ARTISET 10/11 I 2023 21 Im Fokus Gesund, krank. In der Klinik, nach der Klinik. Warten, erwarten. Andrea Zwicknagl kennt den Zustand, wenn die Seele schreit, ringt, sich windet. Fast 20 Jahre nach der Diagnose Schizophrenie setzt sie sich für einen anderen, differenzierteren Umgang mit psychischen Erschütterungen ein und versucht Lücken in einem System zu füllen, das manchmal zu kurz greift. Von Tanja Aebli Jung ist sie und tatentschlossen. Bereit, ins Kloster einzutreten. In die Stille, die alten Mauern, die Welt von Heiligengeschichten und Psalmen. «Ich war fasziniert von dieser anachronistischen Lebensweise», sagt Andrea Zwicknagl im Rückblick. Nach zwei Jahren regelmässiger Besuche soll eine fünfwöchige Probezeit zeigen, ob seitens der Gemeinschaft wie auch der Nonne in spe die Zeichen auf Grün stehen für eine lebenslange Bindung an den Orden. Der Einstieg ist steil, der Rahmen streng: Einmal wöchentlich findet ein Gespräch statt, ansonsten wird geschwiegen. Still ist es, sehr still. «Bei drängenden Fragen hatte ich kein Gegenüber», erinnert sich Andrea Zwicknagl. Da ist diese neue, andere Lebenswelt, da sind existenzielle Entscheidungen, die getroffen werden wollen. Ganz zu schweigen von den Gedanken, die plötzlich drehen, rasen, nicht mehr zur Ruhe kommen. Ein Karussell im Kopf, das sich dem Off-Modus verwehrt. Die 31-Jährige schläft kaum noch, den täglichen Routinen, die das Klosterleben vorgibt, kann sie nur mit grösster Mühe nachkommen. In den Fürbitten überfluten sie Worte und Gefühle. Eine Zäsur, eine Diagnose, ein Schema Die Klosterfrauen bringen sie zum Hausarzt, später in die psychiatrische Klinik. Eine gänzlich neue Erfahrung für die studierte Chemikerin und PR-Beraterin, die bislang kaum mit gesundheitlichen, geschweige denn psychischen Problemen zu tun hatte. Zehn Tage dauert der stationäre Aufenthalt in der Klinik, die sie mit der Diagnose Psychose, hochdosierten Medikamenten und dem Gefühl, das Geschehene nicht fassen zu können, verlässt. «Für meine veränderten Wahrnehmungszustände hatte ich damals schlichtweg keine Sprache», sagt die heute 51-Jährige nachdenklich. «Noch bevor ich diese Erfahrungen für mich einordnen konnte, wurde mir das psychiatrische Deutungsmodell übergestülpt. Von einem Tag auf den andern galt ich als krank, gestört, behandlungsbedürftig.» Symptome werden beim Eintritt zwar erfragt, um sie diagnostisch einzuordnen, doch ein echter Dialog bleibt aus. Erst viele Jahre später kann Andrea Zwicknagl einen anderen Blick auf das werfen, was geschehen ist, adäquate Worte dafür finden und Fragen formulieren – auch unangenehme. Worte statt Pillen, Dialog statt Monolog «Wieso interessierte sich damals niemand dafür, was mich beschäftigte und was ich in diesem Moment gebraucht hätte?» Da war kein vertiefter Austausch, kein Miteinander. Und auch bezüglich der psychiatrischen Versorgung, wie sie sie am eigenen Leib erlebt hat, stellt sie heute vieles grundsätzlich in Frage: «Mit Medikamenten wurde versucht, meine Psyche wieder auf Kurs zu bringen, mich vom kranken in den gesunden Zustand zu manövrieren.» Eine Möglichkeit, den dahinterliegenden Konflikt zu reflektieren, sei nicht geschaffen und damit auch die Chance vertan worden, die wahren Wurzeln des Geschehens besser zu verstehen. Genaues Hinschauen und Hinhören, da ist sich Andrea Zwicknagl sicher, wäre in ihrem Fall zielführender gewesen, auch auf lange Sicht: «Im Kloster hat meine Psyche «Mit der Ausbildung bei Ex-In hat mein Genesungsprozess erst wirklich begonnen – mit der Erkenntnis, dass meine Erfahrungen etwas wert und wichtig sind.» Andrea Zwicknagl, Genesungsbegleiterin
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