ARTISET 10/11 I 2024 7 Im Fokus Was tun, wenn in einer Institution lebende Betagte um sich schlagen, beissen, handgreiflich werden? In den Alters- und Pflegeheimen Glarus Nord lautet das oberste Gebot: hinschauen, präsent sein, kommunizieren. Die Erfahrung zeigt: Nur so ist es möglich, Eskalationen beizukommen und eine Atmosphäre zu schaffen, in der Aggressionen gar keinen Nährboden haben. Von Tanja Aebli (Text und Foto) Wer die vollautomatisierte Glastür des Alters- und Pflegeheims Letz in Näfels passiert, macht den ersten Schritt auf orange-rotem Linoleum. Der leuchtend warme Boden führt vom Empfang bis weit hinten zu den Arztpraxen, wo ein Augenarzt, zwei Allgemeinpraktiker und der Heimarzt niedergelassen sind. Ebenfalls vor Ort: Praxen für Physiotherapie und Fusspflege, ein Coiffeur, die Spitex, Pro Senectute und Alzheimer Glarus. Jung und Alt gehen in diesem brandneuen, einladenden Gesundheitszentrum mitten im Dorf ein und aus: einige mit schnellem Schritt und fixem Ziel, andere in gemütlichem Tempo, gestützt auf einen Rollator. Ein älterer Mann hat sich in einem der Sessel mit Blick auf den Empfang positioniert, beobachtet die Freilandhühner und die Hasen vor der weitläufigen Fensterfront und das emsige Treiben im langen Gang. Er mustert und grüsst jeden Passanten, diesmal den nicht zu übersehenden Harald Klein, seines Zeichens Präsident von Artiset Glarus und Leiter der Alters- und Pflegeheime Glarus Nord – einem Zusammenschluss dreier Institutionen, zu denen auch das Alters- und Pflegeheim Letz gehört. Im vor zwei Jahren eröffneten Neubau befinden sich zwei Demenzstationen à 18 und 19 Seniorinnen und Senioren, die in sechs Wohngruppen aufgeteilt werden können. Heute ist es hier ausgesprochen ruhig, einige laufen im Gemeinschaftsraum herum, andere unterhalten sich mit Pflegefachleuten, eine Frau hält ein Nickerchen, eine andere starrt gebannt aus dem Fenster. «Es ist hier ein bisschen wie in einer WG», sagt Raphael Baumgartner, Leiter Pflegedienst und Mitglied der Geschäftsleitung. Mit allen Pros und Contras: Manchmal prallen Menschen aufeinander, Meinungen, Vorlieben, Launen, Ideen. Manchmal wird gelacht und geschäkert, manchmal wird es laut, ungemütlich, selten auch gefährlich. Eine Infrastruktur mit Optionen Diesem Wissen um die Herausforderung des Zusammenlebens unterschiedlicher Individuen, die vor dem Heimeintritt teils mehrere Jahre allein gelebt haben, wurde bereits bei der Planung des Neubaus Rechnung getragen: Auf dem ganzen Stock gibt es abgeschirmte Zonen, um Ruhe zu finden und sich zurückzuziehen. Da sind Plüschtiere und Sofas, ein Massagestuhl mit integrierten Musikboxen, der aufgebrachte Bewohner/-innen im Nu zu besänftigen vermag, oder der umzäunte Demenzgarten mit angrenzendem Hühnergehege, wo vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang beste Unterhaltung garantiert ist. Harald Klein und Raphael Baumgartner grüssen auf ihrem Rundgang durch die Abteilung jeden Passanten, mit den Mitarbeitenden sind die beiden per Du. Man kennt sich, tauscht sich aus, spricht die gleiche Sprache, verfolgt das gleiche Ziel. Und doch: Nicht immer ist es auf den Demenzabteilungen so ruhig und friedlich wie heute. Bisswunden, blaue Flecken oder weitere Verletzungen – auch solche seelischer Natur – sind zwar nicht an der Tagesordnung, aber doch genügend häufig, um das Thema «herausforderndes Verhalten» zur obersten Priorität zu erklären. Reflektieren und experimentieren Wie umgehen mit Aggressionen und Handgreiflichkeiten, wenn es hart auf hart geht? «In einer akuten Situation», so Geschäftsführer Harald Klein, «macht es meist Sinn, sich kurz auszuklinken und sich erst einmal einen klaren Kopf zu verschaffen.» Dies kann eine weitere Eskalation verhindern bzw. die Wogen glätten. Der nächste Schritt ist dann bereits etwas weniger offensichtlich bzw. erfordert Erfahrung und die Bereitschaft, zu experimentieren. Vielleicht ist es zielführend, dass eine andere Person aus dem Team übernimmt oder ein Hilfsmittel zum Einsatz kommt: ein beruhigender Duft, der Massagesessel oder ein Spaziergang durch den Garten. Die Fachleute der Alters- und Pflegeheime Glarus Nord setzen noch viel früher an, damit es gar nicht erst zu Stress, Unzufriedenheit und damit einhergehenden Verhaltensauffälligkeiten kommt. Bei regulären Eintritten heisst es zuhören, worauf jemand Wert legt und wo der Schuh drückt. «Die meisten Neueintritte erfolgen direkt ab Spital, weil eine Rückkehr nach Hause nicht mehr möglich ist. Unsere Arbeit beginnt, noch bevor die betroffene Person bei uns ist», sagt Pflegedienstleiter Raphael Baumgartner. An Rundtischgesprächen tauschen sich die Fachkräfte aus dem Heim mit all jenen aus, die mit der einzuweisenden, manchmal nicht mehr urteilsfähigen Person in Kontakt stehen: mit
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