Ethische Fragen stellen | Magazin ARTISET | 10 / 2022
ARTISET 10/11 I 2022 17 Wir alle sind ihnen im Berufsalltag schon begegnet: Situationen, in denen wir unsicher sind, welcher Ansatz rich- tig ist. Situationen, in denen wir mit Handlungsaufforderungen konfron- tiert werden, deren Angemessenheit wir in Zweifel ziehen, weil sie nicht mit unserer Berufsethik einhergehen. Meist geht es dabei um betreute Personen, deren Verhaltensweisen so gar nicht mit der aktuellen Situation zusam- menpassen. Diese Verhaltensweisen können wir eindeutig als «herausfor- dernd» identifizieren, da sie uns meist auffordern, eine Anpassung in der Be- ziehungsgestaltung vorzunehmen. ImGespräch mit Stefania Calabrese, Dozentin und Projektleiterin am Insti- tut für Sozialpädagogik und Bildung der Hochschule Luzern, Soziale Arbeit, wird aber deutlich, wie umfassend und multiprofessionell wir herausfordernde Verhaltensweisen in der Praxis angehen müssen. Stefania Calabrese hat sich im Rahmen mehrerer bedeutsamer For- schungsprojekte mit dem Thema aus- einandergesetzt und mit ihrem Team wichtige Entscheidungshilfen für die Praxis erarbeitet. Dabei hat sie festge- stellt: «Freiheitseinschränkende Mass- nahmen allein haben weder eine güns- tige Wirkung auf die Ursachen von herausfordernden Verhaltensweisen noch auf die Entwicklung des betrof- fenen Menschen.» Sie empfiehlt statt- dessen einen entwicklungsorientierten Zugang, der interdisziplinär angelegt und begleitet wird. Und sie ruft dazu auf, den Blick auf das System zu rich- ten: Dieses sei Ursache für herausfor- dernde Verhaltensweisen und zugleich ein Gelingensfaktor für den Umgang damit. «Wichtig ist die konsequente Forderung nach einer angemessenen medizinischen, psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung von Menschen mit Beeinträchtigung.» Die Ergebnisse ihrer Forschung zeigen, dass insbesondere (päd-)agogisch-psychologisch fundierte Ansätze unter- stützend wirken können, zum Beispiel «Banking Time» (regelmässige gemein- same Zeitfenster), «Low Arousal» (Ver- meiden von Spannungssituationen) oder «Positive Verhaltensunterstüt- zung» (Orientierung an Ressourcen). Sie plädiert für eine Strategie, die alle an der Begleitung beteiligten Personen befähigt, und zwar auf allen hierarchi- schen Ebenen. Die grosse Frage lautet: Wieso füh- len wir uns durch herausfordernde Ver- haltensweisen herausgefordert? Ist es das eigene Ohnmachtsgefühl und der Verlust einer klaren Handlungsrich- tung? Oder ist es das Verhalten an sich, zusammen mit den scheinbar alterna- tivlosen freiheitseinschränkenden Massnahmen, die wir solchem Verhal- ten oftmals folgen lassen? Grenzverletzend und gefährlich Fangen wir weiter vorne an: Die Be- zeichnung «herausforderndes Verhal- ten» umschreibt ein Verhalten, das als ausserhalb der Norm in Bezug auf Le- bensalter und soziale Umgebung wahr- genommen wird. Es ist oft grenzverlet- zend, manchmal gefährlich und risikobehaftet und immer auffällig. Es greift oft die körperliche und psychi- sche Unversehrtheit der direkt betrof- fenen Personen an, aber auch deren Umfeld, und es zwingt oft zum unmit- telbaren Handeln. Wir sind dabei mit Verhaltensvarianten konfrontiert wie sich schlagen, sich beissen, treten, mit Kot schmieren, spucken, schreien, den Kopf an die Wand schlagen und vielen weiteren. Sie alle können eine Selbst- und Fremdverletzung bewirken – und sie machen oft aus ein und derselben Person Opfer und Täterin oder Täter zugleich. Diese Verhaltensweisen kön- nen das soziale Zusammenleben massiv beeinträchtigen und unbeteiligte Per- sonen ängstigen und irritieren. Solche Situationen erfordern des- halb klare Handlungsanleitungen, da- mit alle Anwesenden angemessen be- gleitet werden können und damit die Sicherheit aller gewährleistet ist. Manchmal bedeutet das den Einsatz von freiheitseinschränkenden Mass- nahmen. Und das führt oft zur ein- gangs erwähnten Unsicherheit. Dass solche Verhaltensweisen als «Krise» gewertet werden und selten als «logische» oder «normale» Antwort auf ungenügende Kommunikations- und Lebensbedingungen, ist vielleicht Herausforderndes Verhalten kann massiv stören und zu Selbst- und Fremdgefährdung führen. Deshalb stehen Betreuende oft vor dem ethischen Dilemma, wider ihre Überzeugungen freiheits- einschränkende Massnahmen zu ergreifen. Zwei Fachpersonen vom Epi-Wohnwerk zeigen andere wirkungsvolle Massnahmen auf. Rahel Huber und Claudio Kaiser*
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