Magazin ARTISET | 3 2022

ARTISET 03 I 2022 41 bieten: Sie kennt sich aus jahrelanger Erfahrung als Sozialpädagogin mit den Abläufen in Institutionen aus und kann nach strukturellen Bedingungen fragen; er sieht als ASS-Insider Details, die im Institutionsalltag unbeachtet ge- blieben sind, aber matchentscheidend sein können. Matthias Huber weiss bei- spielsweise, was eine Gefühlsüberflu- tung auslösen kann, und geht von einer anderen Seite an das Problem heran. Die andere Sicht Im Fall des jungen Bewohners fragt er zum Beispiel das Team, was dieser denn jeweils anziehe. Die überraschte Antwort: immer das Gleiche, immer Blau oder Grau, immer lange Ärmel. Kurzärmlige T-Shirts zerreisse er, Reis- sverschlüsse verweigere er, wenn schon ertrage er nur Knöpfe. So richtig habe aber bisher niemand auf solche Zeichen geachtet, sagen alle übereinstimmend. «Der junge Mann», erklärt Matthias Huber deshalb dem Team, «hat eine Hypersensibilität der Haut.» Gewalt und aggressives Verhalten seien für ihn eine Form von Kommunikation, weil er keine andere Möglichkeit habe, et- was mitzuteilen. Bewegungslos auf dem Boden sitzen, beissen, den Kopf an die Wand schlagen oder auf das Per- sonal losgehen: Aggressives Verhalten könne als Zeichen von anhaltender Überflutung zu verstehen sein. Solche Anzeichen seien wichtige Hinweise, sagt auch Rahel Huber: «Nur selten bricht ein Gefühlsstau eruptiv aus.» Noch genauer hinzuschauen und noch sorgfältiger nach Gründen zu suchen, sei deshalb oft hilfreich. Positiver Input statt steter Kritik Im Gespräch kommt jemandem aus demTeam eine weitere Auffälligkeit im Verhalten des jungen Mannes in den Sinn: Er trägt tagein, tagaus einenTen- nisball mit sich, den er zwischendurch stereotyp aufwirft. Bisher ist das ein- fach als Tick abgetan worden, Matthias Huber hat eine andere Idee: Um die Aufmerksamkeit des isolierten jungen Mannes zu gewinnen, könnte das Team ihm einen Tennisball zurollen. «Das ist ein positiver Input für den Bezie- hungsaufbau», erklärt er. Oft erführen Menschen mit Tics und stereotypen Handlungen fast nur Ermahnungen oder Verbote. Beispielsweise jener Be- wohner einer anderen Institution, der sich ständig alles in den Mund steckte und teils gar verschluckte: Sofort nahm man ihm die Gegenstände aus dem Mund und ermahnte ihn, das nicht mehr zu machen. «Das bedeutet, dass ihm immer wieder jemand ungefragt ins Gesicht fasst», erklärt Rahel Huber. «Ausserdem bestehen 80 Prozent der Interaktionen darin, dass ihn jemand ermahnt, etwas nicht zu tun, jetzt end- lich aufzuhören.» Sie empfiehlt, statt- dessen in einer kontrollierten Situation Dinge anzubieten, um die Sinne anzu- regen: «Kaugummi oder Lollis, Tücher mit verschiedener Struktur von Plüsch bis Jute – alles ungefährlich genug, dass man nicht immer ‹Nein, gib das raus› rufen muss.» Gerade für Menschen mit Autismus, erklärt Matthias Huber dem Team, sei es enorm wichtig, dass nicht ständig unterschiedliche Stimmen etwas von ihnen wollten, weil das einfach zu viel sei: «Viel entspannter ist ein Gespräch ohne Aufforderung.» Als das Team deshalb überlegt, ob man vielleicht die Zeit eines beruhigenden Bades nützen könnte, um mit dem jungen Mann zu reden, winkt er ab: In gekachelten Räu- men hallen die Töne wider und klingen so scharf, dass sie einen fast körperli- chen Schmerz auslösen könnten. Beim Essen mache es ebenso Sinn, ihm den Schutz der Kopfhörer zu lassen, weil Tellerklappern und Schwatzen viel zu intensiv wirkten. Matthias Hubers al- ternativer Vorschlag: ein entspanntes Gespräch bei einem Spaziergang in der Natur. Dabei könne man auf das Vogelzwitschern hinweisen oder auf das Blätterrascheln und damit ein ent- spanntes Gespräch ohne Reizüberflu- tung anfangen. Krisen rechtzeitig abwenden Die Reaktionen auf die oft neuen An- sätze des Fortbildungsteams Huber und Huber sind durchwegs positiv: Viele seien beeindruckt davon, wie klar ihr Bruder die Empfindungen von Men- schen mit ASS ausdrücken kann, sagt Rahel Huber. Auch das Team unserer Beispielinstitution greift die verschie- denen Inputs mit dem Tennisball und den ruhigen Spaziergängen gerne auf. Ein paar Wochen später, als Rahel Hu- ber wie üblich per Telefon nachfragt, erfährt sie, dass der Umgang mit dem jungen Bewohner viel entspannter ge- worden sei. Grosse Wunder seien nicht passiert, «aber die andere Sichtweise und das neu gewonnene Verständ- nis des Teams helfen bereits viel, um Krisen abzuwenden». Und genau das sei das Ziel der Schulung – dass auch Menschen mit Autismus im Alltag in ihrer Wahrnehmung und ihremVerhal- ten besser verstanden werden: «Das ist Lebensqualität.»  «Die andere Sichtweise und das neu gewonnene Verständnis des Teams helfen bereits viel, um Krisen abzuwenden.» Rahel Huber, Artiset Bildung Informationen: ➞ rahel.huber@artisetbildung.ch , Mobil 079 747 02 17 (Anrufbeantworter, Rückruf innert dreier Arbeitstage)

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