Ethische Fragen stellen | Magazin ARTISET | 10 / 2022
14 ARTISET 10/11 I 2022 Im Fokus «Einige dieser Heime haben die vom Bund und vor allem von den Kantonen verfügten Massnahmen restriktiver aus- gelegt als andere», konstatiert Regula Mader, Präsidentin der Kommission. Die grosse Herausforderung bestehe darin, in einer Pandemiesituation die Verhältnismässigkeit zu wahren. Da die übergeordneten, von den Behörden verfügten Mass- nahmen keine Rücksicht nehmen können auf die spezifische Situation in einem Heim und die einzelnen Bewohnenden, stehen diese selbst in der Verantwortung. Dies erfordere aufseiten der Heimleitung und auch der Mitarbeitenden eine klare Wertehaltung der Selbstwirksam- keit und Autonomie, wie sie die UN-Behindertenrechtskon- vention fordert, unterstreicht die Kommissionspräsidentin. «Sie müssen erkennen, welchen Spielraum sie im Einzelfall trotz übergeordneter Vorgaben haben.» Gilt das Besuchsver- bot zum Beispiel auch, wenn Bewohnerinnen und Bewoh- ner mit ihren Angehörigen im Garten spazieren gehen? «Es geht immer darum, wie eng man eine Massnahme auslegt», weiss Regula Mader aus eigener Erfahrung. Bis Herbst 2021 war sie als Direktorin im Schlossgarten Riggisberg tätig, ei- ner grossen sozialen Institution, vor allem für Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung. Dort versuchte man, möglichst individuelle Lösungen für die Bewohnerinnen und Bewohner zu treffen. «Insbesondere bei betagten Menschen sollten Besuche durch Angehörige jederzeit möglich sein», unterstreicht sie. Ihren Spielraum genutzt hätten die Heime vor allem dann, wenn es darum ging, Besuche bei sterbenden Menschen zuzulassen. Generell gebe es bei der verhältnismässigen Um- setzung behördlich verordneter Massnahmen, wozu auch die Flexibilität im Einzelfall gehöre, indes durchaus noch Sensibilisierungsbedarf. «Insgesamt waren die Heime kreativ und haben sich im Interesse der Bewohnenden um gute Lösungen bemüht.» Von der ersten über die zweite bis hin zur dritten Pandemie- welle sei dabei das Bewusstsein gestiegen, welche negativen Folgen die zum Teil massive Einschränkung sozialer Kon- takte für die Lebensqualität der Bewohnenden hatte. Neben den Bewohnenden waren davon auch die Mitarbeitenden betroffen, weil die wertvolle Unterstützung durch die An- gehörigen fehlte. Als «problematisch» und für die Heime wenig hilfreich beurteilt Regula Mader die unterschiedliche Praxis in den verschiedenen Kantonen. Kritik an «Diffusion der Verantwortung» Während Regula Mader die Heime auffordert, den Spiel- raum der behördlich verfügten Massnahmen zu nutzen, nimmt Settimio Monteverde die Behörden, den Bund und die Kantone, in die Pflicht. «Die Behörden auf nationaler und kantonaler Ebene haben den Heimen zu viel Verant- wortung aufgebürdet und damit auch zu viel Einfluss gege- ben», kritisiert er. Monteverde ist Dozent für Ethik an der Berner Fachhochschule und Co-Leiter Klinische Ethik am Universitätsspital Zürich. Darüber hinaus ist er Mitglied der Begleitgruppe im Bereich der sozialen Einrichtungen der nationalen Kommission zur Verhütung von Folter. Der Medizinethiker beobachtet eine verhängnisvolle «Diffusion der Verantwortung» vom Bund über die Kantone bis zu den Institutionen. So habe der Bund in seiner laufend «Die Heimleitungen müssen erkennen, welchen Spielraum sie im Einzelfall trotz über- geordneter Vorgaben haben.» Regula Mader, Präsidentin der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter NATIONALE KOMMISSION ZUR VERHÜTUNG VON FOLTER Im Herbst 2021 hat die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) damit begonnen, die Einhaltung grundrechtlicher Standards in Institutionen der Langzeitpflege und imBehindertenbereich zu überprüfen. Mittlerweile hat sie sieben Pflegeheime aus allen Landesteilen besucht. Die seit 2010 bestehende Kommission inspiziert die Menschen- und Grundrechtskonformität freiheitsbeschrän- kender Massnahmen in Einrichtungen, wo Menschen durch einen behördlichen Entscheid in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden. Der gesetzliche Auftrag betrifft zudem die Beurteilung von bewegungseinschränkenden Massnahmen an Patientinnen und Patienten respektive Bewohnenden in psychiatrischen Einrichtungen sowie in sozialen und sozialmedizinischen Einrichtungen. Die Be- suche der NKVF dauern jeweils ein bis zwei Tage. Danach verfasst die Kommission einen Bericht zuhanden der Aufsichtsbehörde. Diese hat zwei Monate Zeit, Stellung zu nehmen. Liegt deren Stel- lungnahme vor, wird der Bericht veröffentlicht. Die ersten Berichte über die Besuche in Pflegeheimen werden voraussichtlich Ende Jahr veröffentlicht.
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