Erfahrungen teilen

ARTISET 12 I 2022 7 Salome Balasso ist eine attraktive junge Frau, die rote Handtasche keck auf die rote Hose abgestimmt, die blaugrünen Augen dezent geschminkt. Erst beim genaueren Hinsehen zeigt sich die leise Trauer in ihrem Blick, und als sie den marineblauen Kurzmantel auszieht und sich im kurzärmligen T-Shirt an den Tisch hinter der grossen Panoramascheibe setzt, werden die vielen feinen Narben auf ihren Armen sichtbar. Sie stammen aus ihrer Jugendzeit, als Verzweiflung und innerer Druck oft so gross waren, dass sie ihnen nur mit Selbstverletzen abhelfen konnte. Die 33-jährige Bernerin ist psychiatrieerfahren, ihre Diagnosen lauten «Borderline Persönlichkeitsstörung» und «Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung». Sie ist aber auch seit sieben Jahren eine «qualifizierte Peer»: eine Expertin aus Erfahrung in Psychiatrie mit einer «Ex-In»-Weiterbildung (siehe Kasten). In ihrer Peerausbildung hat Salome Balasso viel Wichtiges über sich gelernt und war davon so begeistert, dass sie seither noch etliche Zusatzausbildungen, unter anderem in Dialektisch Behavioraler Körpertherapie und Recovery, besucht hat. Mit all demWissen hat Salome Balasso auch viel Sicherheit gewonnen. Inzwischen ist sie eine versierte Fachfrau für Themen wie Spannungs- und Emotionsregulation, Umgang mit Dissoziationen und Traumata, Angehörige von Menschen mit Depression, Bipolar, Sucht und Kinder psychisch belastender Eltern. Ihr grosses Plus: Sie weiss nicht nur aus der Theorie, wovon sie redet, sondern aus persönlichem Erleben. Und sie hat in zahlreichen Therapien, Psychiatrieaufenthalten und Selbsthilfegruppen gelernt, mit ihren Erschütterungen umzugehen. Dadurch haben sich ihre Belastungen nach vielen Jahren in wertvolle Erfahrung gewandelt und ihr die Fähigkeit verliehen, anderen Betroffenen ganz persönliche Tipps im Umgang mit psychischen Erschütterungen mitzugeben. Aber die Kindheit mit zwei psychisch belasteten Elternteilen hat bleibende Spuren hinterlassen. Ihr Vater kämpfte mit Depressionen, die Mutter mit Zwängen und Ängsten und vielleicht einer Borderlinestörung. Unsicherheit prägte den Alltag der Familie. «Meine Kindheit war teils sehr schön», betont sie. «Meine Eltern versuchten, ihr Bestes zu tun und mir und meinem Bruder Liebe zu geben.» Aber oft ging das Schöne im Alltag unter. Als die achtjährige Salome aus einem Ferienlager zurückkehrte, erfuhr sie, dass ihre Mutter in der Klinik war und sie und ihr zwei Jahre älterer Bruder für ein paar Monate in einem Kinderheim wohnen mussten. «Das war der Anfang meiner Verlustängste», erinnert sie sich. Die Furcht, ihr Vater könnte sich vor lauter Kummer vom Balkon stürzen, wie er regelmässig drohte, löste aus, dass sie sich künftig nur noch schlecht abgrenzen konnte. Als ihre Gotte in eine Sekte eintrat, verlor sie eine wichtige Bezugsperson und hatte das Gefühl, sie müsse das Los der ganzen Familie auf ihren Schultern tragen. «Ein klarer Fall von Parentifizierung.» Das Psychiatriekarussell begann zu drehen Salome wurde immer stiller, ihr Bruder immer aufmüpfiger. Er kam an eine andere, weiter entfernte Schule und nahm nicht mehr am Familienleben teil, sodass sie sich noch einsamer fühlte. «Damals fing ich mit dem Selbstverletzen an», sagt sie. Nach einem Suizidversuch mit einer Medikamentenüberdosis – «es war eher ein Hilferuf» – landete sie mit 15 Jahren in der Jugendpsychiatrie, wo das Karussell zu drehen begann. Der Kontakt zu schwerst psychisch erschütterten älteren Jugendlichen, die kifften und Alkohol konsumierten, wirkte eher verstörend als hilfreich. So folgten Salome Balasso ist psychiatrieerfahren. Sie ist aber auch eine qualifizierte Peer, Expertin aus eigenem Erleben mit Weiterbildung: Sie weiss besser als die meisten Fachleute, wie sich der freie Fall anfühlt, und kann psychisch erschütterten Menschen hilfreiche persönliche Tipps anbieten. Und den Fachpersonen erklären, was Betroffenen hilft und was weniger. Von Claudia Weiss

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