ARTISET 01/02 I 2024 29 Portionen sind und wie ein gesunder Essrhythmus aussieht. Ein weiterer positiver Aspekt ist, dass der Familientisch entlastet wird. Die Eltern stellen das Essen zur Verfügung, jedoch wird am Tisch nicht mehr darüber gesprochen und diskutiert. Alle Gefühle und Fragen, die bei Lea aufkommen, sollen ausserhalb des Familientischs oder in der Therapie besprochen werden. Interdisziplinäre Zusammenarbeit Aus einer Essstörung zu kommen, ist für die Betroffenen und die Angehörigen ein langer, anstrengender Prozess. Ein entscheidender Faktor auf dem Weg der Genesung von Essstörungen ist das Vorhandensein eines starken Unterstützungsnetzwerks. Sowohl die Unterstützung durch die Familie, Lehrer und Freunde wie auch fachliche Unterstützung durch Mediziner, Psycho- und Ernährungstherapeuten spielen eine zentrale Rolle. Bei Jugendlichen zeigt sich, dass der familienbasierte Therapieansatz besonders erfolgsversprechend ist. Dieser Ansatz integriert die Familien aktiv in den Therapieprozess. Die Eltern werden befähigt, ihr Kind aktiv zu unterstützen, ein gesundes Normalgewicht zu erreichen, dieses zu halten und langfristig gesunde Essgewohnheiten zu fördern. Die Betreuung der Jugendlichen erfordert ein einfühlsames und individualisiertes Vorgehen. Jeder Fall ist einzigartig, und die Herausforderung besteht darin, gemeinsam mit den Betroffenen und ihren Familien Lösungswege zu entwickeln. Es ist entscheidend, nicht nur die physische, sondern auch die psychische Gesundheit zu stärken und die Ursachen der Essstörung aufzuarbeiten. Lea hat ein intensives Jahr hinter sich. Sie hat Fortschritte gemacht, aber auch Rückschläge erlebt. Trotzdem hat sie es geschafft, das kritische Untergewicht zu überwinden. Ängste Im Fokus bezüglich ihres Körpers sind nach wie vor präsent und können in bestimmten Situationen aufflackern. Das Essen in unvertrauter Gesellschaft fällt ihr nach wie vor schwer, und Bemerkungen zu ihrem Äusseren oder ihrem Essverhalten sind für sie nur schwer zu ertragen. Ihre Fröhlichkeit und Offenheit hat sie jedoch grösstenteils zurückerobert, und sie sieht wieder eine positivere Zukunft vor sich. Gesellschaftliche Verantwortung Essstörungen sind ernsthafte Erkrankungen, die erhebliches Leid wie auch Kosten verursachen. Daher ist die Prävention von entscheidender Bedeutung. Besonders möchte ich auf die gesellschaftliche Verantwortung hinweisen. Jeder Einzelne kann durch bewusstes Handeln und eine positive Vorbildfunktion dazu beitragen, kollektive Veränderungen herbeizuführen. Mit den folgenden Fragen möchte ich Sie einladen, sich selber zu reflektieren: «Wie sieht mein persönliches Essverhalten aus? Ist es ausgewogen und genussvoll, oder halte ich mich an starre Regeln? Strebe ich nach einem gesunden oder nach einem perfekten Körper? Welche Bedeutung gebe ich meinem Äusseren, bin ich mich ständig am Optimieren? Wie beeinflusst mein Verhalten möglicherweise mein Umfeld, insbesondere junge Menschen, in Bezug auf ihre Einstellungen zu Ernährung, Schönheitsidealen und persönlicher Optimierung?» * Ingrid Hürlimann ist Inhaberin der ernährungspsychologischen Praxis «unbeschwert» in Thun. Ein Schwerpunkt ihrer Tätigkeit liegt in der Begleitung von Jugendlichen und Erwachsenen, die unter Essstörungen leiden. «Gesellschaftliche Faktoren wie unrealistische Schönheitsideale und der Druck zur Selbstoptimierung tragen massgeblich zu Essstörungen bei. Durch die Social-Media-Kanäle wird dies heute zusätzlich verstärkt.» Ingrid Hürlimann
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