Ethische Fragen stellen | Magazin ARTISET | 10 / 2022
ARTISET 10/11 I 2022 29 Im Fokus superprovisorische Massnahme, was bedeutet, dass erst spä- ter in Ruhe mit den Beteiligten alles besprochen werden kann.» Je kleiner das Kind sei und je grösser das Risiko, desto dringlicher seien solch rasche Entscheide. Auch hier gehe es jeweils um ein Abwägen zwischen Schutz- und Risikofaktoren, die unter anderem von der Familienkons- tellation und vom Alter des Kindes abhängen. Das aktuelle Risiko lässt sich dann mit Hilfe der Schadenshöhe mal Eintretenswahrscheinlichkeit ermitteln. Das sei hilfreich, aber nicht einfach, erklärt Simone Gerber: «Wir arbeiten nur mit Prognosen und können nicht immer vorausschauen, was tatsächlich passieren wird. Dennoch dürfen wir nicht erst eingreifen, wenn dem Kind schon Schaden entstanden ist.» Welches die ethisch korrekte Lösung ist, könne man daher nie eindeutig sagen, fasst sie zusammen: «Es gibt immer mehrere ‹richtige› Möglichkeiten, und manchmal können wir einzig zwischen zwei schlechten Lösungen wählen.» Bei Kindesschutzfällen gebe es keine Ja-Nein-Logik, sondern man arbeite mit Wahrscheinlichkeiten. Und manchmal, das kennt auch sie aus ihrem Alltag, müsse man einfach das eigene Wertesystem hinterfragen und nicht eingreifen, wenn es für die Familie stimme – auch wenn die Familie auf den ersten Blick nach ungewöhnlichen Mustern funktioniere: «Bei der Kesb geht es nicht in erster Linie darum, optimale Verhältnisse zu schaffen, sondern wir müssen uns teilweise mit dem Minimum begnügen, damit keine Kindeswohlge- fährdung mehr besteht.» Genau abwägen und transparent kommunizieren Aus diesem Grund schaut Gutachterin Louise Vilén bei ihren Beurteilungen sehr genau hin: Für ihr Gutachten spielt es auch eine Rolle herauszufinden, wie eine Familie in diese Situation gekommen ist, welche Hilfestellungen sie von den Behörden braucht und welche Entscheide helfen, damit diese Familie sich auf ihre eigene und gesunde Weise wei- terentwickeln kann. «Die allermeisten Probleme lassen sich mit Familienbegleitung oder sonstiger Unterstützung lösen», sagt sie. Nur selten laute die Empfehlung, den Eltern ihre Kinder wegzunehmen: «Nur dann, wenn Eltern die Verän- derungen, die es braucht, um gut für ihre Kinder zu sorgen, aus eigener Kraft nicht schaffen oder nicht zu schaffen bereit sind.» Wird trotzdem ein solcher Schritt beschlossen, hält sich Simone Gerber immer an einen wichtigen Grundsatz, der aber bei Behörden wohl teilweise zu kurz komme: Transparenz gegenüber Eltern und Kindern, erst recht, wenn ein Entscheid nicht gemäss ihrem Willen getroffen wurde. «Die Gründe für den Entscheid, aber auch die Erwartungen an die Eltern, müssen stets nachvollziehbar sein und offen kommuniziert werden», sagt sie. Die Begegnung müsse dazu stets auf Augenhöhe und mit Respekt gegenüber den elter- lichen Lösungsansätzen erfolgen. Ebenfalls wichtig und oft vernachlässigt werde, diesen Entscheid auch allen zu eröff- nen und zu erläutern. «Transparente Kommunikation und Information können auch einen Beitrag dazu leisten, wie gut beispielsweise Jugendliche eine Platzierung akzeptieren – und damit, wie sie später im Institutionsalltag mitmachen.» Gemeinsame ethische Haltung suchen Die «ethisch korrekteste Lösung» hingegen gebe es nicht, sagt Simone Gerber nüchtern. Nur eine Lösung nach bestem Wissen und Gewissen. «Und ethische Klarheit besteht einzig dann, wenn das Kindeswohl so eindeutig gefährdet ist, dass es unethisch wäre, dem Kind keinen Schutz zu gewähren.» In allen anderen Fällen sei es ein Ringen um die beste Mög- lichkeit für alle. Bei gewissen Kesb besprechen die Mitarbei- tenden nach schwierigen Entscheiden die ethischen Fragen in der Gruppe, andere haben eine Supervision: So versuchen sie, anhand der laufenden Beispiele eine gemeinsame ethische Haltung zu erarbeiten. Gutachterin Louise Vilén Zürcher sucht bei Bedarf Un- terstützung in einer Supervision und erholt sich im Kreis ihrer grossen Familie. Für sie stimmen bei den meisten Gut- achten die ethischen Ideale und der praktische Alltag über- ein: «Ich habe einen grösseren Handlungsspielraum bekom- men, seit ich selbstständig bin.» Damit ihre Arbeit sie nicht allzu sehr belastet, hält sie sich an Prinzipien: «Wenn ich die Inhalte der Beurteilung den Menschen nicht ins Gesicht sagen könnte, dann muss ich über die Bücher.» Bei den meisten Familien fragt sie nach einem Jahr nach, wie es bei ihnen inzwischen aussieht. Genau das ist ihr Ziel: «Ich möchte diesen Menschen nach zwei Jahren im Coop beim Gemüse begegnen können, wir sagen uns Hallo, und ich kann fragen, wie es ihnen geht.» Simone Gerber: «Wann interveniert der Staat in Familien? Eintritts- und Eingriffsschwellen im Kindesschutz und im Kindesrecht» Stämpfli Verlag Bern, 2021, 240 Seiten, 42 Franken
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