Ethische Fragen stellen | Magazin ARTISET | 10 / 2022

ARTISET 10/11 I 2022  9 Im Fokus Massnahmen bei selbstverletzendem Ver­ halten oder bezüglich Selbstbestimmung bei Ernährung und Gesundheit: Hier muss man jeweils auch die Urteilsfähig­ keit in Bezug auf eine konkrete Hand­ lung beachten. Zeigt sich beispielsweise, dass ein Bewohner nach einer Tasse Kaf­ fee immer sehr nervös wird, ist eine Risi­ koabwägung angebracht: Was ist der schlimmstmögliche Schaden, der eintre­ ten kann? Wird der Bewohner einfach nervös und nervt dadurch andere, oder könnte er in seiner Nervosität Schaden anrichten oder erleiden? Rechnen wir den schlimmstmöglichen Schaden mal die Eintretenswahrscheinlichkeit, können wir das Risiko ermitteln. Solche Risikoabwägungen müssen die Teams wohl auch in unserem dritten Fachbereich, der Langzeit- pflege, immer wieder vornehmen. Genau, dort geht es um Themen wie Selbstgefährdung, aber auch lebensver­ längernde Massnahmen, Selbstbestim­ mung am Lebensende oder Haltung ge­ genüber Menschen mit Demenz, Hier gilt es immer wieder gut zu überlegen, wer was selbst bestimmen darf. Und dennoch stehen die Pflege- fachleute im Alltag wohl ebenfalls vor grossen Dilemmata. Beispielsweise bei Sturzgefahr stellen sich oft sehr schwierige Fragen nach Schutz oder Freiheit und Selbstbestimmung. Ausserdem muss eine Risikoabwägung berücksichtigen, dass in einem Fall die Eintretenswahrscheinlichkeit vielleicht kleiner, der Schaden aber schlimmer ist als in einem anderen Fall. In jedem Fall zählt jedoch vor allem der geäusserte oder der mutmassliche Wille: Wie schlimm wäre es für eine Person, aufgrund der Sturzfolgen zu sterben? Vielleicht nimmt sie ja dieses Risiko lieber in Kauf, wenn sie dafür mehr Freiheit geniessen kann. Über solche Fragen müssen sich die Teams immer wieder beraten. Besonders, weil in Betreuungssitu- ationen oft ein gewisses Machtge- fälle besteht. Sowohl Angehörige als auch Pflegebedürf­ tige können jederzeit einem solchen Ge­ fälle gegenüberstehen. Hier ist eine ganz­ heitliche Sicht wichtig, alle müssen mitreden können. Dabei hilft der Ca­ re-Ethik-Ansatz: Hier denkt man von der vulnerablen Person aus und ist sich deren Abhängigkeit bewusst. Dieser für­ sorglich geprägten Perspektive sollte man generell viel mehr Gewicht geben. In der Pflege müssen Machtstrukturen immer wieder hinterfragt werden – sonst sind die Bewohnenden machtlos gegenüber Machtmissbrauch. Gut etablierte Ethik­ strukturen helfen, solche Problematiken zu vermeiden. Verfügen denn inzwischen viele In- stitutionen über eine Ethikstruktur? Eine Umfrage der Schweizerischen Aka­ demie der MedizinischenWissenschaften SAMW zum Thema «Entwicklung der klinischen Ethikstrukturen in der Schweiz» von 2014 zeigte, dass sich zu­ mindest bis dahin vor allem kleinere In­ stitutionen noch wenig mit dem Thema auseinandergesetzt hatten. In der Lang­ zeitpflege beschäftigen aber heute immer mehr Institutionen zumindest eine Pfle­ geexpertin, die regelmässige Fallbespre­ chungen durchführt. Grosse Anbieterin­ nen wie Domicil und Senevita haben eigene Ethikkonzepte und ein Ethikfo­ rum, inzwischen interessieren sich auch kleinere Institutionen zunehmend dafür. Was braucht es überhaupt, um in einer Institution passende Ethik- strukturen aufzubauen? Das ist natürlich eine Frage von Ressour­ cen, Zeit und Finanzen. Aber oft braucht es gar keine riesigen Strukturen, wichti­ ger ist, dass man überhaupt miteinander ethische Fragen überlegt und eine gemein­ same Haltung erarbeitet: «Was ist uns wichtig?» oder «Was brauchen wir im Alltag, um ethisch handeln zu können?». Hilfreich ist ein Gremium, das solche Fra­ gen und gute Abläufe gemeinsam überlegt. Und wichtig ist: Ethik muss von der Lei­ tung gelebt und von den Leuten an der Basis getragen werden. Die klinische Ethikerin Daniela Ritzenthaler berät Institutionen. Foto: BFF Bern

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