Ethische Fragen stellen | Magazin ARTISET | 10 / 2022

ARTISET 10/11 I 2022  7 Sie haben eine Dissertation ge- schrieben zum Thema «Lebensend­ entscheidungen bei Menschen mit einer Beeinträchtigung» und diver- se Arbeiten zu ethischen Fragen im Pflege- und Sozialbereich: Könnte man sagen, Ethikfragen stellen sich uns Menschen von Geburt bis Tod? Daniela Ritzenthaler: Ja, Ethik betrifft alle unsere Lebensbereiche.Während sich die Moralvorstellungen je nach Zeit oder Gesellschaft wandeln können, liefert die Ethik die Argumente, welche Moralvor­ stellungen warum zu gutem Handeln führen. Verschiedene Ethikerinnen und Ethiker können jedoch zu gleichen The­ men andere Schlüsse ziehen: Die einen plädieren, man dürfe nie lügen, während andere die Ansicht vertreten, eine Not­ lüge, die Schlimmeres verhindert, sei ge­ rechtfertigt. Eine theoretisch fundierte, aber alltagstaugliche Ethik sollte abwä­ gen, wie man die wichtigen Prinzipien erreicht: Gutes tun, nicht schaden, Ge­ rechtigkeit für möglichst viele erreichen und Autonomie gewähren. Ist Ethik ein weltumspannender Wert, oder unterscheidet sie sich je nach Kultur? Werte wie Menschenrechte oder Selbstbe­ stimmung sind universal. Und auch das Prinzip «Gutes tun» und das Nachden­ ken darüber gelten in allen Kulturen. Aber tatsächlich ist die Gewichtung un­ terschiedlich: In Asien hat die Autonomie einer Einzelperson weniger Gewicht und die Familie wird viel stärker in die Ent­ scheidfindung miteinbezogen. Gelebte Ethik hat viel damit zu tun, welche Hal­ tung und welches Menschenbild wir pfle­ gen. Das hat eine Wirkung auf die Art, wie wir entscheiden, besonders auch auf die «Bedside Manners», also die Art, wie Pflegende mit unterstützungsbedürftigen Menschen umgehen – damit wird letzt­ lich unsere Lebensqualität beeinflusst. Das heisst, Ethik spielt besonders in den drei Fachbereichen des Branchenverbands Artiset eine wichtige Rolle… Ja, angefangen mit dem Bereich Kinder und Jugendliche: Die ethisch wirklich heiklen Fragen nach Kinderrechten, Kin­ deswohl und Kindeswillen treten zwar genau genommen bereits vor der Platzie­ rung auf. Im Institutionsablauf stellen sich aber immer noch zahlreiche Alltags­ fragen, beispielsweise im Umgang mit Regeln oder mit Nähe und Distanz. Des­ halb müssen die Sozialpädagoginnen und -pädagogen unbedingt gute Konzep­ te zur Hand haben. Die meisten von ihnen haben zum Glück in der Ausbil­ dung bereits viele solche Fragestellungen behandelt, sind also in der Regel gut vor­ bereitet. Natürlich läuft dann im Alltag nicht alles so einfach, aber insgesamt sind ihnen ethische Fragen geläufig. Schwierig wird es vor allem dann, wenn ein ethisches Dilemma auftritt. Wie erkennt man denn ein solches? Ein ethisches Dilemma entsteht dann, wenn sich zwei bedeutende Werte gegen­ überstehen und keine Handlung es er­ möglicht, beiden gerecht zu werden. Also wenn beispielsweise dieWerte Schutz und Freiheit einander gegenüberstehen, wie wir das in der Coronapandemie alle er­ lebt haben – beides zugleich war nicht zu gewährleisten. Und welche Wertekonflikte können in der Jugendbetreuung auftreten? Hier stehen wir gleich vor mehreren Spannungsfeldern: Die Verantwortlichen müssen gleichzeitig das Wohl der Jugend­ lichen, aber auch das der Eltern und Geschwister miteinbeziehen. In Bezug auf die Kinder und Jugendlichen stehen sie zwischen Kindeswohl und Kindeswil­ le, aber auch zwischen Schutz und Kon­ trolle oder der Freiheit der Jugendlichen, sich zu entwickeln. Ein konkretes Beispiel ist die Urinprobe: Ist sie notwendig zum Schutz der Jugendlichen? Oder schadet sie der pädagogischen Beziehung so stark, dass sie die Entwicklung hemmt? Hier ist es spannend, die Haltung der Institution zu diskutieren und herauszufinden, wel­ cheWerte wichtig sind. Die ethische Sicht hilft, die verschiedenen Werte zu gewich­ ten. Es ist wichtig, solche Fragen immer wieder im Team präsent zu haben, päd­ agogische Überlegungen zu machen und zu einer gemeinsamen Haltung zu finden. Welche ethischen Fragen stellen sich im Bereich Menschen mit Be- einträchtigung? Hier geht es oft um Themen wie Schutz versus Selbstbestimmung und Freiheit. Die Fragen betreffen unzählige Bereiche des täglichen Lebens: Darf beispielsweise eine Person mit einer kognitiven Beein­ trächtigung selber bestimmen, wie viel Schokolade sie isst, wenn sie übergewich­ tig ist und vielleicht noch an Diabetes und Bluthochdruck leidet? Auch all die Fragen rund um Sexualität, Familien­ gründung, Arbeit oder die Themen Selbstbestimmung und Entscheide am Lebensende stellen sich im Behinderten­ bereich immer wieder. Und wo stecken in diesem Bereich kaum lösbare ethische Dilemmata? Hier bestehen schwierige Spannungsfel­ der rund um freiheitseinschränkende Täglich können im Umgang mit unterstützungs­ bedürftigen Menschen Dilemmata auftreten, in denen zwei gleich wichtige Werte nicht gleichzeitig erfüllt werden können. «In solchen Situationen hilft ein gutes Ethikkonzept sehr», sagt die klinische Ethikerin Daniela Ritzenthaler*. Interview: Claudia Weiss

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