ARTISET 10/11 I 2024 15 Im Fokus Gewalt, Missbrauch, Vernachlässigung: Die Jugendlichen, die im Schlupfhuus Zürich einen sicheren Ort auf Zeit finden, sind oft komplex traumatisiert. Damit Beziehung überhaupt möglich wird, arbeitet das Schlupfhuus nach traumapädagogischen Grundsätzen. Das Ziel: Sicherheit geben, verlässliche Beziehungen anbieten und Hoffnung vermitteln – damit die Jugendlichen mit mehr Boden unter den Füssen weiterziehen können. Von Barbara Lauber Gratwanderungen, Abgründe, Chaos. Immer wieder Schuld und Scham, die wie Ohrfeigen brennen. Wut, die wild um sich schlägt. Traurigkeit, Verzweiflung oder Leere, die alles verschlingt. Dazwischen Lachen, Necken, Aufatmen, Hoffen, Alltag. Die Emotionen, die sich auf den fünf Stockwerken des Schlupfhuus Zürich immer wieder aufbäumen, scheinen manchmal in jede Hausritze zu sickern. So versucht Institutionsleiter und Psychologe Lucas Maissen jeweils offen und neugierig zu spüren, wie die Stimmung im Haus ist, wenn er die Eingangstür zum Schlupfhuus aufstösst. «Du weisst nie, was dich erwartet», sagt er. Sicherer Wohnort auf Zeit Das Schlupfhuus Zürich bietet jedes Jahr rund 65 Jugendlichen in schwierigen Lebenssituationen Krisencoachings und einen sicheren Wohnort auf Zeit an. Für die einen ist das Schlupfhuus ein Hafen im chaotischen Alltag, eine entlastende Auszeit von Familie, Institution oder Strasse. Für andere ist es ein Durchgangsort auf der Achterbahn zum Erwachsenwerden. Ein Drittel der zwölf- bis neunzehnjährigen Bewohner:innen verlässt das Schlupfhuus bereits in den ersten Wochen wieder. Rund die Hälfte jedoch bleibt – ein, zwei, drei Monate und länger. Die Mädchen sind im Schlupfhuus in der Mehrheit. Im Schlupfhuus erwartet die Jugendlichen ein gemeinsam gestalteter Alltag und ein gemeinsames Unterwegs- und In-Beziehung-Sein. Kurz: Tagesstruktur, psychotherapeutische Begleitung, Einzel- und Gruppengespräche, Sitzungen mit Eltern, Schule, Lehrbetrieb und Behörden, Freizeitgestaltung. Nach ihrem Eintritt durchlaufen sie die drei Phasen «Ankommen», «Weiterkommen» und «Weitergehen». «Zu Beginn steht immer die psychosoziale Stabilisierung der Jugendlichen im Zentrum», erklärt Lucas Maissen. «Die Klärung ihrer Situation erfolgt erst in einem zweiten Schritt.» Diese klare Trennung zwischen den beiden Schritten, für die auch zwei unterschiedliche Teams verantwortlich sind, habe sich bewährt: «Die Jugendlichen brauchen eine gewisse Stabilität und Sicherheit, um überhaupt in der Lage zu sein, über ihre Situation, über nächste Schritte und mögliche Anschlusslösungen nachzudenken.» Chronische Traumatisierungen «Die meisten Jugendlichen im Schlupfhuus haben chronische Traumatisierungen erlebt», sagt Maissen. «Viele sind beim Eintritt emotional in Aufruhr, kämpfen mit Scham- und Schuldgefühlen und haben Mühe, von sich zu erzählen. Andere wiederum wirken funktional und können sich klar artikulieren.» Ihnen allen gemeinsam ist, dass sie entweder mit ihrer aktuellen Lebenssituation nicht mehr zurechtkommen oder körperliche, psychische oder sexuelle Gewalt erlebt haben. Viele sind zu Hause geschlagen, beschämt, fertiggemacht, misshandelt oder vernachlässigt worden. Nicht selten von Eltern, die selbst psychisch belastet sind. Einige der Jugendlichen haben auf die erlebte Gewalt ebenfalls mit Gewalt reagiert. Andere haben still gelitten und weiterfunktioniert, sich selbst verletzt oder versucht, ihre Probleme mit Suchtmitteln und Drogen zu lösen. «Jede Geschichte ist anders», sagt Maissen. So gebe es auch hinsichtlich Herkunft nicht die typischen Schlupfhuus-Jugendlichen. «Sie kommen aus allen sozialen Schichten: aus bildungsfernen wie bildungsnahen Milieus, aus prekären wie aus gutsituierten Verhältnissen.» Sicherheit vermitteln, immer wieder neu Der Umgang mit komplex traumatisierten Jugendlichen erfordert von den 24 Mitarbeitenden des Schlupfhuus grosse Sorgfalt, kontinuierliche Selbstreflexion und hohe Fachlichkeit. Oft begegnen sie doppelten Botschaften, die Lucas Maissen mit den Worten «Halt die Fresse – halt mich fest!» auf den Punkt bringt. «Diese Jugendlichen haben wenig echte Sicherheit oder verlässliche Beziehungen erlebt. Entsprechend anspruchsvoll ist es, ihr Vertrauen zu gewinnen und mit ihnen in Beziehung zu kommen.» Viele Jugendliche mussten in ihrem Leben früh lernen, stets sorgfältig abzuchecken, in welcher Stimmung ihr
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