Magazin ARTISET | 3 2022

34 ARTISET 03 I 2022 Aktuell Islamwissenschaftler Thomas Bauer hat ein Buch geschrieben mit demTitel: «Die Vereindeutigung der Welt». Wir sehnen uns danach, alles einzuordnen und zu klären, um dasWidersprüchliche und die Ambiguität, die das Leben mit sich bringt, loszuwerden. Und jede persönliche, gesellschaft­ lich oder wirtschaftliche Krise durchkreuzt diese Sehnsucht… Gleichzeitig gibt es eine andere Sehn­ sucht, die der Soziologe Hartmut Rosa die «Sehnsucht nach der Unverfügbarkeit» nennt. Also nach jenem, was wir eben nicht unter Kontrolle haben, was unserer Kontrolle entzogen ist. Es geht also dar­ um, diese ebenfalls dem Menschen inne­ wohnende Sehnsucht wieder vermehrt zuzulassen. Und womöglich liegt gerade darin die Quelle des Glücks. Es geht also darum, uns von dem, was uns zufällig begegnet und uns überrascht, verzaubern zu lassen. Glück hat also damit zu tun, uns der Unwissenheit und der Widersprüch­ lichkeit zu stellen? Es geht darum, Demut zu entwickeln. Demut bedeutet die Einsicht, dass die wichtigsten Dinge in unserem Leben nicht in unserer Hand liegen. Sie gesche­ hen einfach, wir können sie nicht steuern. Wir können höchstens die richtige Ein­ stellung zu diesem Schicksalshaften ein­ nehmen. Das Nichtwissen ist der Nor­ malzustand. Das wird uns seit Sokrates in der Philosophie auch immer wieder vor Augen geführt. Der Zweifel, das Stau­ nen und das Bewusstsein unseres Unwis­ sens entsprechen einer sehr philosophi­ schen Grundhaltung. Der Zweifel gehört zu unserem Leben. Wie können wir den richtigen Um­ gang mit dem Zweifel finden? In der antiken Skepsis gibt es die Schule des pyrrhonischen Skeptizismus. Der Pyr­ rhonismus besagt, dass uns nicht die festen Überzeugungen zumGlück bringen, son­ dern der Zweifel, das Eingeständnis des eigenen Unwissens. Das entlastet uns und vermittelt Gelassenheit. Man verabschie­ det sich vom Eifer, einem dogmatischen, fanatischen Eifer, der Anhängern gewisser religiöser Strömungen oder anderer Über­ zeugungen eigen ist. Man ist sich bewusst, dass alles relativ ist. Nur wenn wir den Zweifel an der eigenen Sicht zulassen, sind wir offen für andere Perspektiven, können uns als Gesellschaft und als Indi­ viduen weiterentwickeln. Ein wichtiges philosophisches «Re­ zept», um mit der Widersprüchlich­ keit des Lebens und der Ungewiss­ heitumzugehen,istdieGelassenheit? Die stoische Philosophie, die Stoa, die in diesem Zusammenhang immer wieder zitiert wird, vermittelt uns die Gelassen­ heit, egal was passiert. Es geht um die Idee, dass wir das meiste in unserem Le­ ben nicht in der Hand haben. Wir kön­ nen uns darüber aufregen oder eben un­ sere Einstellung dazu ändern. Es ist alles andere als einfach, sich dieser Tatsache zu stellen… Wir dürfen keine falschen, zu hohen Er­ wartungen an das Leben haben. Die stoi­ sche Philosophie stellt fest, dass wir ja alle eigentlich wissen, dass Krisen, Krankheit und Tod uns treffen, dass Beziehungen auseinanderbrechen, dass wir wirtschaft­ liche Sorgen haben können. Die stoische Antwort darauf ist, dass wir uns dieser Tatsachen bewusst werden und versuchen, diese Perspektive in unsere Haltung dem Leben gegenüber zu integrieren. Dabei hilft auch die Selbstgenügsamkeit. Diese nimmt uns die Angst vor Verlust. Um die Widersprüchlichkeit, die Ambiguität aus­ zuhalten, hilft zudem auch der Humor. Inwiefern hilft der Humor? Die wichtigste Humortheorie besagt, dass man über Dinge lacht, die nicht zusam­ menpassen. Humor ist die Fähigkeit, mit Ambiguität und Ambivalenz zu leben, indem man tragische Konflikte in komi­ sche Inkongruenzen umwandelt. Sie moderieren eine Führungs­ tagung von Artiset Bildung: Wes­ halb sollten sich Leitungspersonen ganz besonders mit dem Thema Ambiguität auseinandersetzen? Wir leben in Zeiten, wo sich das Umfeld für Unternehmen laufend verändert und damit immer auch Ungewissheit mit sich bringt. Führungspersonen müssen darauf reagieren, und das gelingt nur, wenn man flexibel und agil bleibt und sich bewusst «Führungspersonen sind gefordert, eine gewisse Souveränität, Gelassenheit und Distanz vorzuleben» Yves Bossart FÜHRUNGSTAGUNG: MEHRDEUTIGKEIT ALS CHANCE «Ambiguitätstoleranz – Mehrdeutigkeit aushalten und nutzen»: So lautet das Thema einer Führungstagung von Ar­ tiset Bildung am 31. Mai in der Eventfa­ brik Bern. Von Führungskräften wird Eindeutigkeit und Sicherheit gefordert. Diesem Anspruch können sie jedoch nicht immer gerecht werden, denn un­ ser Alltag ist gespickt von Mehrdeutig­ keit, Doppelsinn oder, anders ausge­ drückt – von Ambiguität. Es ist deshalb wichtig, dass Führungskräfte ambigui­ tätstolerant sind. Sie sollen im Span­ nungsfeld von Ein- und Mehrdeutigkeit erfolgreich agieren und ihren Mitarbei­ tenden trotzdem ausreichend Sicher­ heit und Klarheit vermitteln. Moderator und Hauptreferent ist Yves Bossart, Philosoph und Moderator der Sendung «Sternstunde Philosophie» auf SRF. Führungstagung «Ambiguitäts­ toleranz – Mehrdeutigkeit aushalten und nutzen»: Dienstag, 31. Mai 2022, 8.45 bis 17 Uhr, Eventfabrik Bern. 340 Franken für Aritiset-Mitglieder, 390 Franken für Nichtmitglieder, inkl. Mittagessen.

RkJQdWJsaXNoZXIy NDQzMjY=