Ethische Fragen stellen | Magazin ARTISET | 10 / 2022
ARTISET 10/11 I 2022 27 Die Kinderrechtskonvention ist klar: Es gelten «das Recht auf Wahrung des Kindeswohls» gemäss Artikel 3 und «das Recht auf Anhörung und Partizipation» nach Artikel 12. Auch in der Schweiz. Ganz einfach, sollte man meinen. «Alles andere als einfach», widerspricht Louise Vilén Zürcher. In der Praxis, sagt die Gutachterin und Rechtspsychologin, sei das viel komplexer: «Die Kindesrechtskonvention ist sehr deutlich. Aber sie regelt den Einzelfall nicht.» Ausserdem sei «Kindeswohl» ein sehr abstrakter Begriff: Ein Himbeereis zur Schlafenszeit beispielsweise sei zwar für ein Kind lecker, aber dennoch dem Kindeswohl nicht unbedingt zuträglich. Simone Gerber, Juristin, Vizepräsidentin der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) Region Solothurn und Fachbuchautorin, geht noch weiter und sagt: «Kindeswohl ist genau genommen ein Begriff, den Juristen erfunden ha- ben. Um zu definieren, was alles dazu gehört, braucht es Medizinerinnen, Sozialpädagogen, Entwicklungspsycholo- ginnen und viele mehr.» Gemeint seien Werte wie die kör- perliche, geistige und sittliche Entfaltung sowie körperliche und emotionale Sicherheit. Der «Kindeswille» könne des- halb genau genommen gar nicht vom «Kindeswohl» abge- koppelt und dagegen abgewogen werden: «Kindeswille ist ein Teil des Kindeswohls, es geht dabei um Selbstwirksam- keit und damit um eines der wichtigsten Güter», sagt sie. «Deshalb ist je nach Kind und Situation stark auslegungsbe- dürftig, was Kindeswohl bedeutet.» Allgemeingültige Lö- sungen gebe es nicht. Gesucht: Sorgfältig ausgehandelte Lösungen Umso wichtiger sind in jedem Fall sorgfältige Abklärungen, welche Massnahmen einer Familie wirklich helfen. «Es geht dabei nie um ‹Behörden gegen Eltern und Kinder›», sagt Simone Gerber. «Gesucht werden vielmehr sorgfältig ausge- handelte Lösungen.» Besonders wenn es um Jugendliche geht, könne die Kesb nicht erzwingen, dass sie und ihre Familien eine Veränderung willkommen heissen. «Wir kön- nen höchstens versuchen, zur Veränderung zu motivieren.» Gelinge es allerdings nicht, die Familie mit an Bord zu holen, bestehe das Risiko, dass sich Eltern und Kinder gegen die Behörden verbünden und die Massnahme im Familien system wenig Wirkung zeige. Die Kesb gibt deshalb vor wichtigen Entscheiden wie bei der Frage nach einer Fremd- platzierung – zusätzlich zu den Abklärungen der Sozialdiens- te – wenn nötig ein Gutachten in Auftrag. Beispielsweise bei Louise Vilén Zürcher und ihrem Institut für Familien- rechtspsychologie in Solothurn, die ihre Gutachten immer zusammen mit Arbeitskolleginnen schreibt und manchmal zur Sicherheit auch externe Fachpersonen beizieht. Zuallererst geht Louise Vilén Zürcher jeweils der Frage nach dem Kindesschutz nach und untersucht, ob für ein Kind gut ist, was das Kind möchte – oder ob für das Kind gut ist, was die Eltern für das Kind wollen. Ihre Erfahrung zeigt: «Unter dem grossen Titel des Kindesschutzes werden manchmal Punkte abgehandelt, die eigentlich das Wohl der Eltern meinen.» Ihr Gutachten liefert der Kesb Grundlagen für weitere Massnahmen, und sie ist sich stets bewusst, dass ihre Arbeit mitunter schwerwiegende Auswirkungen auf die Familie hat. Umso mehr, weil jedes Familiensystem in sich irgendwie funktioniere, wenn auch nicht immer auf gängi- ge Weise. «Mit einer Intervention, die zwar gut gemeint ist, aber nichts anderes erreicht, als dass das bisherige System torpediert und auf den Kopf gestellt wird, helfen wir einer Familie nicht», weiss sie. Deshalb besucht sie die Familien manchmal über Wochen mehrmals zuhause, spricht nicht nur mit den Eltern, sondern auch mit vielen Menschen aus dem Umfeld der Kinder, die sie kennen und begleiten. Und hofft immer, dass die Kinder selbst anwesend sind: «Wir versuchen, kein Gutachten zu schreiben, ohne die Kinder getroffen zu haben.» Sogar mit einem Baby könne man bereits interagieren, sagt sie. Ursprünglich als Entwicklungspsychologin promo- viert, ist sie spezialisiert, sehr gut hinzuschauen, und kann erkennen, wie wohl sich ein Baby fühlt und wie es sich verhält. Das wiederum gibt ihr wichtige Hinweise über sei- ne Bindungen. Beim Einbezug von Kindern geht es deshalb für sie primär um eine Haltungsfrage: «Wie können wir mehr mit Kindern sprechen, statt nur über sie?» Ausnahme ist eine akute Gefährdung Dass Kinder bei Verfahren mitreden und mitwirken können, sei absolut zwingend, bestätigt auch Simone Gerber von der Kesb. Die einzige Ausnahme ist eine akute Kindeswohlge- fährdung, die sofortiges Handeln verlangt. In diesen Fällen könne nicht die ordentliche Reihenfolge Gefährdungs meldung – Abklärung – allfälliges Gutachten – Diskussion – Entscheid eingehalten werden: «Hier gilt es manchmal ohne lange Abklärung sofort einzugreifen, eine Risikoab wägung mit dem wenigen zu machen, was bekannt ist, und dann eine sogenannt vorsorgliche Massnahme ein zuleiten – oder wenn es noch schneller gehen muss, eine Streit rund um das Wohl eines Kindes: Es ist oft ein aufwenidiger Aushandlungsprozess, die richtige Lösung zu finden. Foto: Adobe Stock
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