Ethische Fragen stellen | Magazin ARTISET | 10 / 2022

10  ARTISET 10/11 I 2022 Im Fokus Ethische Fallbesprechung – ein Beispiel: 1 Fragestellung/Dilemma Herr B. ist 74 Jahre alt und leidet an einem unheil­ baren Hirntumor. Er lebt seit 17 Jahren in der Ins­ titution, in den letzten Wochen hat die Symptoma­ tik zugenommen: Er schreit immer wieder unkontrolliert und laut, auch während den Mahlzei­ ten im Speisesaal. Die anderen Bewohnerinnen und Bewohner fühlen sich gestört. Herr B. möchte aber unbedingt im Speisesaal mit den anderen essen. 2 Beteiligte und Werte Beteiligte: – Herr B. (legitimes Interesse: Teilhabe) – Mitbewohnende (legitimes Interesse: Wohlbefinden zu Hause) – Mitarbeitende (legitimes Interesse: Belastung muss lebbar sein) Werte: 1. Wohlbefinden der Mitbewohnenden 2. Recht auf Teilhabe ➞ Wie ermöglichen wir Herrn B. Teilhabe und stellen zugleich das Wohlbefinden aller anderen sicher? 3 Handlungsoptionen: ■ Herr B. isst immer im Zimmer ■ Herr B. isst immer im Speisesaal ■ Herr B. isst wöchentlich 2 bis 3 Mal im Speisesaal ■ Herr B. isst mit einem Teil der Bewohnenden zu leicht verschobener Zeit im Speisesaal ■ Freiwillige essen mit Herrn B. vor der Rushhour im Speisesaal ■ Mitarbeitende essenmit Herrn B. später im Speisesaal ■ Kompromiss suchen mit allen Beteiligten Argumentation zum 3. Schritt: Tugendethik: Ich möchte als PflegefachpersonTeil­ habe ermöglichen. Herrn B. nur im Zimmer essen zu lassen, kann ich nicht verantworten. Deontologie: In der UN-BRK steht das Recht auf Teilhabe, das über andere Werte zu stellen ist: Der Bewohner darf nicht isoliert werden. Konsequentialismus: Die Folgen der Entschei­ dung zählen. Das Wohl der Mitbewohnenden geht über das Wohl des Einzelnen. Es ist daher ethisch erlaubt, dass Herr B. im Zimmer isst. Care-Ethik: Wir müssen die Bedürfnisse aller ernst nehmen und eine für alle gangbare Lösung finden. Die bevorzugte Variante ist deshalb: Mit Herrn B. reden, ihm die Bedürfnisse der Mitbewohnenden erklären und einen Kompromiss mit ihm aushan­ deln. Zugleich erklären wir den Mitbewohnenden Herrn B.s Bedürfnisse und suchen mit ihnen einen Kompromiss. 4 Entscheid Die Gruppe einigt sich nach ausgiebigem Abwägen für eine der Handlungsoptionen. Nach den gemein­ samen Diskussionen ist dieser Entscheid fundiert, das Team ist sich über die gemeinsamenWerte einig. Und wenn man das nicht macht? In Institutionen, in denen solche Fragen nicht reflektiert werden, passiert es in der Hektik des Alltags oft, dass jemand im Alleingang entscheidet. Das sind dann meist wenig begründete Entscheide, aus der Intuition eines Einzelnen getroffen statt aus gemeinsamer Reflexion. Ethik in einer Institution sollte nicht auf der Moralvorstellung Einzelner basieren, son­ dern auf einer gemeinsam erarbeiteten Haltung: Ethik heisst gemeinsame Werte undWorte, gemeinsames Begründen von wichtigen Entscheiden. Die Strukturen der Institutionen entscheiden dann über die Implementierung im Alltag. Ist es schwierig, Mitarbeitende aus dem Gesundheits- und Sozialwe- sen vom Sinn einer gemeinsamen ethischen Haltung zu überzeugen? Bei den Pflegenden in Spitälern und In­ stitutionen muss ich meist nicht viel Überzeugungsarbeit leisten. ImGegenteil, diese wünschen sich häufig sogar von sich aus eine Begleitung oder Fallbesprechung. In einem Spital beispielsweise kam der Wunsch nach ethischen Fallbesprechun­ gen explizit von der Pflege, während die Ärztinnen und Ärzte zuerst fürchteten, bei all ihrer Arbeitsbelastung wäre das Gespräch mit einer Ethikerin ein langes Plaudern ohne Resultat. Mit der Zeit merkten sie, dass die Pflege dank einer gemeinsamen ethischen Haltung bei komplexen Patientenproblemen viel

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