Magazin ARTISET | 3 2022
ARTISET 03 I 2022 27 Frauen arbeiten dürfen und ein Kind allein aufziehen kön- nen. Sie versteht inzwischen auch, dass der Druck der ta- milischen Community vor 20 Jahren so gross war, dass vieles als «Schande» galt, was in der Schweiz völlig akzeptiert ist. «Dieses Wissen macht mich heute stark.» Sorgfältig aufklären, bevor man abklären kann Und dieses Wissen hilft ihr bei der Arbeit: Muss sie junge Rebellinnen und Rebellen oder allzu strenge Eltern beraten, kennt sie beiden Seiten und kann allen die Situation gut darlegen. Und wenn sie bei einer Familie eine Kesb-Abklä- rung vornehmen muss, weiss sie: «Zuerst muss ich eine Kulturübersetzung leisten und gut aufklären, bevor ich ir- gendetwas abklären kann.» Sie erklärt den Familien genau, was die Kindes- und Er- wachsenenschutzbehörden tun, warum eine Gefährdungs- meldung gemacht wurde, was Kindeswohl bedeutet, dass in der Schweiz physische und psychische Gewalt in der Erziehung verpönt ist und warum sich der Staat überhaupt in ihre familiären Angelegenheiten einmischt. Genau das sei oft schwierig, sagt die Sozialarbeiterin: «In den Her- kunftsländern hat die erweiterte Familie samt Grosseltern, Tanten und Onkeln die Kontrolle über alles Private inne. Dieses wichtige Netzwerk fehlt aber in der Schweiz oft, hier leben die Familien abgeschottet für sich.» Damit eine Zu- sammenarbeit mit Kesb und Sozialamt gelinge, müsse man unbedingt verstehen, warum die Familien sich ablehnend verhielten. Und erklären: «Was machen wir überhaupt, wa- rum sind wir hier?» Einem rebellischen 15-Jährigen, der das Gefühl hat, er sei schon erwachsen und dürfe abends draussen bleiben, so lange er wolle, macht die Sozialarbeiterin dann klar, dass es Regelungen gibt, die er bis zur Volljährigkeit befolgen muss: Dass zwar in erster Linie die Eltern verantwortlich sind für ihre Kinder, dass aber auch der Staat eine Verantwortung für Kindeswohl und Kindesschutz trägt und eingreift, wenn dies nicht gewährleistet ist. Gleichzeitig achtet sie auf den kulturellen Hintergrund der Eltern und ihre Situation: Lan- ge Arbeitszeiten, niedrige Löhne, abwesende Eltern und Kinder, die mehrheitlich auf sich gestellt sind, «das alles muss berücksichtigt werden». Hat sie sich ein Bild gemacht, erklärt sie ringsum, was hierzulande gesetzlich gilt und was möglich ist. «Ob dann die Familie aus Afghanistan kommt, aus Syrien oder der Türkei – die Problematik ist meist dieselbe», hat sie festge- stellt. Und alle Familien profitieren davon, dass sie mit ei- nem anderen Verständnis an eine Abklärung herangeht. Offener Blick ohne Pauschalisierung Wie wichtig ihr Zusatzverständnis ist, wurde Sugi Mylup- pillai schon während ihres Studiums bewusst: In ihrer Klas- se sassen ausser Schweizerinnen und Schweizern noch je ein Kollege aus Italien, Luxemburg und Deutschland – und sie als einzige Tamilin. Umso mehr versuchte sie immer wieder ein bisschen, auch bei ihren Kommilitoninnen ein Umden- ken anzustossen: «Sozialarbeit sollte einen offenen Blick ohne Pauschalisierung haben», plädiert sie. «Diversität soll- te schliesslich nicht nur auf der Theorieebene stattfinden.» So oft sei sie beispielsweise gefragt worden, ob ihre Eltern einen Schweizer Freund akzeptieren würden. Dabei sei die wichtigste Frage eine ganz andere als die auf die Nationali- tät bezogene: «Nämlich die, ob meine Eltern generell Freundschaften akzeptieren würden.» Dieses Umdenken ist ihr wichtig, und sie wünscht, dass Menschen aller Nationen ihre Kinder so offen erziehen, dass sie andere Kulturen ken- nenlernen wollen. Und dass besonders ihre Kolleginnen und Kollegen bei ihrer sozialen Arbeit den offenen Blick wahren und nach dem Hintergrund fragen. Vorurteilsfrei in einer globalisierten Welt Ihre Eltern haben inzwischen akzeptiert, dass Sugi Mylup- pillai ihren Weg geht, dass sie in einem wichtigen Beruf arbeitet, und sogar, dass sie die beiden Töchter allein gross- zieht: «Heute haben sie das Vertrauen, dass ich als Frau selbstständig sein kann.» Sie wiederum will ihren Töchtern beibringen, vorurteilsfrei auf Menschen zuzugehen, und ihnen kein Rollenbild aufdrücken. «Sie sollen sich entfalten können, frei bewegen, offen sein – das ist wichtig, um in dieser globalisierten Welt zu überleben.» Sugi Myluppillai geht ihnen als gutes Vorbild voran. Ihre Expertise ist gefragt, sie wird immer wieder zu Spezialpro- jekten hinzugezogen und hilft aus, wenn beispielsweise eine Projektgruppe nicht weiss, wie sie für eine Studie an eine bestimmte Zielgruppe mit Migrationshintergrund gelangen soll. Seit 2017 arbeitet sie in der Flüchtlingssozialhilfe SRK Kanton Bern und in einem kleinen Pensum auch bei Kon- text Mensch in Bern (www.kontextmensch.ch) . Dort und in all ihren anderen Projekten wird ihr immer wieder deutlich bewusst: «Gute Integration ist gegenseitige Integration.» «Sozialarbeit sollte einen offenen Blick ohne Pauscha- lisierung haben. Diversität sollte schliesslich nicht nur auf der Theorieebene stattfinden.» Sugi Myluppillai, Sozialarbeiterin B.A. Im Fokus
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy NDQzMjY=