ARTISET 10/11 I 2023 23 zu einem späteren Zeitpunkt andere Menschen bei einer psychischen Erschütterung zu begleiten. Für Andrea Zwicknagl beginnt ein neues Kapitel in ihrer bewegten Geschichte: «Ich sah mich nicht länger als Patientin, die gegen eine bedrohliche Erkrankung ankämpfen muss, und begann stattdessen, mein Innenleben genauer anzuschauen, mich meiner Verletzlichkeit zuzuwenden.» Zur Angst gesellt sich die Neugierde, zur Sprachlosigkeit eine Stimme. Auch die Vernetzung mit der weltweiten Community von Menschen mit Psychiatrieerfahrung bestärkt sie in ihrer Sichtweise, wonach sich psychische Erkrankungen nicht nach einem starren Schema beilegen lassen. «Es ist für mich ebenso befreiend wie bereichernd zu sehen, dass da viele Menschen über den ganzen Planeten verteilt sind, die ähnliche Erfahrungen wie ich gemacht haben und nach neuen Wegen suchen.» Open Dialogue: anders kommunizieren Was Recovery für sie bedeutet? Andrea Zwicknagl wandelt in diesem Zusammenhang gerne ein Zitat von Vaclav Havel leicht um: «Recovery ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.» Eine Haltung, die sie auch in ihren heutigen Funktionen trägt und bestärkt. Etwa wenn sie ihre Erfahrungen bei der Begleitung von Patientinnen und Patienten einbringt und ihnen als Peer Zeit, Wertschätzung und unvoreingenommene Neugier schenkt. Und ihnen Hoffnung gibt, dass eine psychische Erschütterung durchgestanden werden kann. «Am wichtigsten ist es für viele, dass sie sich mit einer Person unterhalten können, die ähnliche Erfahrungen gemacht hat und mit den dunklen Seiten der Existenz vertraut ist», sagt Andrea Zwicknagl. Um Kommunikation geht es auch bei ihrem Job in der psychiatrischen Abteilung des Spitals Interlaken, mit dessen mobiler Krisenbegleitung sie seit 2018 unterwegs ist. Hier arbeitet sie mit dem Open-Dialogue-Modell, also genau mit jenen Ansätzen, die sie sich in der eigenen Krise gewünscht hätte. Zusammen mit einer weiteren Person sucht sie Menschen in akuten Krisenzuständen zuhause oder in ihrem gewohnten Umfeld auf. Zum zehnköpfigen Team gehören Fachleute aus den Bereichen Psychologie, Psychiatrie, Pflege, Sozialarbeit und Peers. Open Dialogue setzt – wie es der Name bereits impliziert – auf Gespräche und das Netzwerk der Betroffenen. «Wir servieren keine fixfertigen Behandlungsprogramme, sondern vermitteln den Leuten, dass wir für sie da sind», bringt es Zwicknagl auf den Punkt. Im besten Fall lassen sich so Einweisungen in eine Klinik verhindern und Lösungen im nächsten Umfeld des Betroffenen finden. Oder wie es Jaakko Seikkula, einer der Mitbegründer von Open Dialogue, formuliert: «Wenn jeder das Gefühl hat, gehört zu werden, brauchen wir keine Lösungen anzubieten. Sie ergeben sich von selbst.» Verrückte Zugehörigkeit Andrea Zwicknagl ist heute an vielen Ecken und Enden tätig, bringt ihre Erfahrungen ein, tauscht sich aus, kämpft für Veränderung: als Peer, Betroffenenvertreterin im Stiftungsrat von Pro Mente Sana, Co-Leiterin einer Gruppe zum Stimmenhören, Referentin an Fachhochschulen oder als Kursleiterin im Recovery College Bern. Sie besucht internationale Tagungen, vernetzt sich und will als Aktivistin aufzeigen, dass Krankheit und Genesung letztlich ein Konstrukt sind. «Ich führe ein spannendes, vielseitiges Leben, fühle mich mit vielen Leuten verbunden und habe die Deutungshoheit über mich und meine Geschichte zurückerobert», bilanziert Zwicknagl. Die Trennschärfe zwischen Sinn und Wahnsinn, zwischen Genesen und Kranksein gibt es in ihrem Curriculum bis heute nicht: «Einmal halte ich eine Rede vor 300 Leuten, ein andermal verkrieche ich mich für drei Tage unter der Bettdecke. Aber ich führe ein gutes Leben – nicht trotz, sondern wegen meiner Erfahrungen. Ich habe unter den Menschen, die wie ich für verrückt erklärt worden sind, jene Zugehörigkeit gefunden, die ich immer gesucht habe. Vielfältiger und unkonventioneller, als es im Kloster je hätte sein können.» GENESUNG GESTALTEN ■ Zum Thema Recovery hat Pro Mente Sana eine Broschüre publiziert: promentesana. ch/selbstbestimmt-genesen/grundlagen- zur-genesung/was-bedeutet-recovery ■ Recovery Colleges, die es in Bern, Genf, der Ostschweiz, St. Gallen und Zürich gibt, schaffen Lern- und Austauschmöglichkeiten zu Themen rund um psychische Gesundheit. ■ Ex-In Schweiz bildet Menschen mit psychischen Krankheits- und Genesungserfahrungen zu Peers weiter: ex-in-schweiz.ch ■ Das Netzwerk Stimmenhören.ch ist ein Zusammenschluss von Stimmenhörenden, Fachpersonen und weiteren Interessierten: netzwerk-stimmenhoeren.ch «Recovery ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.» Im Fokus
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