ARTISET 03 I 2023 23 Im Pigna-Park in Kloten ZH geniessen die Bewohnerinnen und Bewohner die Freiheit: Sie dürfen Pflanzen ausreissen, in Pfützen hüpfen und sich völlig selbstständig und ohne Anleitung bewegen. Dabei entdecken sie Selbstwirksamkeit und Autonomie. Von Claudia Weiss Hell scheint die Vorfrühlingssonne auf die Wohngebäude der Pigna in Kloten ZH. Nach dem Mittagessen dauert es nicht lange, bis aus den Eingängen mehrere Personen herauskommen. In kleinen Gruppen spazieren sie durch den Park und geniessen die milde Luft. Eine junge Frau atmet mit geschlossenen Augen tief durch, eine andere rollt im Rollstuhl über den geschwungenenWeg und breitet juchzend beide Arme aus. Das ist das Besondere am «Wohnen am Park»: Je eine Parterre-Wohngruppe des bestehenden Wohnhauses und eine des Neubaus sind zum Park hin geöffnet, der Park ist also jederzeit frei zugänglich, aber gegen aussen abgeschlossen. Das erlaubt den 25 Bewohnerinnen und Bewohnern mit schweren kognitiven Beeinträchtigungen, ohne ständige Begleitung in die Natur hinauszugehen und dabei alle Freiheiten und doch die nötige Sicherheit zu geniessen. Das Motto lautet: «Ich kann sein, wie ich bin.» Für Aussenstehende mag es auf den ersten Blick seltsam wirken, wenn Susanne Grasser, vom ersten Tag an Begleiterin des Park-Konzeptes, und ihre Kolleginnen und Kollegen während der Arbeit einfach im Park sitzen und Kaffee trinken: Sie behalten die Bewohnerinnen und Bewohner im Auge und gewähren ihnen Sicherheit, aber sie animieren sie grundsätzlich nicht zu Aktivitäten wie Spazieren, Blumenpflücken oder Kräutersammeln. Auch wenn ein Bewohner bei strahlendem Sonnenschein lieber in einem der Aufenthaltsräume imHalbdunkel sitzt und gar nichts macht, greift das Team nicht ein. «Wir sagen den Leuten absichtlich nicht, was sie machen sollen», erklärt Susanne Grasser. Wenn schon, unternehmen die Betreuerinnen und Betreuer einfach spontan selbst etwas, wozu sie Lust verspüren: Je nach Jahreszeit pflücken sie einen Blumenstrauss, sammeln Beeren, wischen Laub oder schippen Schnee. Der Antrieb, ebenfalls Blumen oder Beeren zu pflücken, muss hingegen von den Parkbewohnerinnen und -bewohnern aus ihrem eigenem Willen kommen: Sie müssen selbst aktiv werden, wenn sie möchten – oder sie dürfen auch einfach nur sein. «Das gibt viel innere Freiheit und Entspannung.» Selbstbestimmung statt Betreuung Susanne Grasser ist allerdings bewusst, dass dieses Gewährenlassen anfangs für Mitarbeitende und Bewohnende gleichermassen ungewohnt ist. Vielleicht, überlegt die gebürtige Wienerin, mache es einen Unterschied, dass sie nicht aus der Sozialpädagogik kommt, sondern an der Universität fur Bodenkultur in Wien Landwirtschaft studiert und sich später in systemischer Erlebnispadagogik, losungsorientierter Gesprachsfuhrung und anderem weitergebildet hat: «So fiel es mir leichter, vom klassischen Betreuungsgedanken Abstand zu nehmen und mich auf das Selbstwirksamkeitskonzept zu konzentrieren.» Sie vertritt die Position, dass genau diese Freiheit viele Entwicklungsmöglichkeiten zulasse: «Aus der Langeweile entsteht meistens irgendwann etwas. Man muss sie nur aushalten.» Die einen kommen dann auf die Idee, Holzstücke zu Boden zu werfen, Blätter abzurupfen, auf den verschlungenen Wegen immer wieder andere Kurven zu nehmen – oder auch immer wieder dieselbe Runde zu drehen – oder sich ganz einfach frischen Wind um die Nase wehen zu lassen. Weil sie tagsüber nach Belieben hinein- und hinausgehen können, sind zahlreiche Absprachen nötig zwischen der Betreuungsgruppe im Park und den Wohngruppen. Was immer sie tun oder lassen, es lässt den Bewohnerinnen und Bewohnern Raum für Selbstbestimmung mitten in einem weitgehend fremdbestimmten Leben. Das sei enorm wichtig, findet Marc Bollinger, Bereichsleiter Wohnen zum Park: «Ihnen wird gesagt, wo sie mit wem wohnen, wann sie aufstehen, essen, Zähne putzen oder duschen sollen, und einen Teil des Tages verbringen sie unter Anleitung im Atelier – ihre Tagesstruktur ist also grösstenteils vorgegeben. Der Park hingegen gibt ihnen Luft.» Bollinger arbeitet
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