Magazin ARTISET | 3 2022
12 ARTISET 03 I 2022 Im Fokus Wir wissen heute, dass unterscheidende Merkmale in unterschiedlichen Kombi- nationen Ungleichheit produzieren kön- nen und nicht immer so klar ist, was in welcher Situation zumVor- oder Nachteil wird. Der Diskurs um Diversität setzt dabei bewusst keine Kategorie an die ers- te Stelle. Die Sensibilität nimmt zu, dass es bei Fragen der Ungleichheit nicht in erster Linie um das Merkmal Geschlecht geht, oder um Behinderung, um Natio- nalität, Rasse, Alter oder was es dann auch immer ist. Welche Merkmale und auch welche Kombination von Merkma- len wirksam werden, kommt auf den Kontext und die jeweilige Situation an. Dabei kann die Situation individuell, betrieblich oder auch gesamtgesellschaft- lich definiert sein. Diversität ist derzeit in aller Munde. Weshalb ist das so? Wir sind uns heute der gesellschaftlichen Vielfalt in einem besonderen Mass be- wusst. Das hat, gerade in der Schweiz, mitWerten wie Individualismus, Freiheit und Gleichheit zu tun. Die Globalisie- rung mit ihrem Wertepluralismus spielt hierfür auch eine zentrale Rolle.Wir sind in Berührung mit unterschiedlichsten Wertvorstellungen und sozialen Organi- sationsformen. Die Diversitätsdebatte ist Ausdruck einer offenen, wertepluralistischen Gesellschaft? Unsere aktuelle gesellschaftliche Situation lässt es zu, über Kategorien der Zugehö- rigkeit zu diskutieren und diese zu ver- handeln. Das hat mit unserem demokra- tischen Selbstverständnis zu tun und, wie zuvor erwähnt, mit bestimmten Werten, vor allem der Individualität. Davon ab- geleitet sind Autonomie und Selbstbe- stimmung zentrale Werte. Gerade auch in Pflegeheimen und sozialen Institutio- nen geht es heute wesentlich um die Dis- kussion über solche Werte und die Um- setzung entsprechender Konzepte. Auch in einer offenen Gesellschaft wird es aber immer Kategorisie rungen geben, die ein- oder aus schliessende Wirkung haben? Diese Unterstützung soll idealerweise so gestaltet sein, dass dadurch nicht wieder Aussonderung und Ungleichheit produ- ziert wird – und das ist komplex. Über die Jahrzehnte hinweg sind rechtliche Grundlagen entstanden, von Diskriminierungsverboten über Gleichstellungsgesetze bis zu inter nationalen Vereinbarungen. Wie beurteilen Sie den Erfolg dieser Be mühungen? All die rechtlichen Bemühungen sind sehr wichtig, sie schaffen die Grundlage dafür, dass Einzelpersonen und Gruppen Rech- te einfordern können. Internationale rechtliche Vereinbarungen wie die UN-Behindertenrechtskonvention geben gerade auch Heimen und Institutionen eine Leitlinie für die Umsetzung entspre- chender Konzepte. Die Problematik sol- cherVereinbarungen, auch der UN-BRK, besteht darin, dass auch hier Kategorien gebildet werden müssen und dadurch ge- wisse Personengruppen profitieren, ande- re aber wiederum ausgeschlossen werden oder zumindest am Rand stehen. Können zum Beispiel Menschen mit Demenz auch Inklusion einfordern und so die nö- tige Unterstützung bekommen, um selbst- bestimmt zu Hause bleiben zu können, oder können sie das nicht? Gerade auch imBereich der sozialen und sozialmedizinischen Institutio nen ist die Debatte rund um Diversi tät angekommen. Wie beurteilen Sie die Relevanz des Themas für diesen Bereich? Beziehungen und soziale Regeln spielen im Heimbereich eine besonders grosse Rolle. Heime sind, so könnte man sagen, kleine Gesellschaften mit besonderen Be- dingungen. Dort wohnen über einen längeren Zeitraum hinweg sehr unter- schiedliche Arten von Menschen zusam- men. Diese Menschen werden dabei von Mitarbeitenden begleitet und unter- stützt, da sie solche Begleitung und Un- terstützung bis zu einem gewissen Grad brauchen. Es besteht also immer eine gewisse Asymmetrie. Über lange Zeit hinweg galten hier Regeln und Modelle, die diese asymmetrische Beziehung wenig «Institutionen können die Diversitätsdebatte nutzen, um sich zu reflektieren und weiter zuentwickeln.» Eva Soom Ammann Es ist keine Gesellschaft denkbar, die ohne solche Kategorisierungen auskommt.Wir Menschen müssen kategorisieren und Zu- gehörigkeiten konstruieren, um uns ori- entieren zu können und handlungsfähig zu sein. Es gibt Gesellschaften und histo- rische Epochen, wo solche Zugehörigkeits- kategorien von oben verordnet werden oder aber, wie wir das jetzt sehr ausge- prägt erleben, verhandelt werden können. Dabei geht es immer auch um das Infra- gestellen von Ungleichheit und die Suche nach Möglichkeiten, wie man Gerechtig- keit herstellen kann. So stellt sich eben auch die Frage: Wer hat aufgrund von Ungleichheiten einen Anspruch auf be- sonderen Schutz oder Sonderbehandlung? Sprechen Sie mit dieser «Sonder behandlung» unter anderem den Diskurs rund um das Thema Inklu sion an? Diese Frage ist im Inklusionsdiskurs be- sonders zentral.Wie können wir beispiels- weise Menschen, die längerfristig kogniti- ve oder körperliche Einschränkungen haben, Unterstützung gewähren, um ihre Benachteiligung auszugleichen?Wie kön- nen wir ihnen Sonderbehandlung zu- kommen lassen, ohne dass wir sie dadurch ausgrenzen oder unnötig exponieren? Dazu gehören strukturelleVeränderungen und auch individuelle Unterstützung.
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