ARTISET 01/02 I 2024 37 ist für mich auch in der Begleitung von Menschen mit Behinderung von zentraler Bedeutung. Weshalb betonen Sie die offene Haltung gegenüber begleiteten Menschen? Im Umgang mit dem «Anderen» oder dem «Fremden» erleben wir immer wieder Ängste und Verunsicherung. Das habe ich bei meinen früheren beruflichen Stationen, dem Schweizerischen Roten Kreuz und der igs, der Interessengemeinschaft für Sozialpsychiatrie in Bern, immer wieder erlebt. Der Umgang mit Migrantinnen und Migranten oder mit Menschen mit psychischen oder auch kognitiven Beeinträchtigungen ist für die Gesellschaft oft eine Herausforderung. Die Forschung hat gezeigt, dass das «Andere» nicht jenen besonders Angst macht, die in einem direkten Kontakt mit diesen «anderen» Menschen stehen, sondern vielmehr jenen, die das nicht tun. Es geht also darum, Begegnungen zu schaffen. Mit der Schaffung von Begegnung gelingt es, Verunsicherung abzubauen? Im Rückblick auf meine bisherige Tätigkeit kann ich sagen, dass Begegnung der Schlüssel ist, um Partizipation und Inklusion zu ermöglichen. Die Begegnungen müssen von einer offenen Haltung geprägt sein. Das heisst dann auch, dass wir als Fachpersonen die begleiteten Menschen nicht in Kästchen einteilen und meinen zu wissen, was sie benötigen. Vielmehr gehen wir offen auf sie zu und erfragen ihre Anliegen. Indem sie ihre Anliegen vorbringen und wir zuhören, ermöglichen wir Selbstbestimmung und Teilhabe, was ganz den Postulaten der UN-BRK entspricht. Solche Begegnungen auf Augenhöhe führen auch immer wieder zu Aha-Erlebnissen, Überraschungen, die mich persönlich weiterbringen. Können Sie aus Ihrer bisherigen Tätigkeit entsprechende Projekte benennen? Konkret erwähnen möchte ich das Projekt Radio Locomotivo, wo Menschen mit und ohne psychische Beeinträchtigung gemeinsam Radio machen. Die Begegnungen zwischen den Radiomacherinnen und Radiomachern sind sehr inspirierend. Und jene, die zuhören, merken gar nicht, ob es sich bei den Moderierenden um Menschen mit oder ohne Beeinträchtigung handelt. Eine integrative Wirkung hat auch, dass die igs einige ihrer Klientinnen und Klienten in Genossenschaftswohnungen begleitet. Sie werden damit Teil des Mikrokosmos Genossenschaft und sind weniger «ausgeschlossen». Auf diese Weise entsteht Austausch, wobei es darum geht, das Gegenüber als gleichwertig wahrzunehmen. Wie werden die Postulate der UN-BRK die Welt der Institutionen verändern und damit auch die Arbeit des Branchenverbands Insos? Die UN-BRK und ihre beiden grossen Maximen Selbstbestimmung und Teilhabe beziehen sich auf Menschen mit Behinderung. Wir möchten die Institutionen dabei unterstützten, den begleiteten Menschen zu mehr Teilhabe und Selbstbestimmung zu verhelfen. Das ist aber eine Herausforderung, weil die Institutionen in einen Konflikt geraten können. Es wird zwar immer stationäre Leistungserbringer brauchen, aber wohl weniger als heute. Dafür wird es mehr Dienstleistungen geben, die die Menschen in ihrer eigenen Wohnumgebung beanspruchen können. Die Diversifizierung der Angebote wird zunehmen. Die Aufgabe von Insos ist es, diese Entwicklung zu unterstützen. Wir dürfen nicht einfach am Althergebrachten festhalten. Von Kanton zu Kanton wird jetzt die Subjektfinanzierung eingeführt, die diese Entwicklung fördert. Welche Rückmeldungen habe Sie vonseiten der Institutionen? Die grossen Kantone Bern und Zürich haben per 1. Januar 2024 die Subjektfinanzierung eingeführt. Es besteht also noch wenig Erfahrung, wie sich die Subjektfinanzierung in der Praxis auswirkt. Aufgrund der langen Vorbereitungszeit in Bern können die Institutionen die Folgen für sich vielleicht etwas besser einschätzen als in Zürich. Hinzu kommt, dass die Kantone die Subjektfinanzierung unterschiedlich umsetzen. Generell stelle ich fest, dass die Umsetzung der Subjektfinanzierung für die Institutionen planerisch eine grosse Herausforderung bedeutet. Es lässt sich im Moment nur schwer abschätzen, welche Leistungen von den Menschen mit Behinderung tatsächlich auch nachgefragt werden. «Offenheit heisst für mich, dass ich weiss, dass ich nicht perfekt bin und in der Begegnung mit anderen lernen kann. Diese Haltung ist für mich auch in der Begleitung von Menschen mit Behinderung von zentraler Bedeutung.» Rahel Stuker
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