Magazin ARTISET | 3 2022

32 ARTISET 03 I 2022 Wie können Betroffene und ihre Angehörigen lernen, mit einer frühen Demenzdiagnose umzugehen? Und wie können sie unterstützt werden? Zwar wendet sich die Konferenz vor allem an das Personal in den Alters- und Pflegeinstitutionen. Karine Begey erhofft sich von der Konferenz aber auch ein Signal an die breitere Öffentlichkeit. Immerhin gebe es in der Schweiz eine nati- onale Demenzstrategie, und das Thema tauche in den Me- dien immer wieder auf. Aber die Frühdiagnostik einer De- menzerkrankung gehe neben den Fachspezialistinnen und -spezialisten auch Hausärzte, aufsuchende Pflegedienste und Angehörige etwas an, sagt Begey: «Da muss das Bewusstsein noch geschärft werden.» Die jüngeren Betroffenen nicht vergessen Demenz ist ein Oberbegriff für verschiedene degenerative oder vaskuläre Hirnerkrankungen. Es erkranken zwar vor allem ältere Menschen, mehr Frauen als Männer. Nicht ver- gessen werden dürfe aber, sagt die Fachfrau Karine Begey, dass es immer wieder auch Menschen gibt, die noch keine sechzig sind und an Alzheimer erkranken. «Weil man eine Demenzkrankheit landläufig mit dem Alter in Verbindung bringt, wird gerade bei jüngeren Menschen auch bei Anzei- chen für eine Erkrankung nicht daran gedacht, dass es sich um eine Demenz handeln könnte.» Es gibt äussere Zeichen einer möglichen Demenzerkrankung wie Verwirrtheit, Stim- mungs- und Persönlichkeitsveränderungen (Reizbarkeit, Ängstlichkeit). Zwar sind die Demenzerkrankungen tatsächlich unheil- bar. Aber es gibt gerade in der Diagnostik grosse wissen- schaftliche Fortschritte. Auch damit beschäftigt sich die Demenz-Konferenz. Fachleute referieren über die verfügba- ren Methoden zur Früherkennung (biologische Marker, Neuroimaging und andere) und deren Zuverlässigkeit. Der Genfer Gerontologe Olivier Rouaud stellt an der De- menz-Konferenz die wissenschaftlichen Fortschritte vor, wie in den letzten zehn Jahren die diagnostischen Kriterien für Alzheimer und verwandte Krankheiten verfeinert wurden. Dank des Zugangs zu verschiedenen Biomarkern sei es heu- te möglich, eine zuverlässige und frühzeitige Diagnose zu stellen, sagt er. Damit kann auch Zeit gewonnen werden. So werde es möglich, die Zeit mit der fortschreitenden Krank- heit sinnvoll zu nutzen, sagt Karine Begey. «Unterstützungs- und Begleitangebote können organisiert werden, und es kann frühzeitig eine Wohnmöglichkeit gefunden werden, wenn die Betreuung durch Angehörige nicht mehr möglich ist.» Neben den erfolgversprechenden Fortschritten der Wis- senschaft kommen aber auch ethische Bedenken zur Spra- che, die sich im Zusammenhang mit den neuen Möglich- keiten der Früherkennung ergeben. Die Freiburger Professorin Sandrine Pihet, die sich als Psy- chologin mit psychischen und kognitiven Erkrankungen im Alter befasst, sagt, dass die Diagnose Demenz von den An- gehörigen einerseits oft als Schock erlebt wird. Doch sie sagt andererseits, dass eine Diagnose auch als Erleichterung wahr- genommen werden kann: Die Probleme, mit denen die An- gehörigen oft monate- oder sogar jahrelang konfrontiert sind, werden in Worte gefasst. Allerdings schrecken davor noch immer viele zurück: Die befürchtete Diagnose erschei- ne ihnen «als Vorbote einer dunklen Zukunft». Das hindere sie daran, eine Abklärung zu beantragen. Was kann diesen Schritt erleichtern? Und was können Angehörige zur Frü- herkennung einer Demenz beitragen? Darüber will Sandri- ne Pihet an der Demenz-Konferenz sprechen. Wie die Angehörigen begleitet werden können, darüber wird an der Alzheimer-Konferenz Franziska Muser von AIDA-Care referieren. AIDA-Care (Aufsuchende Individu- elle Demenz Abklärung und Beratung) bietet die systema- tische und standardisierte Abklärung durch eine Pflegefach- person im häuslichen Umfeld an. «Auch, damit andere Erkrankungen ausgeschlossen werden können», sagt Muser. Sie bietet Hilfesuchenden bei Verdacht auf Demenz Unter- stützung an. Eine Beraterin macht sich ein Bild vor Ort, um eine genaue Situationseinschätzung vorzunehmen. Betrof- fene werden mit dem Ziel, länger im eigenen Zuhause zu bleiben, unterstützt und beraten. Durch die aufsuchende Beratung und Demenzabklärung legt das AIDA-Care-Team den Grundstein für weiterführende Abklärungen innerhalb des familiären und sozialen Netzwerks. Gemeinsam wird unter Einbezug bereits vorhandener Angebote im direkten Umfeld eine individuelle Unterstützungsmöglichkeit erar- beitet. Nach interprofessioneller Beurteilung erfolgen wei- terführende Empfehlungen. Hohe volkswirtschaftliche Kosten Demenzerkrankungen sind nicht nur eine Herausforderung für die Betroffenen, für Angehörigen oder für die Pflegehei- me. Sie fallen auch volkswirtschaftlich ins Gewicht. Die jährlich im Zusammenhang mit Demenz anfallenden Ge- samtkosten betrugen 2019 in der Schweiz 11,8 Milliarden Franken. Und letztlich – aber nicht an letzter Stelle – stelle die Demenzerkrankungen grundsätzliche ethische Fragen: Wie begegnet das Umfeld den Menschen, von denen man weiss, dass sie zunehmend in eine eigene Welt abtauchen? Wie bleibt die Menschenwürde der Betroffenen gewahrt, wenn sie nicht mehr selbst über ihr Leben entscheiden kön- nen? Wie kann die Gesellschaft ein Lebensumfeld schaffen, in dem Demenzerkrankte angstfrei und mit einer hohen Lebensqualität leben können?  «Eine frühe Diagnose macht es möglich, die Zeit mit der fortschreitenden Krankheit sinnvoll zu nutzen.» Karine Begey, Alzheimer Schweiz Aktuell

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