Magazin ARTISET | 3 2022

ARTISET 03 I 2022 33 Aktuell Wir sehnen uns danach, immer alles zu klären, um die Ambiguität, die das Leben mit sich bringt, loszuwerden. Dabei ist es das Einge- ständnis des eigenen Unwissens, das uns weiterbringt, sagt der Philo- soph Yves Bossart. Er moderiert Ende Mai eine Führungstagung von Artiset Bildung. Interview: Elisabeth Seifert «Wer zweifelt, entwickelt sich weiter» Herr Bossart, die Pandemie hat in den letzten zwei Jahren bei vielen eine grosse Unsicherheit ausgelöst. Eine verständliche Reaktion aus philosophischer Sicht? Die Pandemie, der Lockdown im März 2020, hat zum einen grosse Ängste aus­ gelöst. Wirtschaftliche und gesundheit­ liche Ängste, existenzielle Ängste. Zum anderen sind unsere Routinen und Gewohnheiten durchbrochen worden, Gewissheiten sind zusammengebrochen. Das ist eine sehr philosophische Grenz­ erfahrung. Können Sie diese philosophische Grenzerfahrung näher erläutern? Unser persönlicher Alltag, der individu­ elle Lebensstil, aber auch viele Prinzipien unserer Gesellschaft wie wirtschaftliches Wachstum und Globalisierung sind durch dieses Virus plötzlich infrage ge­ stellt worden. Viele vermeintliche Gewiss­ heiten, die Fassade unseres Lebens haben Risse bekommen. Die Pandemie hat uns gleichsam dazu gezwungen, über uns und die Gesellschaft nachzudenken. Der deut­ sche Philosoph Karl Jaspers hat für solche Erlebnisse der Krise, dazu gehören auch Krankheit und Tod, den Ausdruck der Grenzerfahrung geprägt. Philosophie umfasst in Jaspers Verständnis all die Fra­ gen, die in solchen Grenzerfahrungen aufkommen. Philosophie versucht eigent­ lich nichts anderes als solche Grenz­ erfahrungen vorwegzunehmen. Gelingt es gerade Gesellschaften mit grossem Wohlstand besonders schlecht, mit Unsicherheit umzu­ gehen? Wenn man in irgendeiner der vielen Kri­ senregionen derWelt lebt, ist das, was wir jetzt hier erleben respektive erlebt haben, ein Klacks. In vielen Regionen ist die exis­ tenzielle Unsicherheit Alltagsrealität. Diese Menschen leben tagtäglich mit dem Gefühl, dieWelt nicht unter Kontrolle zu haben. Und bei uns ist das Gegenteil der Fall: Wir leben wattiert in einer Wohl­ standsblase und haben die Illusion von Kontrolle. Wir glauben, alles kontrollieren zu können, obwohl das eben gar nicht möglich ist? Wir haben eine Art Vollkasko-Mentalität entwickelt. Ein anderes Stichwort ist der Machbarkeitswahn. Wir können auch tatsächlich immer mehr kontrollieren und bestimmen. Zum Beispiel, wie wir sterben wollen, auch wie wir uns fort­ pflanzen. Ermöglicht wird dies durch den medizinischen und technologischen Fort­ schritt. Hinzu kommt die Sehnsucht nach mentaler Kontrolle: Der Arabist und

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