Bedürfnisgerecht bauen

ARTISET 03 I 2023 21 Räume. Die Notwendigkeit zur Reduktion der Wohnflächen bringt die Schaffung von Mehrzweckräumen mit sich. Ein gutes Beispiel dafür in einer Wohnung ist das Wohnzimmer, in das auch das Esszimmer und die Küche integriert sind. Aber in einer Institution ist dies nicht möglich. Deshalb muss man mit den Materialien spielen: Holz, Glas, Fliesen oder Stein. Die Materialien begrenzen und definieren die Räume, sie vermitteln Emotionen und strukturieren die Atmosphäre, sie widerspiegeln die häusliche Dimension und verringern den Eindruck von Spital. Ein Alters- oder Pflegeheim ist wie eine kleine Stadt mit Menschen, die dort leben, und Menschen, die dort arbeiten. Um allen die besten Lebens- und Arbeitsbedingungen zu garantieren, ist die Wahl der Materialien von grosser Bedeutung. Es ist ja auch ein Jonglieren zwischen menschlichen und wirtschaftlichen Aspekten. Für unsere Angehörigen wollen wir immer nur das Beste, umso mehr, wenn sie vulnerabel sind. Im Vergleich zu anderen Ländern sind die Heime in der Schweiz sehr gut gebaut und ihre Infrastruktur von hoher Qualität. Die steigende Zahl an Menschen im Alter wird in Zukunft viele Schwierigkeiten bereiten. Altersheime müssen humanistische Werte verkörpern und gleichzeitig wie eine Maschine funktionieren. Die Frage ist, wie man zwischen den beiden Polen ein Gleichgewicht findet. Wie wirken sich die zahlreichen regulatorischen und gesetzlichen Anforderungen auf die Kreativität und Vielfalt beim Bau von Pflegeeinrichtungen aus? Die Diskussion über die Auflagen, welche die Kreativität der Architektinnen und Architekten einschränken, geht zurück auf die moderne Architektur, als Persönlichkeiten wie Le Corbusier sich dank ihrer engen Kontakte zu gewissen Behörden über die regulatorischen Rahmenbedingungen hinwegsetzen konnten. Es folgte eine Generation von Architekten, die der Überzeugung waren, dass man sich von den regulatorischen Zwängen lösen muss, um etwas Gutes schaffen zu können. Heute akzeptieren die neuen Generationen diese Reglementierungen als gegeben und betrachten sie nicht mehr als Innovationsbremse. Mit der Erfahrung und Praxis ändern sich diese Regeln.Was sich aber vor allem geändert hat, ist ihre Komplexität und Anzahl. Immer mehr Bauherren entscheiden sich heute für Hybridformen zwischen ambulant und stationär, zwischen Geriatrie und Psychogeriatrie: Wie bringt man dieses Nebeneinander in Einklang? Hier zeichnet sich effektiv ein grosser Wandel ab. Es scheint mir, dass die Institutionen beginnen, sich für eine Vielfalt an vernetzten Angeboten und Leistungen zu öffnen, während sich das Konzept des Pflegeheims mehr und mehr auf das Lebensende von Menschen im Alter konzentriert. Dies erfordert neue architektonische Ansätze, um Einrichtungen mit unterschiedlichen Aufträgen unter einem Dach zu vereinen. Ich bin gespannt, wie wir dieser Entwicklung künftig begegnen werden. Auf jeden Fall müssen wir einen humanistischen Ansatz beibehalten. Gibt es das ideales Pflegeheim? Es gibt Tausende oder gar keines. Jedes Projekt ist anders. Einrichtungen in kleinen Gemeinden, wo sich alle kennen, sind interessant, weil sie zum lebendigen Dorfzentrum werden, was im urbanen Raum nicht der Fall ist. Viele Leute haben das perfekte Pflegeheim gar nie kennengelernt, weil sie ganz einfach nicht in einer solchen Einrichtung leben wollten. Aus Sicht des Architekten ist das Haus nach wie vor eine Art Ideal, das zudem so etwas wie einen «Dorfplatz» integriert, um Begegnungen zu fördern. In welcher Art von Institution könnten Sie sich vorstellen, Ihren Lebensabend zu verbringen? Das hängt von meinem geistigen und physischen Zustand ab. Vorausgesetzt, ich habe noch ein Mindestmass an Geistesgegenwart, wären für mich das Licht im Zimmer und ein wenig Natur rundherum am wichtigsten. Mit dem Alter kehrt man tendenziell zurück zur Natur, denke ich. Für mich als Architekten ist das ein Drama, denn ich bin ein Mann des Künstlichen, nicht der Natur. * Bruno Marchand ist Architekt, Städtebauer und Honorarprofessor an der Fakultät für Architektur, Bau- und Umweltingenieurwissenschaften der École polytechnique fédérale de Lausanne. Seine Forschungsarbeiten zur Theorie und Geschichte der Architektur weckten auch sein Interesse für die Architekturströmungen im Bereich von Alters- und Pflegeheime. «Es braucht neue architektonische Ansätze, um Einrichtungen mit verschiedenen Aufträgen unter einem Dach zu vereinen.» Bruno Marchand Im Fokus

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