Erfahrungen teilen

ARTISET 12 I 2022 29 Die beiden jungen Menschen haben einen guten Draht zueinander. Das wird bei unseremTreffen in einer Basler Quartierbeiz schnell deutlich. Angela ist gerade mal 20, Gael zwei Jahre älter. Sie erinnern in ihrem kollegialen und gleichzeitig vertrauten Umgang an Bruder und Schwester. «Er ist so etwas wie ein grosser Bruder für mich», sagt sie in ihrer ruhigen, überlegten Art – und er reagiert darauf mit einem Blick, der Anerkennung und auch eine gewisse Verantwortung zum Ausdruck bringt. Seit Anfang 2021 bilden Gael und Angela ein Tandem. Oder besser: Gael ist der «Götti», Angela sein «Götti-­ Kind». Ins Leben gerufen hat dieses «Götti-/Gotte-Programm» vor rund vier Jahren das Careleaver Netzwerk Region Basel. Dabei geht es darum, dass Careleaver anderen Careleavern bei Fragen und Alltagsproblemen zur Seite stehen. Gael und Angela sind beide von klein auf in Heimen und Pflegefamilien aufgewachsen. Während Gael bereits seit vier Jahren sein Leben als Careleaver meistert, wohnt Angela – noch – bei ihrer Pflegefamilie und bereitet sich auf die Abschlussprüfungen an der Fachmittelschule vor. Und obwohl sie, wie sie sagt, ein recht gutes Verhältnis zu ihren Pflegeeltern hat, möchte sie so rasch wie möglich ausziehen. Ein Wunsch, mit dem Angela nicht allein ist. «Während der langen Zeit in Heimen oder Pflegefamilien ist man ständig von Personen umgeben, die sich um einen sorgen, aber eben auch vieles bestimmen», sagt Gael, und Angela nickt. Vielen sei aber gar nicht bewusst, welche Herausforderungen mit einem eigenständigen Leben verbunden sind – das weiss er aus eigener Erfahrung. Ehemalige Pflege- und Heimkinder können kaum auf die Unterstützung ihrer Angehörigen und auch nicht auf jene der Gesellschaft zählen. «Aufgrund der Fehler, die ich damals gemacht habe, kann ich Angela jetzt helfen», sagt er. Die ähnliche Lebensgeschichte verbindet Dass Angela und er heute ein Tandem bilden, ist nicht selbstverständlich. Gael hat einen vollgepackten Tag und wollte zunächst gar nicht beim «Götti-/ Gotte-Programm» mitmachen. Nach einer EFZ-Grundausbildung als Elektriker und der Berufsmatura studiert der 22-Jährige seit einigen Monaten Internationales Management an der FHNW in Olten und arbeitet als Praktikant beim Pharmaunternehmen Roche, wo er mit der Rekrutierung von Lernenden beschäftigt ist. Darüber hinaus engagiert er sich seit Gründung des Careleaver Netzwerks Region Basel vor vier Jahren für die Anliegen von Careleaverinnen und Careleavern. Im mittlerweile gegründeten Verein ist er als Vorstandsmitglied verantwortlich für die politische Lobbyarbeit. Kennengelernt haben sich die beiden eher zufällig im Rahmen einer Kampagne, bei der Gael andere Careleaverinnen und Careleaver, aber auch Heim- oder Pflegekinder auf die Angebote des Careleaver Netzwerks aufmerksam machte. Über das «Götti-­ Gotte-Programm» hinaus gehören etwa auch alle zwei Wochen stattfindende Netzwerktreffen dazu. «Ich wollte Angela eigentlich einfach ins Netzwerk hineinbringen», sagt er. Dann aber habe ihn ihre Lebensgeschichte beeindruckt, auch weil sie sehr ähnlich ist wie seine eigene. Zudem gefalle ihm ihre Energie. «Wir haben Ähnliches erlebt», begründet auch Angela ihre Teilnahme am Tandem-Programm. Alle ihre Kolleginnen und Kollegen hätten zudem immer ihre Eltern an der Seite, «da tut es gut, mit jemanden reden zu können, der sich in meine Situation hineinversetzen kann. Kolleginnen und Kollegen haben Mitleid, können aber nicht nachfühlen.» Motivierend sei für sie zudem, was Gael bisher alles geleistet hat: «Obwohl auch er einen schwierigen Start hatte, machte er etwas Grosses daraus.» Hilfe bei komplexen Fragen und schwierigen Entscheiden Sehr schnell merkte sie zudem, dass Gael ihr bei wichtigen Fragen wertvolle Unterstützung bieten kann. Seit je beschäftigt es sie zum Beispiel sehr, nicht zu wissen, wer ihr Vater ist. «Gael hat mir angeboten, herauszufinden, welche Möglichkeiten es gibt», sagt sie. «Es hat mich beeindruckt, dass mich jemand auch in solchen Fragen ernst nimmt und bereit ist, mir zu helfen. Allein wäre ich überfordert gewesen.» Gerade bei solch kniffligen Fragen profitiert Angela davon, dass Gael beim Aufbau des Careleaver Netzwerks in den vergangenen Jahren zahlreiche hilfreiche Kontakte geknüpft hat. So etwa auch bei ihrem Wunsch, ein Angela lebt noch in einer Pflegefamilie, Gael meistert seit vier Jahren sein Leben als Careleaver. Seit fast zwei Jahren bilden die zwei ein Tandem. Er unterstützt und berät sie bei Alltagsproblemen. «Ohne Gael hätte ich nicht eine solch grosse Motivation, etwas aus mir zu machen», sagt sie. Von Elisabeth Seifert

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