch biografische Schlüsselereignisse, Gewohnheiten oder spezielle Befindlichkeiten. «Diese intensiven Vorabklärungen sind die beste Form von Prävention», zeigt sich Raphael Baumgartner überzeugt. Und auch der konstante hausinterne Austausch zwischen Fachkräften und Disziplinen hilft, für Betroffene ein adäquates, auf sie abgestimmtes Umfeld zu schaffen. «Bei uns steht der Mensch und nicht die Krankheit im Vordergrund. Je besser wir eine Person kennen, desto eher lassen sich Stresssituationen und Verhaltensauffälligkeiten vermeiden», ergänzt Harald Klein. «Wir begegnen den Menschen auf Augenhöhe, unabhängig von ihrer Geschichte, ihrem Verhalten oder ihrem sozialökonomischen Status.» Kommunikation, Präsenz, Zusammenarbeit Ein grosses Plus ist auch, dass der Hausarzt direkt vor Ort ist und bei akuten Problemen sich das Pflegepersonal direkt an ihn wenden kann – selbst an Wochenenden und Feiertagen. Das verhindert Eskalationen und Hospitalisationen, die für Betroffene zusätzlichen Stress mit sich bringen. Heimarzt Roman Hauser nennt zwei Rezepte für ein gutes Miteinander auf den Abteilungen: «Präsenz und Kommunikation». Zweimal pro Woche ist der Heimarzt an allen drei Standorten auf den Stationen, bespricht Probleme und passt Medikamente an. Um Eskalationen frühzeitig zu verhindern, setzen die Alters- und Pflegeheime Glarus Nord auf verschiedener Ebene an. Ob in der Cafeteria, im technischen Dienst, der Reinigung, der Administration, der Küche oder in der Pflege: Alle Angestellten durchlaufen nach Stellenantritt einen dreitägigen Grundkurs zum Thema Demenz. Zudem können sämtliche Mitarbeitenden ein Coaching oder eine Supervision in Anspruch nehmen. Denn gerade die Mitarbeitenden haben eine Schlüsselrolle inne. «Menschen mit Demenz merken rasch, wenn eine Betreuungsperson gestresst ist. Deshalb müssen wir als Institution einen Rahmen schaffen, in dem sie ihren Job gut machen können und sich sicher fühlen», betont Raphael Baumgartner. Das beginnt mit sorgfältig erstellten Dienstplänen, die Raum für Erholung gewähren, geht über einen adäquaten Personalschlüssel bis hin zu einer Unternehmenskultur, in der Teamarbeit, Vertrauen und Austausch viel Raum einnehmen. Manchmal hilft es, jemanden aus der Schusslinie zu nehmen oder mit einem Klienten in einer anderen Abteilung bzw. an einem anderen Standort, der besser auf seine Bedürfnisse abgestimmt ist, einen Neustart zu wagen. «Ich bin regelmässig an allen drei Standorten vor Ort, um in Erfahrung zu bringen, wie hoch die Belastung ist und wo es zu Grenzüberschreitungen kommt», so Baumgartner. Und im Notfall ist er auch mitten in der Nacht zur Stelle. Obwohl Mitarbeitende ermutigt werden, Übergriffe und Verhaltensauffälligkeiten seitens der Patienten sofort zu melden, ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. «Gerade Menschen aus anderen Kulturkreisen wagen sich zum Teil nicht, solche Vorfälle zu melden», gibt Baumgartner zu bedenken. Hier gelte es Vertrauen zu schaffen, denn eine sorgfältige Dokumentation von Vorfällen kann helfen, frühzeitig Massnahmen zu treffen. Langzeitpflege bedeutet Beziehungspflege Den vielen strukturellen und konzeptionellen Absicherungen zum Trotz: Manchmal braucht es viel Detektivarbeit, um einem Problem auf die Schliche zu kommen. Und auch das gelingt im Team besser als im Alleingang. Oft liegt der Schlüssel zur Beilegung eines Problems in der Biografie. Wie bei jenem Mann, der immer um 1.30 Uhr in der Nacht aufgebracht am Bett rüttelte – der Zeit, als er früher als Bäcker seine Arbeit aufnahm, wie Nachforschungen ergaben. Als man ihn in aller Früh aufstehen und Wäsche zusammenlegen liess, war das Problem behoben. «Eine Verhaltensauffälligkeit geht häufig auf starke Emotionen aus der Vergangenheit zurück», führt Baumgartner weiter aus. «Es passiert selten etwas völlig grundlos.» Manchmal, so Heimleiter Harald Klein, gelange man hausintern aber auch an Grenzen. Dann werden externe Fachpersonen beigezogen. Und auch die Ideen und Inspirationen der derzeit 26 Lernenden/Studenten, die ihr Knowhow bei verschiedenen Einrichtungen erlangen, kommen dem Alters- und Pflegeheim Glarus Nord zugute. Im Gegensatz zu anderen Institutionen können die Alters- und Pflegeheime Glarus Nord aufgrund der kantonalen Aufnahmepflicht «schwierige» Fälle nicht einfach ablehnen. Harald Klein mag den Terminus ohnehin nicht: «Viele Patienten erhalten den ‹Schwierig-Stempel›. Ich rede lieber von spannenden Patienten. In unserer Institution mögen wir Herausforderungen, das gehört zu unserem Berufsstolz.» «Je besser wir eine Person kennen, desto eher lassen sich Stresssituationen und Verhaltensauffälligkeiten vermeiden. Wir begegnen den Menschen auf Augenhöhe, unabhängig von ihrer Geschichte, ihrem Verhalten oder ihrem sozialökonomischen Status.» Harald Klein, Leiter Alters- und Pflegeheime Glarus Nord

ARTISET 10/11 I 2024 9 Im Fokus Menschen mit Demenz zeigen Verhaltensauffälligkeiten, die gerade auch innerhalb eines Pflegeheims sehr belastend sein können. Franziska Zúñiga und Brigitte Benkert, Pflegewissenschaftlerinnen an der Uni Basel*, erörtern die Problematik – und zeigen auf, was die Politik und die Heime unternehmen können, um belastende Situationen möglichst zu reduzieren. Interview: Elisabeth Seifert « Die Person schätzen und ihr auf Augenhöhe begegnen» Frau Zúñiga, Frau Benkert: Herausforderndes Verhalten kommt bei Menschen mit Demenz häufig vor. Warum eigentlich? Franziska Zúñiga: Demenz ist eine chronisch fortschreitende Hirnerkrankung. Es können verschiedene Bereiche im zentralen Nervensystem betroffen sind. Je nach betroffener Hirnregion kann neben den kognitiven Symptomen eine Vielfalt von Begleitsymptomen auftreten. Man spricht hier von den BPSD-Symptomen, den Behavioural and Psychological Symptoms of Dementia. Können Sie diese Symptome näher erläutern? Zúñiga: Es geht um Symptome im Bereich des Verhaltens und der Psyche. Zu den BPSD-Symptomen auf der Seite des Verhaltens gehören unter anderem Agitation, Aggression, sozialer Rückzug, Apathie, Herumwandern oder sexuelle Enthemmung. Bei den psychologischen Symptomen handelt es sich zum Beispiel um Depression, Euphorie, Angst, Wahn und Halluzinationen. Brigitte Benkert: Man spricht beispielsweise auch von affektiv bedingten BPSD-Symptomen wie Depression, Apathie, Angst, Affektlabilität und Reizbarkeit; von psychotischen Symptomen, wozu Wahn und Halluzination gehören; von psychomotorischen Symptomen, wie Bewegungsdrang, Agitation und Aggressivität; und von Schlafveränderungen, wie der zirkadian bedingten Tag-Nacht-Umkehr, sowie dem Sundowning Syndrom. Etliche dieser Symptome können gerade auch innerhalb eines Pflegeheims zu einer grossen Herausforderung führen. Benkert: Ein Stressfaktor für das Pflegepersonal ist gerade auch die Tag-NachtUmkehr. In der Nacht ist der Personalspiegel tiefer. Die Nachtwachen auf den Stationen können keine Beschäftigung und Eins-zu-eins-Betreuung wie am Tag anbieten. In der Folge löst dies oft aggressives Verhalten aus. Zúñiga: Belastend ist es auch, wenn jemand dauernd ruft oder schreit. Oder wenn jemand sehr unruhig ist, ständig herumwandert und auch in die Zimmer anderer Bewohnenden geht. Auch aggressives Verhalten wie Kneifen, Zwicken oder Schlagen sowie die sexuelle Enthemmung bedeuten eine grosse Herausforderung. Wie oft kommen die BPSD-­ Symptome vor? Zúñiga: Apathie und Depression kommen am häufigsten vor. Im Vordergrund stehen damit oft gar nicht unbedingt die für ein Heim besonders belastenden Symptome wie das Herumwandern oder Aggressionen. Benkert: Je nach Krankheit und je nach dem Stadium der Krankheit verändern sich die Symptome. Bei einer leichteren Demenz treten weniger Verhaltensauffälligkeiten auf als bei einer mittleren Demenz. Und bei einem ganz schweren Verlauf respektive im Endstadium der Erkrankung tritt zum Beispiel der Bewegungsdrang wiederum in den Hintergrund, im Vordergrund stehen dann oft Depression und Apathie. Was lässt sich gerade bei den für das Pflegepersonal und auch die anderen Bewohnenden besonders belastenden Symptomen unternehmen? Zúñiga: Es ist zunächst sehr wichtig, sich zu fragen, wo die Auslöser für solche Verhaltensweisen liegen. Auslöser für BPSD-­ Symptome sind einerseits hirnorganisch bedingt und lassen sich nicht beeinflussen. Zum anderen aber sind die Auslöser

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ARTISET 10/11 I 2024 11 Antipsychotika werden also öfter verabreicht, als dies angezeigt wäre? Zúñiga: Es gibt Situationen, in denen Antipsychotika vorübergehend gut sind. Und zwar in Extremsituationen, in denen jemand sich selbst oder andere gefährdet. Bis man herausgefunden hat, wie man mit einer solchen Situation umgehen soll, können Antipsychotika vorübergehend Sinn machen. Dann muss man diese aber auch wieder absetzen. Aber ja, wenn man die Antipsychotika-Rate in der Schweiz anschaut, dann ist diese hoch. Wir haben hier ein Thema, die Heime können dieses aber nicht allein angehen. Benkert: Um Antipsychotika reduzieren zu können, ist die Pflege ganz besonders auf Ärztinnen und Ärzte angewiesen, die das nötige Wissen darüber haben, welche Antipsychotika in welchen Situationen eingesetzt werden können und welche nicht. Wir stellen fest, dass oft das Hausarztsystem ein Problem darstellt und dass weniger Antipsychotika zum Einsatz kommen, wenn ein Heim Zugang hat zu Heimärztinnen und Heimärzten, die ein vertieftes geriatrisches Wissen mitbringen. Wichtig ist auch der Zugang zu spezialisierten Ärzten und Ärztinnen der Geriatrie, der Gerontopsychiatrie. Wo liegt die Problematik des Einsatzes von Antipsychotika? Zúñiga: Antipsychotika erhöhen die Mortalität der Bewohnenden, sie erhöhen auch das Risiko für cerebrovaskuläre Ereignisse, etwa Hirnschlag, Pneumonie und Stürze. Und zudem: Antipsychotika haben einen starken Effekt auf die Psyche, sie verändern das Denken, und der kognitive Abbau wird verstärkt. Benkert: Aus diesen Gründen wird in den Richtlinien die Verabreichung sehr genau definiert. Es braucht unter anderem eine gesicherte und differenzierte Diagnostik. Und zudem, wie wir bereits gesagt haben, dürfen diese Medikamente erst dann eingesetzt werden, wenn alle nicht-medikamentösen Massnahmen nichts nützen. Und ganz wichtig ist es auch, die Verabreichung zu evaluieren und die Medikamente wieder abzusetzen. Was ist zu tun? Zúñiga: Auf der politischen Ebene könnte man sich überlegen, Anreizsysteme einführen, um die Antipsychotika-Rate zu reduzieren. Dies würde beinhalten, dass man zunächst einmal überhaupt misst, wie viele Antipsychotika verabreicht werden. Gewisse Kantone, zum Beispiel Basel-Stadt und Freiburg, machen das bereits. Hat eine solche Messung dann zur Folge, dass mehr Ressourcen gesprochen werden? Zúñiga: Mit einer solchen Messung schafft man zunächst Transparenz als Basis für Anreize. Die Kantone könnten dann Zuschläge zusprechen für Abteilungen, die sich auf Menschen mit Demenz und BPSD konzentrieren und dies belegen können. Die Kantone könnten also etwas unternehmen, damit Menschen mit Demenz die Betreuung bekommen, die sie brauchen. Und zudem müssen wir den Zugang zur Fachexpertise verbessern. Benkert: Die Finanzierung ist gerade auch in der Betreuung von Menschen mit Demenz ein grosses Thema. Sie hat einen direkten Einfluss auf den Stellenschlüssel und auch darauf, ob ein Heim einen Fachexperten oder eine Fachexpertin anstellen kann. Es braucht einen verbesserten Zugang zur Fachexpertise, besonders zu einem spezialisierten Heimarzt oder einer Heimärztin. Wie wird das möglich? Zúñiga: Neben der Finanzierung besteht ein weiteres Problem darin, dass der Fachkräftemangel auch die Gerontopsychiatrie betrifft. Auf diesem Gebiet fehlt der Nachwuchs. Wir müssen zum einen dafür sorgen, «Um Antipsychotika reduzieren zu können, ist die Pflege ganz besonders auf Ärztinnen und Ärzte angewiesen, die das nötige Wissen darüber haben, welche Antipsychotika in welchen Situationen eingesetzt werden können und welche nicht.» Brigitte Benkert Im Fokus

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ARTISET 10/11 I 2024 13 dass es wieder vermehrt entsprechende Fachärztinnen und Fachärzte gibt. Und zum anderen müssen wir regionale Netzwerke schaffen, die einen Zugang zur Gerontopsychiatrie ermöglichen. Solche regionalen Organisationen könnten die Kantone an die Hand nehmen, eventuell in Zusammenarbeit mit Kantonalverbänden. Um die Pflegeheime zu unterstützen, überarbeiten Sie derzeit gemeinsam mit dem Branchenverband Curaviva einen Leitfaden, der den Pflegenden vor Ort helfen soll, herausforderndem Verhalten zu begegnen. Was gibt es hier für Möglichkeiten? Zúñiga: Wie ich bereits erwähnt habe, werden wir in diesem Leitfaden aufzeigen, wie wichtig ein strukturiertes Vorgehen ist, um eine Situation zuerst zu analysieren und dann die zielführenden Massnahmen zu definieren. Zum Beispiel mit dem genannten Instrument «Serial Trial Intervention». Zudem wollen wir ansprechen, dass der Umgang mit BPSD ein interprofessionelles Thema ist. Die Pflegenden haben eine wichtige Rolle. Je nach Situation braucht es eine zusätzliche Fachexpertise, den Zugang zu einer Pflegeexpertin zum Beispiel oder zu einem Gerontopsychiater. Weiter ist entscheidend, dass die Behandlung von BPSD-Symptomen eingebettet ist in eine personenzentrierte Pflege. Weshalb ist eine solche personenzentrierte Pflege und Betreuung gerade bei Menschen mit Demenz so wichtig? Zúñiga: Personenzentriertheit hat neben einem bestimmten Fachwissen vor allem mit einer Grundhaltung zu tun. Man geht dann davon aus, dass ein Mensch mit Demenz, der mich schlägt, mir nicht einfach etwas Böses tun will. Sondern ich weiss, dass es einen bestimmten Auslöser für sein Verhalten gibt. Personenzentriertheit heisst, dass ich interessiert bin an der Person und seiner Geschichte. Ich möchte herausfinden, was ihn oder sie beschäftigt. Und aus dieser Grundhaltung heraus eröffnen sich mir Handlungsmöglichkeiten. Benkert: Es geht darum, einen Menschen mit Demenz als Person ernst zu nehmen, sie zu schätzen und ihr auf Augenhöhe zu begegnen. Im Umgang mit Menschen mit Demenz ist eine besonders wertschätzende Art der Kommunikation erforderlich, geeignet ist hier die Anwendung der Validation. Die Haltung und der Blickwinkel der Pflegenden verändern sich, wenn die Methode der Validation angewendet wird. Der Blick richtet sich auf die Persönlichkeit und ihre Ressourcen und ist weniger auf bestimmte Symptome und Defizite fokussiert. Die Pflegenden erkennen Bedürfnisse besser und können entsprechend handeln. Welche Rolle spielen neben einer personenzentrierten Pflege auch nicht-pharmakologische Therapien? Benkert: Mit solchen Therapien lassen sich Emotionen regulieren. Musik hören, musizieren und sich zur Musik bewegen können Angebote sein, die helfen. Auf Demenzabteilungen hat man auch festgestellt, dass das gemeinsame Singen positive Gefühle auslöst. Erfahrungen und auch Studien belegen weiter den Wert der Aromapflege: Orange wirkt etwa schlaffördernd und Lavendel beruhigend. Im Leitfaden, den wir derzeit überarbeiten, kommen verschiedene solcher Therapien zur Sprache. Solche Therapien lassen sich gut im Alltag einbauen, ohne dass man dafür Therapeuten von aussen ins Haus holen muss. Zúñiga: Wenn man dann doch zum Schluss kommt, dass man zumindest vorübergehend Antipsychotika einsetzen muss, gilt es, gewisse Grundregeln einzuhalten. Der Leitfaden wird auch hierzu Empfehlungen abgeben. Dazu gehört etwa, dass man die Medikamente langsam erhöht, aber immer bei einer möglichst tiefen Dosis bleibt. Zudem braucht es eine regelmässige Evaluation und es muss immer das Ziel sein, die Medikamente möglichst schnell wieder abzusetzen. * Franziska Zúñiga, Prof. Dr., leitet den Bereich Lehre am Institut für Pflegewissenschaft der Medizinischen Fakultät der Universität Basel. Brigitte Benkert, MScN in Pflegewissenschaft, ist Projektmitarbeitende am Institut für Pflegewissenschaft. In Zusammenarbeit mit dem Branchenverband Curaviva erarbeitet das Institut für Pflegewissenschaft einen Leitfaden für Pflegeheime im Umgang mit herausforderndem Verhalten von Menschen mit Demenz. Der Leitfaden wird voraussichtlich im Frühling publiziert. BEHAVIORALE UND PSYCHISCHE SYMPTOME DER DEMENZ – DAS BUCH Das im September publizierte Manual «Behaviorale und psychische Symptome der Demenz (BPSD)» bietet einen umfassenden Einblick in die evidenzbasierten Interventionsmöglichkeiten für eine hochkomplexe und vulnerable Patientengruppe. Es dient als wertvolles Instrument für Fachkräfte aus verschiedenen Bereichen, um den aktuellen Stand der Behandlung von Verhaltens- und psychischen Symptomen bei Demenz darzustellen und die interprofessionelle Zusammenarbeit zu fördern sowie die Versorgung älterer Menschen mit psychischen Erkrankungen zu verbessern. Egemen Savaskan, Dan Georgescu, Franziska Zúñiga (Hrsg.), Behaviorale und psychische Symptome der Demenz (BPSD). Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie. Hogrefe, 1. Aufl. 2024, 272 Seiten, 58.50 Franken Im Fokus

14 ARTISET 10/11 I 2024 « Halt die Fresse – halt mich fest» Sich aufbäumende und widersprüchliche Emotionen gehören im Schlupfhuus zum Alltag. Um den hochbelasteten Jugendlichen Sicherheit zu vermitteln, orientieren sich die Fachpersonen an traumapädagogischen Prinzipien. Foto: Schlupfhuus

ARTISET 10/11 I 2024 15 Im Fokus Gewalt, Missbrauch, Vernachlässigung: Die Jugendlichen, die im Schlupfhuus Zürich einen sicheren Ort auf Zeit finden, sind oft komplex traumatisiert. Damit Beziehung überhaupt möglich wird, arbeitet das Schlupfhuus nach traumapädagogischen Grundsätzen. Das Ziel: Sicherheit geben, verlässliche Beziehungen anbieten und Hoffnung vermitteln – damit die Jugendlichen mit mehr Boden unter den Füssen weiterziehen können. Von Barbara Lauber Gratwanderungen, Abgründe, Chaos. Immer wieder Schuld und Scham, die wie Ohrfeigen brennen. Wut, die wild um sich schlägt. Traurigkeit, Verzweiflung oder Leere, die alles verschlingt. Dazwischen Lachen, Necken, Aufatmen, Hoffen, Alltag. Die Emotionen, die sich auf den fünf Stockwerken des Schlupfhuus Zürich immer wieder aufbäumen, scheinen manchmal in jede Hausritze zu sickern. So versucht Institutionsleiter und Psychologe Lucas Maissen jeweils offen und neugierig zu spüren, wie die Stimmung im Haus ist, wenn er die Eingangstür zum Schlupfhuus aufstösst. «Du weisst nie, was dich erwartet», sagt er. Sicherer Wohnort auf Zeit Das Schlupfhuus Zürich bietet jedes Jahr rund 65 Jugendlichen in schwierigen Lebenssituationen Krisencoachings und einen sicheren Wohnort auf Zeit an. Für die einen ist das Schlupfhuus ein Hafen im chaotischen Alltag, eine entlastende Auszeit von Familie, Institution oder Strasse. Für andere ist es ein Durchgangsort auf der Achterbahn zum Erwachsenwerden. Ein Drittel der zwölf- bis neunzehnjährigen Bewohner:innen verlässt das Schlupfhuus bereits in den ersten Wochen wieder. Rund die Hälfte jedoch bleibt – ein, zwei, drei Monate und länger. Die Mädchen sind im Schlupfhuus in der Mehrheit. Im Schlupfhuus erwartet die Jugendlichen ein gemeinsam gestalteter Alltag und ein gemeinsames Unterwegs- und In-Beziehung-Sein. Kurz: Tagesstruktur, psychotherapeutische Begleitung, Einzel- und Gruppengespräche, Sitzungen mit Eltern, Schule, Lehrbetrieb und Behörden, Freizeitgestaltung. Nach ihrem Eintritt durchlaufen sie die drei Phasen «Ankommen», «Weiterkommen» und «Weitergehen». «Zu Beginn steht immer die psychosoziale Stabilisierung der Jugendlichen im Zentrum», erklärt Lucas Maissen. «Die Klärung ihrer Situation erfolgt erst in einem zweiten Schritt.» Diese klare Trennung zwischen den beiden Schritten, für die auch zwei unterschiedliche Teams verantwortlich sind, habe sich bewährt: «Die Jugendlichen brauchen eine gewisse Stabilität und Sicherheit, um überhaupt in der Lage zu sein, über ihre Situation, über nächste Schritte und mögliche Anschlusslösungen nachzudenken.» Chronische Traumatisierungen «Die meisten Jugendlichen im Schlupfhuus haben chronische Traumatisierungen erlebt», sagt Maissen. «Viele sind beim Eintritt emotional in Aufruhr, kämpfen mit Scham- und Schuldgefühlen und haben Mühe, von sich zu erzählen. Andere wiederum wirken funktional und können sich klar artikulieren.» Ihnen allen gemeinsam ist, dass sie entweder mit ihrer aktuellen Lebenssituation nicht mehr zurechtkommen oder körperliche, psychische oder sexuelle Gewalt erlebt haben. Viele sind zu Hause geschlagen, beschämt, fertiggemacht, misshandelt oder vernachlässigt worden. Nicht selten von Eltern, die selbst psychisch belastet sind. Einige der Jugendlichen haben auf die erlebte Gewalt ebenfalls mit Gewalt reagiert. Andere haben still gelitten und weiterfunktioniert, sich selbst verletzt oder versucht, ihre Probleme mit Suchtmitteln und Drogen zu lösen. «Jede Geschichte ist anders», sagt Maissen. So gebe es auch hinsichtlich Herkunft nicht die typischen Schlupfhuus-Jugendlichen. «Sie kommen aus allen sozialen Schichten: aus bildungsfernen wie bildungsnahen Milieus, aus prekären wie aus gutsituierten Verhältnissen.» Sicherheit vermitteln, immer wieder neu Der Umgang mit komplex traumatisierten Jugendlichen erfordert von den 24 Mitarbeitenden des Schlupfhuus grosse Sorgfalt, kontinuierliche Selbstreflexion und hohe Fachlichkeit. Oft begegnen sie doppelten Botschaften, die Lucas Maissen mit den Worten «Halt die Fresse – halt mich fest!» auf den Punkt bringt. «Diese Jugendlichen haben wenig echte Sicherheit oder verlässliche Beziehungen erlebt. Entsprechend anspruchsvoll ist es, ihr Vertrauen zu gewinnen und mit ihnen in Beziehung zu kommen.» Viele Jugendliche mussten in ihrem Leben früh lernen, stets sorgfältig abzuchecken, in welcher Stimmung ihr

16 ARTISET 10/11 I 2024 Gegenüber gerade ist und ob ihnen in diesem Moment Gefahr droht. «Sie haben dadurch ein feines Sensorium für Worte, Bewegungen oder Blicke entwickelt», erklärt Maissen. Deshalb sei es im Schlupfhuus zentral, keine entsprechenden Trigger zu setzen, sondern traumasensibel zu arbeiten. Traumasensibel arbeiten Das Schlupfhuus, gegründet 1980, erkannte schon früh, dass klassische pädagogische Konzepte nicht ausreichten, um komplex traumatisierte Jugendliche zu erreichen und Mitarbeitende vor dem Ausbrennen zu schützen. Das Schlupfhuus entschied sich deshalb für einen traumapädagogischen Ansatz und setzte diesen mit Unterstützung der UPK Basel als erste Institution im deutschsprachigen Raum im Kurzzeit-Setting um. «Die Traumpädagogik hilft uns, der individuellen Situation hochbelasteter Jugendlicher Rechnung zu tragen. Die entsprechende Haltung ist dabei wichtiger als die richtigen Techniken oder Methoden», betont Maissen. Im Zentrum steht das Ziel, das Schlupfhuus als «möglichst sicheren Ort» zu gestalten – in einem äusseren wie inneren Sinn. Dazu gehört auch, dass die Jugendlichen wieder Kontrolle, Selbstwirksamkeit sowie Verlässlichkeit und Wertschätzung in Beziehungen erfahren können. «Sie sollen Beziehungen (wieder) als sicheren Ort erleben und bei uns neue, korrigierende Beziehungserfahrungen machen können», so Maissen. In Beziehung bleiben: «simple but not easy» Das Schlupfhuus hat sieben traumapädagogische Prinzipien formuliert, die sich an traumapädagogischen Standards orientieren und die tägliche Arbeit durchdringen. «Sie sind konzeptuell in allen Schlüsselprozessen auf allen Ebenen implementiert», erklärt Lucas Maissen. Diese sieben Prinzipien sind: Möglichst transparent informieren. Wertschätzend sein. Die Jugendlichen als Expert:innen ihres Lebens verstehen. Stets einen guten Grund für ihr Verhalten annehmen. Partizipation ermöglichen. In ein Verstehen kommen, ohne einverstanden sein zu müssen. Und immer wieder Freude, Humor und Leichtigkeit in den Alltag bringen. «It’s simple but not easy», so Maissen. «Gerade bei hochkonflikthaften Verläufen ringen auch wir als Fachpersonen und als Team immer wieder um diese Haltung.» Doch selbst dann sei es ihr Ziel, mit den Jugendlichen in Beziehung zu bleiben und ihnen aufrichtig sagen zu können: «Auch wenn du mir hundert Mal sagst, ‹halt die Fresse!› oder ‹hau ab!›: Ich bleibe – ich bin da, wenn du mich brauchst.» Mitarbeitende sind stark herausgefordert Die ehrliche Auseinandersetzung mit sich und dem eigenen lebensgeschichtlichen Rucksack, mit schwierigen Emotionen und Triggern, mit Nähe und Distanz fordert die Mitarbeitenden stark heraus. Grösste Stütze sei dabei das Team, betont Maissen. «Wir unterstützen und begleiten einander, diskutieren, was uns in Extremsituationen Sicherheit geben kann, und übernehmen, wenn jemand an seine Grenzen kommt.» Im Schlupfhuus bedeute Professionalität nicht, nie aus dem Stresstoleranzfenster zu fallen. Sie bedeute vielmehr, es rechtzeitig zu bemerken und sich Unterstützung zu holen. Aus diesem Grund will auch Maissen in herausfordernden Situationen stets von sich wissen: «Was löst die erlebte Situation bei mir selbst aus? Kann ich noch Leuchtturm für die Jugendlichen sein? Fühle ich mich noch handlungsfähig? Bin ich noch in meiner Sicherheit? Und wenn nicht, wie schaffe ich es dorthin zurück?» Hoffnung vermitteln – und loslassen können Schwierig ist für die Mitarbeitenden auch der Umgang mit Situationen, die sich bei den Jugendlichen zu Hause abspielen. Oft werden sie zwar beratend beigezogen, können aber nicht sofort in die Lösung gehen. «Das freiwillige Mitmachen der Jugendlichen ist uns sehr wichtig. Deshalb müssen wir manchmal auch aushalten, dass wir eine schwierige Situation nicht von heute auf morgen beenden können. Ab und zu braucht es kleine Schritte. Auch diese können Zuversicht und die Hoffnung vermitteln, dass sich die aktuelle Situation verändern lässt», sagt Lucas Maissen. Genau um diese Hoffnung geht es auch, wenn die Jugendlichen das Schlupfhuus wieder verlassen. «Uns ist bewusst, dass wir mit unserem Kurzzeit-Setting das Leben der Jugendlichen nicht komplett verändern können», so Maissen. «Im besten Fall ist es ihnen jedoch möglich, mit mehr Klarheit, Zuversicht, Vertrauen und mit festerem Boden unter den Füssen weiterzugehen. Und sonst wissen sie: Wir sind für sie da, wenn sie uns wieder brauchen sollten.» DIE 7 TRAUMAPÄDAGOGISCHEN PRINZIPIEN DES SCHLUPFHUUS 1. Transparenz: den Jugendlichen mit transparenter Information ein Stück Kontrolle zurückgeben 2. Partizipation: die Jugendlichen aktiv in die Gestaltung von Prozessen, Regeln, Abmachungen etc. einbeziehen 3. Expert:innenschaft: anerkennen, dass die Jugendlichen Expert:innen ihres eigenen Lebens sind 4. Annahme des guten Grunds: für ein bestimmtes Verhalten Hypothesen für mögliche gute Gründe formulieren und Handlungsmöglichkeiten ableiten 5. Verstehen, ohne einverstanden sein zu müssen: bisherige Bewältigungsstrategien verstehen und wertschätzen, ohne sie gutzuheissen 6. Wertschätzung: den Blick auf Ressourcen und das Gelingende richten und bisherige (Über-)Lebensleistung würdigen 7. Erleben von Freude: dem Schweren bewusst Humor und Erfahrungen von Freude und Leichtigkeit entgegensetzen

ARTISET 10/11 I 2024 17 Im Fokus Langjährige Anstellungsverhältnisse, sich wiederholende Strukturen und Personal, das sich an die definierten Prozesse hält. Das sind entscheidende Faktoren, damit sich Menschen mit Behinderung in einer Institution wohlfühlen können. Die Autorinnen des Beitrags, die eine breite Erfahrung als Betreuungspersonen haben, erklären, weshalb das so ist. Von Rahel Huber und Angelika Voigt* Sich gegenseitig lesen und deuten Wenn man sich über die Frage Gedanken macht, was gutes Betreuungspersonal in der täglichen Arbeit auszeichnet, lässt sich das nur über die Antwort auf die Frage klären, was ein gutes Leben von Menschen mit Behinderung ausmacht. Während wir bei vielen Menschen die Antwort auf eine solch umfassende Frage erfragen können, ist dies namentlich bei Menschen mit schweren kognitiven Beeinträchtigungen kaum möglich. Dies löst immer wieder eine aufwendige Suche nach der «richtigen Antwort» aus und damit auch eine Suche nach dem «richtigen Konzept» und dem «richtigen Stellenbeschrieb». Menschen mit Behinderungen haben vielfältige und individuelle Bedürfnisse, die sich je nach Art und Schwere der Behinderung stark unterscheiden. Insbesondere bei Menschen mit schweren kognitiven Beeinträchtigungen sind für den Erfolg der täglichen Arbeit tragfähige Beziehungen von grosser Bedeutung. Um das Gegenüber verstehen zu können, ist dabei vor allem auch entscheidend, dass eine Beziehung über viele Jahre hinweg Bestand hat. Das Recht auf individuelle Kommunikation In der Praxis treffen wir immer wieder auf Menschen, deren verbale Sprache schwer verständlich, nicht objekt oder realitätsbezogen oder gar nicht vorhanden ist. Um unter diesen Bedingungen gemeinsam erfolgreich kommunizieren zu können, muss man in der Lage sein, sich gegenseitig zu lesen und zu deuten. Diese Kompetenz der Mitarbeitenden entsteht einerseits im gemeinsamen «Unterwegssein» und andererseits im Austausch mit anderen an der Begleitung beteiligten Menschen. Mimik, Gesten, aber auch verbale Äusserungen, die nicht eindeutig zu verstehen sind, können im Alltag ein Eskalationspotenzial entwickeln, das man im Anschluss mit agogischen Massnahmen zu beeinflussen versucht. Solche Massnahmen wären hingegen nicht nötig, hätte man sich von Anfang an richtig verstanden. Die ideale Kommunikationsperson ist in diesem Sinne oftmals auch eine langjährige Mitarbeitende, welche die Klientel und deren Sprache sehr gut kennt. So kann aus einem langen «Schhhhhh» der begehrte Kaffee werden und aus dem Kopfschütteln ein Hinweis auf die Reitstunden und das Lieblingspferd. Dieses Verstehen ist oft die Voraussetzung, um Menschen mit schweren kognitiven Behinderungen ein gutes Leben zu ermöglichen, ein Leben, das Vorlieben und Wünsche der betreuten Personen in den Mittelpunkt stellt, Entwicklung möglich macht und deren Ressourcen und Fähigkeiten für sie sinnstiftend im Alltag integriert. Es schafft die Voraussetzung, um die Betreuung individuell und lebensqualitätsorientiert zu gestalten. Gleichzeitig schafft es die Grundlage, auf der Empathie und Verständnis für die Verhaltensweisen des Gegenübers gründen. Herausfordernde Verhaltensweisen können unter diesen Bedingungen

18 ARTISET 10/11 I 2024 29.11. – 30.11.24 Messe Luzern Die Messe mit Impulsen für ein selbstbestimmtes Leben Jetzt Ticket kaufen! swiss-abilities.ch Goldpartner viel einfacher als Kommunikation, Können und Ressourcen verstanden werden, entsprechend dem Grundsatz: Verhalten ist immer Können, immer Kommunikation und immer ein Ausdruck der eigenen Gefühlswelt. Man kann sich nur so verhalten, wie man es kann. Dieser Zugang zu den Gefühlen und der Erlebniswelt ist notwendig, um ein tiefes Verständnis des Gegenübers entwickeln zu können. Vorhersehbarkeit im Alltag schafft Vertrauen Eine ähnlich hohe Bedeutung darf im Alltag der Struktur und Stabilität der Beziehungsgestaltung beigemessen werden. Strukturen im Sinne von regulierten Tagesabläufen, Deeskalationsverfahren und definierten Freiräumen ermöglichen die aktive Selbstbestimmung und Partizipation im eigenen Leben. Um aktiv und mit möglichst hoher Selbstbestimmung am eigenen Tagesverlauf teilhaben und diesen mitgestalten zu können, ist es für viele Menschen mit schweren kognitiven Beeinträchtigungen notwendig, dass Strukturen Vorhersehbarkeit gewährleisten. Diesen Effekt können Strukturen entwickeln, wenn sie stetig in derselben Reihenfolge wiederholt werden und Anpassungen möglichst nur dann geschehen, wenn dies durch die betreute Person angezeigt wird. Und neben den Strukturen, die durch die Wiederholung eine hohe Wiederkennung bieten, sind auch die Angebote und Reaktionen des Betreuungspersonal so zu gestalten, dass sie einen ebenso hohen Wiedererkennungswert bieten. Wer nicht in der Lage ist, Vorstellungen und Antizipation darüber zu entwickeln, was folgt, hat nur unter erschwerten Bedingungen die Möglichkeit, sich darauf einzustellen. Man erlebt im Alltag Situationen, die mehrheitlich überraschen und Überforderungen, Irritationen oder sogar Angst und Abwehr hervorrufen. Gefühle, die schwer zu verarbeiten sind und bei dauerhafter Wiederholung zu schwerwiegenden psychischen Beeinträchtigung führen können. Daneben fehlen aber auch die positiven Aspekte der Vorhersehbarkeit wie Vorfreude und ganz besonders das Gefühl, das eigene Geschehen oder die eigene Lebensgestaltung kontrollieren zu können. Viele agogische Ziele im Alltag richten sich im weitesten Sinne an die Verhaltenskontrolle oder steuerung der Klientel. Man formuliert, welche Ressourcen sich in einem angemessenen Verhalten wiederfinden und nötig Anzeige Verhalten ist immer Kommunikation und immer ein Ausdruck der eigenen Gefühlswelt. Man kann sich nur so verhalten, wie man es kann. Dieser Zugang zu den Gefühlen und der Erlebniswelt ist notwendig, um ein Verständnis des Gegenübers entwickeln zu können.

ARTISET 10/11 I 2024 19 ‣ Gesundheit Weiterbildung an der BFH CAS Eigenweltorientierte Kommunikation Demenz Start: April 2025 Fachkurs Interprofessionelle Zusammenarbeit in der Lebenswelt älterer Menschen | Start: Januar 2025 Fachkurs Prozessgestaltung mit Design Thinking Start: Januar 2025 Fachkurs Projekt implementieren | Start: März 2025 Fachkurs Psychiatrie | Start: August 2025 bfh.ch/gesundheit/weiterbildung 11_WB_INA_PFL.indd 1 24.09.2024 09:21:21 Im Fokus Anzeige sind, und kreiert die dafür notwendige Umgebung und Hilfsmittel, sei es bei einem Spaziergang, bei den Mahlzeiten oder bei der Körperpflege. Dieser Vorgang, gesteuert durch die individuellen Vorlieben, Wünsche, Ressourcen und Bedürfnisse der Klientel und mit den adäquaten professionellen und entwicklungsbezogenen Grundlagen, stellt ein wichtiges Instrument dar. Er ist aber oftmals nur dann hilfreich, wenn sich nach der Formulierung der Ziele, der Hilfsmittel und der Situation auch ein klar strukturierter Ablauf oder ein Prozess dazu gesellt, der eindeutig definiert, wie, wann und durch wen der Prozess geführt wird, und allfällige Abweichungen mit klaren handlungsleitenden Möglichkeiten ergänzt. Das Leben aktiv mitgestalten können Um sich selbstbestimmt und mit einer hohen Teilhabe im Leben bewegen zu können, braucht es die Möglichkeit, sich frühzeitig auf das, was geschehen wird, einzustellen. Wenn der Start in den Tag einmal mit Zähneputzen, einmal mit Duschen und einmal mit der Medikamenteneinnahme im Zimmer beginnt, hat der Mensch mit einer schweren kognitiven Beeinträchtigung nur wenig Möglichkeit, darauf einzuwirken. Dasselbe gilt, wenn auf Spucken oder Verweigerung einmal mit einem Time out, einmal mit dem Entfernen aus der aktuellen Situation und einmal mit der Abgabe von einem Bonbon geantwortet wird. Das eigene Erleben fordert unter solchen Umständen eine stetige Anpassung an schnell wechselnde Erwartungen und Ansprüche. Diese Anpassungsleistung ist für die Betroffenen oft sehr intensiv und ermüdend. Indem sich alle Betreuungspersonen an denselben Ablauf und dieselbe Reihenfolge halten, werden Voraussetzungen geschaffen, damit sich auch Menschen mit schweren kognitiven Beeinträchtigungen weiteres Wissen und Ressourcen aneignen können, um ihr Leben aktiv mitgestalten zu können. In Zeiten, in denen der Begriff «Fachkräftemangel» oder ganz generell Personalmangel überall auftaucht, müssen sich auch die Institutionen Gedanken machen, welche Bedingungen sie bieten können, um das Personal in der alltäglichen Arbeit unterstützen, befähigen und insbesondere auch halten können. Dabei mag dem Gehalt eine gewisse Bedeutung zukommen, Erfahrungen zeigen aber, dass der Möglichkeit zur tätigkeitsspezifischen Fort und Weiterbildung eine noch höhere Gewichtung beigemessen wird. Ebenso wie der Teamarbeit, der Mitsprache, den Karrieremöglichkeiten und kompetenten Führungspersonen. Aus Sicht der betreuten Personen ist diesen Umständen Rechnung zu tragen, damit sie den Aufbau und das Halten von tiefen Beziehungen erleben und wir damit ihre Antworten auf die Frage nach dem guten Leben hören und verstehen können. Die Begleitung von Menschen mit schweren kognitiven Behinderungen und herausfordernden Verhaltensweisen erfordert ein tiefes Verständnis ihrer individuellen Bedürfnisse sowie deren spezifische Kompetenzen und Eigenschaften. Kommunikationsfähigkeit, Fachwissen, Empathie und Teamarbeit sind entscheidend, um ein selbstbestimmtes Leben für Menschen mit Behinderung zu ermöglichen. * Rahel Huber ist Bildungsbeauftragte Sozialpädagogik von Artiset Bildung; Angelika Voigt ist Heimleiterin des Wohnheims Sonnegarte in St. Urban LU.

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