ARTISET 12 I 2022 47 Daniela Walker: «VomWaisenhaus zur Kinder- und Jugendsiedlung Utenberg. 200 Jahre stationäre Kindererziehung in Luzern», 25 Franken, bestellbar unter: sämtliche Kinder im gelben Regenmantel und damit eindeutig als «jene aus demHeim» erkennbar. Das Gefühl, als Heimkind keine Chance zu haben, erlebte er als sehr belastend. Und das Gefühl von Ausgeliefertsein: Als Roger Wicki 14 war, heiratete seine Mutter erneut, und die vier Kinder wurden zu ihr nach Hause geschickt. Ins Kinderheim durfte er zwar noch einmal jährlich zum Mittagessen auf Besuch, aber er bekam deutlich zu spüren, dass er nicht mehr dazugehörte, die Betreuenden begegneten ihm distanziert: Die Unterstützung durch das Heim war vorbei, ohne dass die Unterstützung vom daheim je eingesetzt hätte. «Maximal eine Bürolehre» Tatsächlich bekam Roger Wicki die befürchtete Abschätzung schmerzhaft zu spüren, als er dem Berufsberater eifrig sagte, er möchte gerne das Lehrerseminar besuchen oder eine kaufmännische Lehre absolvieren, und die trockene Antwort lautete: «Mit deinen Vorbedingungen schaffst du maximal eine Bürolehre.» Der Durchbruch, das war Wicki schon damals klar, läuft aber über Bildung und Einkommen. Umso froher war der wissbegierige Jugendliche, dass er trotz allem eine KV-Lehrstelle bei der Stadtverwaltung Luzern fand. «Bessere Rahmenbedingungen würden mehr Leuten dieser Gruppe bessere Möglichkeiten verschaffen», sagt er klar, und unterstützt damit energisch die Forderungen der Careleaver, die letztes Jahr mit einer grossen Kampagne auf ihre Anliegen aufmerksam machten. Er unterstützt auch die politische Forderung, ein Konzept auf Bundesebene zu erstellen, das den Careleaverinnen und Careleavern den Lebensbedarf bis zum 25. Lebensjahr oder bis zum Abschluss der Erstausbildung finanziell sichert. Wicki selbst prästierte diese «existenziell schwierigste Zeit» dank dem unterstützenden Pfarrer, der ihn stets ermunterte und tatkräftig darin unterstützte, eigene Strukturen aufzubauen. «Aber wer niemanden hat, ist ein Trapezkünstler ohne Netz», sagt er. Ohne Familie fehle Unterstützung und damit auch Resilienz. «Eine Kindheit in einem Heim ist ein Risikofaktor für das spätere berufliche und private Leben, weil es im frühen Erwachsenenalter oft an geeigneten Ressourcen fehlt», hiess es bereits 2014 imWissenschaftsmagazin «Uni-Nova» der Universität Basel. Die Abhilfe, es klingt ganz einfach, wäre: «Günstig wirkt sich aus, wenn es ehemaligen Heimkindern gelingt, eine qualifizierte Ausbildung zu absolvieren, einen höheren sozioökonomischen Status zu erreichen, körperlich gesund zu sein und in einer intakten Partnerschaft zu leben.» Haltung und Empathie Genau das, betont Roger Wicki noch einmal, sei unglaublich schwierig – für Männer noch mehr als für Frauen: Er kennt ein paar Frauen aus seiner Heimzeit, die inzwischen geheiratet haben, mit ihren Partnern eine Familie aufgebaut und somit den Kreis durchbrochen hätten. Von den Männern hingegen, mit denen er im Heim aufgewachsen ist, habe es ausser ihm keiner so wirklich geschafft: «Fünf leben nicht mehr, mehrere leben von der Sozialhilfe, und einer kämpft sich durch das Leben, aber eine Partnerin hat keiner gefunden.» Dabei hätten eigentlich alle den Wunsch nach traditionellen Lebensformen gehegt. Umso stolzer ist Roger Wicki auf seine 21-jährige Tochter Daria, die Sozialarbeit, Sozialpolitik und Betriebswirtschaft studiert und als selbstbewusste junge Frau ihrenWeg geht: «Sie hat diesen Kreis durchbrochen.» Und er hat aus seinen Erfahrungen einen Nutzen gezogen und einen Beruf gewählt, in dem er etwas bewirken kann. Als Geschäftsleiter des Seeblicks ist ihm die Haltung enorm wichtig: Er begegnet den Bewohnerinnen und Bewohnern mit Respekt und sucht stets nach Lösungen, damit sie sich wohl und zufrieden fühlen. «Meine Erfahrung hilft mir, Empathie zu haben», sagt er. «Auch in Corona-Zeiten haben wir immer Lösungen gefunden, denn wir wollten das Haus nie abriegeln. Deshalb haben wir immer wieder Ausnahmen gemacht, damit die Leute nicht zerbrechen, und diese dann gut kommuniziert.» Das sei immer gut angekommen. Ausserdem liegt ihm das Wohl der Mitarbeitenden am Herzen: «Das ist wichtig und trägt letztlich zum Wohl der Bewohnenden bei.» Sinnhaftigkeit in der Arbeit An den Tisch nebenan gesellt sich ein Bewohner im Rollstuhl, winkt dem Geschäftsführer fröhlich zu und erzählt, dass er später noch ins Dorf gehe. Wicki nutzt die Gelegenheit und fragt, wie es ihm inzwischen im Seeblick gefalle. Der Mann zwinkert schelmisch: «Ach, Sie wissen ja, ich wäre lieber nicht hier – aber es ist schon recht hier!» Beide lachen. Roger Wicki findet rasch den Ton mit den Bewohnenden: Er kann sich hineinversetzen in das Gefühl, etwas anderes zu wünschen als die gegebene Situation, und weiss, wie sich Ausgeliefertsein anfühlt. Das will er «seinen» Bewohnerinnen und Bewohnern ersparen. «Meine seelischen Verletzungen kann niemand nehmen», erklärt er. Aber er hat seinen Frieden gemacht. Und in seiner Arbeit Sicherheit und Sinnhaftigkeit gefunden. ➞ www.leavingcare.ch ➞ www.careleaver.ch Aktuell
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