Ethische Fragen stellen | Magazin ARTISET | 10 / 2022

ARTISET 10/11 I 2022  43 weniger farbig – reizarmer eben. Überall kleben Piktogram- me, die zeigen, in welcher Reihenfolge die Aussenkleider angezogen werden. Und sowohl bei den extra niedrigen Kindertoiletten als auch im rollstuhlgängigen Klo- und Du- schraum zeigen Piktogramme, wie man Hände wäscht, Zäh- ne putzt oder duscht. Davon profitieren letztlich auch Kin- der ohne Beeinträchtigung. Im kooperativen Kindergarten sind alle Kinder willkom- men. Jene für die Heilpädagogikklasse werden sorgfältig schulpsychologisch abgeklärt. Ausschlusskriterien gibt es kaum: Für nächstes Jahr ist ein mehrfachbehindertes Kind im Rollstuhl angemeldet, und alle im Team sind gespannt, wie sie das meistern werden. Ob es trotzdem Kinder gibt, die in einem solchen Modell nicht tragbar sind? Gisela Roth überlegt kurz und nickt: «In Aarau beispielsweise hatten wir einmal einen Jungen, der immer weglaufen wollte. Das war zu gefährlich, weil die Hauptstrasse nah am Kindergarten vorbeiführt.» Auch wenn das Team merkt, dass ein Kind dauerhaft unglücklich ist, ist die Suche nach einer anderen Lösung angesagt: «Kein Kind soll vor lauter Kooperation unglücklich sein.» Kooperation auf allen Ebenen Kooperation ist übrigens in diesemModell nicht nur für die Kindergartenkinder gefragt: Auch die Mitarbeitenden – Leute mit pädagogischer, heilpädagogischer oder sozialpäd- agogischer Ausbildung, andere mit einem Diplom FABE Kinderbetreuung oder Betreuung – und die beiden Schul- leitungen müssen laufend sehr eng zusammenarbeiten. Heil- pädagogin Nicole Rieger nickt: «Ja, man muss kommuni- zieren wollen.» Ein sorgfältig ausgetüftelter Wochenplan ermöglicht, den Überblick über die Kinder und ihre Stun- denpläne zu behalten. Das zweite Zauberwort heisst daher Flexibilität: «Es braucht laufend neue Absprachen, und Zu- sammenarbeit ist immer ein grosses Thema», erklärt Gisela Roth, Heilpädagogin, Lehrerin und Schulleiterin. Und, sie will auch nichts beschönigen, zwischendurch gebe es durch- aus Probleme: «Das darf es auch. Aber wir schauen sofort genau hin.» Idee aus Wien mitgebracht Sie brachte die Idee für Kooperationsformen im Jahr 2001 aus Wien mit und stiess damit im richtigen Moment bei ihren Vorgesetzten auf offene Ohren: Die Schürmatt kämpfte damals mit einem Raumproblem, und in Holziken wurde ein Raum frei – Raum für die neue Idee vom kooperativen Kindergarten. «Die Kindergärtnerinnen vor Ort und die Schulpflege waren sehr interessiert, und auch von der Ge- meinde wurde das Projekt von Anfang an mitgetragen», er- zählt sie. Die Verantwortlichkeiten wurden von Beginn weg klar geregelt, für den Regelkindergarten ist die Gemeinde zuständig, für den Heilpädagogischen Kindergarten die Schürmatt. Das habe einen grossen Vorteil, sagt Gisela Roth, denn das Ja der Gemeinde und die vertragliche Regelung bedeuten: Das Konzept ist so klar strukturiert, dass die Ko- operation nicht mit einzelnen Personen steht und fällt, son- dern dass die Personen austauschbar sind. Für alle gilt inzwischen der Lehrplan 21, im Kooperativen Kindergarten werden zusätzlich eigene Themen der Kinder speziell angeschaut. Manchmal fragen Eltern, die sich für diese Kindergartenform interessieren, wie denn Eltern von Kindern ohne Behinderung reagieren: Ob sie ihre Kinder zögerlich anmelden? «Nicht imGeringsten» versichert ihnen dann Gisela Roth überzeugt. Im Gegenteil, viele Eltern las- sen ihr Kind absichtlich auf die kooperative Liste setzen. Auch Richard Suter, Schulleiter vor Ort, habe von Eltern nie Negatives gehört, sondern stets viel Begeisterung gespürt. Tatsächlich ist die Stimmung im Kindergarten auch an diesemTag auffallend friedlich. In den Spielecken zeigt sich, was auf der Homepage versprochen wird: «Sprachliche, kul- turelle und äusserliche Unterschiede sind beim Spielen schnell vergessen.» In der Ecke mit dem herzigen «Alphüttli» hat sich eine Gruppe Mädchen gemütlich eingerichtet, der einzige Bub sitzt hinter der Theke des Chrämerladens und wartet auf «Kundschaft». Auf dem Gang zieht ein Bub mit einem Roll- koffer vorbei, ein anderer spaziert ihm eilig mit einem Kin- derwagen hinterher. Gisela Roth erklärt Interessierten, die den kooperativen Kindergarten besichtigen: «Jetzt können Sie mal schauen, welches Kind zu welcher Gruppe gehört.» Sie erntet jeweils verständnislose Blicke und lacht dann herz- haft. «Genau, das sieht man höchstens auf den zweiten Blick.» Auch hier sind nicht alle Kinder gleich. Aber jedes hat seinen Platz, und alle profitieren davon. KOOPERATIVE KINDERGÄRTEN SCHÜRMATT In der Stiftung Schürmatt, 1963 von der re- formierten Landeskirche des Kantons Aargau gegründet, unterstützen heute rund 480 Mitarbeitende an 15 Standorten die Ent- wicklung der rund 580 kognitiv und mehrfach beeinträchtigten sowie entwicklungs- verzögerten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Kooperative Kindergärten nach demMotto «Zusammen sind wir besser» betreibt die Stiftung in Holziken, Gonten- schwil, Aarau Rohr und in Unterentfelden. Der genaue Schlüssel wird je nach Grösse des jeweiligen Regelkindergartens errechnet. Seit August 2019 gibt es in Densbüren auch eine Kooperative Schulklasse. Die Stiftung Schürmatt hofft, noch weitere Schulklassen eröffnen zu können. ➞ www.schuermatt.ch Aktuell

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