Ethische Fragen stellen | Magazin ARTISET | 10 / 2022
ARTISET 10/11 I 2022 25 einen adäquaten Arbeitsplatz bieten kann. Und zudem würden sich längst nicht alle dauerhaft im allgemeinen Arbeitsmarkt kompetent erleben kön- nen und schätzen darum einen Arbeits- platz im ergänzenden Arbeitsmarkt. «‹Supported Employment› soll geför- dert und weiterentwickelt werden», sagt auch Kurt Orlandi. Alles, was den Menschen guttut und zur Teilhabe bei- trägt, müsse unterstützt werden. Rea- listisch seien solche integrativen Ar- beitsplätze unter den heutigen Bedingungen aber lediglich für ein knappes Drittel der «Drahtzug»-Mitar- beitenden. Das Spannungsfeld gegenüber dem ergänzenden Arbeitsmarkt bekommt Thierry Zimmermann vom Ausbil- dungsbetrieb Perspektive Plus in Thi- elle in paradoxer Weise zu spüren. Weil die für die beruflichen Massnahmen zuständige IV will, dass junge Men- schen mit Beeinträchtigung im allge- meinen Arbeitsmarkt ausgebildet wer- den, müssen die Auszubildenden von Perspective Plus eine Reihe von Prakti- ka in Betrieben der regulären Wirt- schaft absolvieren. Dies, obwohl das Ausbildungskonzept von Perspektive Plus ja gerade darin besteht, Aufträge des allgemeinen Arbeitsmarktes zu be- arbeiten. Thierry Zimmermann: «Da- mit fehlen die jungen Menschen oft in unseren Mikrounternehmen.» Die Fol- ge: «Wir können weniger Mandate der Wirtschaft annehmen, und der Druck auf die Fachpersonen und Auszubil- denden steigt.» Thierry Zimmermann unterstützt im Grundsatz die Zielrichtung der IV. Dazu gehört auch, die jungen Leute mittels «Supported Education» direkt in den Unternehmen zu begleiten. Es sei aber ein Wunschdenken, dass die Wirtschaft alle Auszubildenden mit Beeinträchtigung aufnehmen werde, «deshalb braucht es uns, die dazwi- schenstehen». Es zeichnet sich ein Wandel hin zu «Inklusionsbetrieben» ab Aufgrund des gesellschaftlichen Drucks in der Folge der UN-BRK dürften sich soziale Unternehmen vermehrt zu Dienstleistern entwickeln, welche die Menschen mit Beeinträchtigung vor Ort an den Ausbildung- und Arbeits- plätzen in der regulären Wirtschaft Support leisten. Darüber hinaus postu- lieren Branchenvertretende vor allem eine «Emanzipation» des ergänzenden Arbeitsmarktes: Soziale Unternehmen sind Unternehmen des einen und ein- zigen Arbeitsmarktes. Sie sind wie an- dere Anbieter gefordert, in ihren Pro- dukten und Dienstleistungen den regulären Standards der Wirtschaft zu entsprechen. Damit verbunden ist ein entsprechender Umgang mit den Mit- arbeitenden – sowie eine verstärkte Öffnung gegenüber Mitarbeitenden ohne IV-Rente. Während einige einen vollen Lohn erzielen, haben andere einen Teillohn, weil sie nicht voll leis- tungsfähig sind. Diese erhalten zudem die nötige Begleitung und Unterstüt- zung. Die Genusswerkstatt Herisau, die Sozialpädagoge und Geschäftsleiter Urs Stuker vor wenigen Jahren aus ei- ner grösseren klassischen Stiftung her- ausgelöst hat, funktioniert heute nach diesen Prinzipien: 11 Mitarbeitende mit IV-Rente arbeiten Seite an Seite mit Mitarbeitenden ohne IV-Rente. Insgesamt zählt die Genusswerkstatt 23 Mitarbeitende. «Wir verstehen uns als Inklusionsbetrieb und unterscheiden bei der Arbeit nicht zwischen Men- schen mit und ohne Behinderung», sagt Stuker. Die nötige Begleitung der Mitarbeitenden mit IV-Rente über- nimmt er selbst. Aufgrund der Grösse des Betriebs und weil die Mitarbeiten- den mit IV-Rente über leichtere, meist psychische Behinderungen verfügen, kann er auf Beiträge des Kantons ver- zichten. Der wirtschaftliche und soziale Er- folg kann sich sehen lassen: Innert kür- zester Zeit ist die Zahl der Mitarbeiten- den mit IV-Rente von anfänglich 5 auf 11 gewachsen. «Die Mitarbeitenden sind mutiger geworden und trauen sich mehr zu.» Die Identifikation mit dem Unternehmen sei deutlich gestiegen, die Krankheitsausfälle seien ebenso deutlich zurückgegangen. Der «Drahtzug» in Zürich übernimmt im Auftrag von Firmen unter anderem den Produketversand. Foto: Thomas Entzeroth
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