Magazin ARTISET | 3 2022

ARTISET 03 I 2022 25 Eine häufige Ausgangslage in der Sozialhilfe sieht heute so aus: Eine Familie mit Migrationshintergrund ist von den vielen Anforderungen im neuen Land und den schwierigen Umständen überfordert und benötigt Unterstützung. Die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, die von den Behör- den mit der Unterstützung dieser Familien beauftragt wer- den, sind mehrheitlich in der bildungsnahen Mittelschicht in der Schweiz oder einem Nachbarland geboren – und kennen kaum eines der Probleme solcher Familien aus ei- gener Erfahrung. Umso wertvoller sind spezialisierte Fachpersonen wie Sozialarbeiterin Sugi Myluppillai. Die energische 39-Jähri- ge bringt für ihre Arbeit unersetzbares Erlebniswissen mit: Sie hat am eigenen Leib erlebt, wie es ist, wenn Krieg die Familie auseinanderreisst. Jahrelang lebte sie mit ihren drei Brüdern – zwei älteren, einem jüngeren – bei den Grossel- tern, bis ihre Eltern sie und ihre Brüder endlich in die Schweiz nachholen konnten. Alte und neue Tradition miteinander vereinen Da war sie zehn Jahre alt. «Ich sprach kein Wort Deutsch, kannte niemanden und alles war völlig neu für mich, als ich meine Schulzeit in einer zweiten Klasse in Biel begann», erinnert sie sich. Ihre Sprachbegabung half ihr zum Glück, sich schnell einzugewöhnen. Nach vier Jahren bestand sie die Aufnahmeprüfung an die Sekundarschule, später an die Handelsmittelschule in Neuenburg, wo sie gleich noch ihr Französisch perfektionierte, und schliesslich an die Fach- hochschule für Soziale Arbeit FHNW Olten. Längst spricht sie waschechten Bieler Dialekt, aber ihr ist immer noch sehr präsent, welche Stolpersteine das Leben in zwei unterschiedlichen Kulturen in sich birgt: Die tami- lische Kultur aus Sri Lanka, die ihre Eltern als erste Flücht- lingsgeneration mitbrachten, hat auch sie zur Hälfte ge- prägt. Sie weiss, wie schwierig es für migrierte Eltern sein kann, die Kultur des neuen Landes zu verstehen und mit den mitgebrachten Traditionen zu vereinbaren. Und sie weiss ebenso, wie schwierig es für Jugendliche sein kann, nicht ganz zur Schweizer Kultur zu gehören, nicht gleich locker ausgehen zu dürfen wie die hiesigen Kolleginnen und Kollegen. «Es war nicht so, dass ich als einzige Tochter alle Hausarbeit übernehmen musste, denn weil meine Mutter arbeitete, half mein Vater auch im Haushalt mit, und auch meine Brüder erhielten ihre Ämtli», erzählt Sugi Myluppil- lai. «Aber Ausgang oder Wochenendausflüge mit Freundin- nen kamen nicht in Frage.» Als Jugendliche sei sie deshalb ein bisschen rebellisch geworden, und als junge Handelsschulstudentin zog sie kurzerhand von zuhause aus, obwohl ihre Eltern das ungern sahen, und genoss die Unabhängigkeit. Erste Berufsjahre führten sie nach Genf, später machte sie während des Stu- diums an der FHNW ein Praktikum in Strasbourg, und immer wieder gewöhnte sie sich an ein neues Umfeld, einen neuen Freundeskreis, eine andere Sprache. Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte Während des Studiums zur Sozialarbeiterin setzte sich Sugi Myluppillai dann intensiv mit sich und ihrer Geschichte auseinander. Für ihre Bachelorarbeit zog sie unter anderem die Arbeitsblätter des Instituts für Ethnologie bei, die von der Ethnologin Damaris Lüthi unter demTitel «Soziale Be- ziehungen undWerte im Exil bewahren. Tamilische Flücht- linge aus Sri Lanka im Raum Bern» herausgegeben worden waren. Das half, sagt sie heute: «Ich lernte vieles besser ver- stehen und einordnen.» Inzwischen hat sie Erklärungen für die Fragen, die ihre Eltern nicht beantworten konnten, und weiss, dass für ihre Eltern damals noch fremd und erschreckend war, was in der Schweiz anders läuft. Aber auch, dass es ein sicheres Land ist, in dem sich Frauen frei bewegen können, in dem Kulturelle Missverständnisse verhindern oft eine wirkungsvolle Sozialarbeit. Umso wichtiger sind Sozialarbeiterinnen wie Sugi Myluppillai, die persönlich erlebt hat, mit welchen Schwie- rigkeiten sich Familien herumschlagen, die in die Schweiz geflüchtet sind. Von Claudia Weiss «Ich lernte vieles besser verstehen und einordnen und fand Erklärungen für die Fragen, die mir meine Eltern nicht beant- worten konnten.» Sugi Myluppillai, Sozialarbeiterin B.A.

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