Ethische Fragen stellen | Magazin ARTISET | 10 / 2022

ARTISET 10/11 I 2022  19 ■ Jan trug einen Overall den er nicht selbst öffnen konnte, um das Kot- schmieren zu verhindern. ■ Jan trug geschlossene Einlagen, da er mit dem Overall nicht selbst auf die Toilette konnte und es immer zu «Unfällen» kam. Er wurde siebenmal täglich auf die Toilette begleitet und dort überwacht, damit er nicht in die Toilette fassen konnte. ■ Jan trug einen Helm, damit er sich keine Haare mehr ausreissen konnte, zudem waren die Haare kurz ge- schnitten, damit er sie schlecht grei- fen konnte. ■ Jan verbrachte viel Zeit in seinem Zimmer: Seine Lautstärke und seine Übergriffe auf Personal und Mitbe- wohnende verunmöglichten einen unbetreuten Aufenthalt an Orten, wo sich andere Menschen aufhalten. ■ Jan ass alle Mahlzeiten in seinem Zimmer, sie wurden für ihn bestellt und mundfertig dargereicht. Jan lebte mit unzähligen Regelungen, auf die er wenig bis keinen Einfluss hatte, sein Alltag war geprägt von frei- heitseinschränkenden Massnahmen. Potenzial erkennen Beim Eintritt ins Wohnhaus 21 bekam Jan einen Wohnplatz in einer Wohn- gruppe für Menschen mit dauerhaft herausfordernden Verhaltensweisen, wo er im Setting 1:1 und in Krisen 2:1 oder noch höher betreut wird. Als das TeamderWohngruppe Jan kennenlernte, richteten sie ihren Blick auf seine Fä- higkeiten und seine Bedürfnisse bezüg- lich Kommunikation, Beziehungs- und Umgebungsgestaltung. Tatsächlich zeigte Jan diverse Fähigkeiten: Er ist sehr musikalisch, bewegt sich rhyth- misch zu Hip-Hop und klatscht dazu in die Hände, und mit einer Trommel oder Rassel in der Hand beruhigt er sich sichtbar. Im Alltag werden deshalb täglich zwei Sequenzen eingeplant, in denen das Betreuungspersonal mit Jan musiziert. Hin und wieder sucht er sich vor den Spaziergängen ein Instrument aus, meistens eine Rassel. Diese tauscht er problemlos gegen seinen Znüni oder Zvieri aus, und sobald er gegessen hat, zeigt er auf die Tasche und erhält das Instrument zurück: Eine erfolgreiche Kommunikation hat stattgefunden. Jan ist zudem in der Lage, mit bei- den Händen Duplo-Legosteine zusam- menstecken. Er sucht sich immer die gleichen Farben aus der Schublade. Die Betreuungspersonen setzen sich zu Jan auf die Matte und beschreiben in ein- fachen Sätzen, was Jan und sie selbst tun. «Jetzt nehme ich ein blaues Lego», oder: «Du steckst ein gelbes oben auf den Turm.» Jan hält oft inne und scheint zuzuhören. Bittet man ihn um einen Legostein, gibt er ihn weiter und klatscht in die Hände, wenn man sich bedankt. Seit einigen Wochen hat er angefangen, selbst auf Steine zu zeigen, und nimmt sie freudig entgegen: Aus dem Nebeneinander wird allmählich ein Miteinander. Bisher war Jan kaum in seinen Ta- gesablauf miteinbezogen worden. Das Betreuungspersonal im Haus 21 bietet ihm jetzt mit drei Fotos (Marmeladen- brot, Birchermüesli oder Cornflakes) die Möglichkeit, sein Frühstück und den Ort, wo er frühstücken möchte, selbst zu wählen. Die Mitarbeitenden beobachten ihn in seiner verbalen und nonverbalen Kommunikation. Bemer- ken sie kleine Veränderungen im Ver- halten, die als Stressreaktion interpre- tiert werden könnten, drücken sie ihre Beobachtungen Jan gegenüber aus und bieten ihm andere Möglichkeiten an. So erfährt Jan, dass seine Umgebung darauf achtet, ob es ihm gut geht, und dass keine Eskalation nötig ist, um sei- ne Situation zu verändern. Die Team- mitglieder arbeiten konsequent mit Gebärdenunterstützter Kommunikati- on und Piktogrammen. Die laminier- ten Piktogramme liegen auch in seinem Zimmer zur freien Verfügung, hin und wieder schaut er sie an, manchmal kaut er auf ihnen. Was defekt ist, wird ge- meinsammit ihm entsorgt und danach ersetzt. Jan nutzt die Piktogramme noch nicht, ahmt aber einzelne Gebär- den nach, wenn das Betreuungsperso- nal mit ihm spricht. Fortschritte und Ausblick Dementsprechend hat Jan seit seinem Eintritt ins Wohnhaus 21 viele Fort- schritte gemacht. Nach wie vor trägt er Overall und Helm. Aber die Zeiten und Situationen ohne beides können langsam gesteigert werden. Dank der entwicklungs- und systemorientierten Betreuung haben sich Situationen mit herausfordernden Verhalten und der Einsatz von freiheitseinschränkenden Massnahmen deutlich reduziert. Mo- mentan hat man die medikamentöse Versorgung noch unverändert gelassen. Dem Betreuungsteam ist es wichtig, die Erfahrungen in unterschiedlichen Alltagssituationen interdisziplinär zu reflektieren und stetig anzupassen. Alle sind gespannt, wohin Jans Ent- wicklung führt: Das Ziel, seinen Alltag künftig ohne freiheitseinschränkende Massnahmen zu gestalten, scheint greifbar zu sein. * Rahel Huber, diplomierte Sozialpädagogin und Bildungsbeauftragte Sozialpädagogik bei Artiset Weiterbildung, und Claudio Kaiser, diplomierter Sozialpädagoge, arbeiten beide im Epi-Wohnwerk in Zürich.

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