24 ARTISET 03 I 2023 seit anderthalb Jahren in der Pigna und ist sehr überzeugt vom Konzept: «Diese Freiheit ist eine Riesenbereicherung für diese Menschen, die sich sonst nur in Begleitung durch das Leben bewegen dürfen.» Der Bedarf sei dementsprechend gross, sagt er, und gerne möchten mehr Menschen diese Freiheit auskosten: Beide Wohngruppen zum Park führen eine Warteliste. Die Nutzung des Parks steht allerdings nicht nur den beiden Wohngruppen mit direktem Zugang, sondern allen Bewohnerinnen und Bewohnern der Pigna offen. Viel Licht und Luft Damit ein solches Projekt – bisher einzigartig in der Schweiz – gelingt, muss es gut durchdacht sein. Die Wohngruppen mit Zugang zum Park sind unterteilt in eine Gruppe für ältere, ruhigere und eine für jüngere, dynamischere Bewohnerinnen und Bewohner, damit die beiden Doppelwohngruppen jeweils ihre eigene Dynamik entwickeln können. Die Häuser sind bewusst in schlichten Formen gehalten: Wichtig sind nebst Rollstuhlgängigkeit viel Raum, Licht und Luft. Und natürlich der direkte Zugang zum Park. Dieser führt durch die Gemeinschaftsräume, denn nicht alle Zimmer blicken auf den Park, aber für alle erweitert der Park den Lebensraum. Das erlaubt allen, sich bei Bedarf in ihre Ecken zurückzuziehen und einander aus dem Weg zu gehen – ein gutes Mittel, um Aggressionen gar nicht erst aufkommen zu lassen. Und Aggressionspotenzial sei bei ein paar Bewohnerinnen und Bewohnern durchaus vorhanden, erklärt Susanne Grasser. «Aber sehr vieles lässt sich vermeiden, indem sich alle frei drinnen und draussen bewegen und zurückziehen können.» Besonders jenen Bewohnerinnen und Bewohnern mit einer Autismus-Spektrum-Störung komme das sehr entgegen. Einer von ihnen ist Mario. Er kauert in einem Steinrondell, hält mit geschlossenen Augen sein Gesicht in die Sonne und schwingt selbstvergessen eine ausgerissene Pflanze an der Wurzel hin und her, hin und her. Das macht er am liebsten. Und in diesem Park darf er auch das: «Das gehört zum Konzept – alles ist möglich, alles ist erlaubt», sagt Susanne Grasser. Wirklich alles: Wenn die Bewohnerinnen und Bewohner der Wohngruppen zum Park Lust haben, dürfen sie sich in eine Pfütze legen oder darin herumplanschen, ganze Pflanzenbüschel ausreissen oder mit den Händen die Erde umgraben. Was sie zerrupft haben, wird später die Gartengruppe aus dem Dienstleistungsbetrieb wieder in Ordnung bringen. Mario, sozusagen der Vorzeigebewohner des Parks, ist immer irgendwo unterwegs, stets auf der Suche nach einer Tagespflanze, die sich gut ausreissen und schwingen lässt. Seit der Eröffnung des Parks 2013 wohnt er dort. Er habe durch die neuen Freiheiten enorm viel an Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl gewonnen, erzählt Susanne Grasser. «Es macht etwas mit den Bewohnerinnen und Bewohnern, dass sie ihre Autonomie ausleben dürfen.» Jene, die sich gerne in der Natur aufhalten, schätzen sehr, dass sie jederzeit hinein- und hinausgehen können, ohne dass jemand von der Betreuung zuerst Zeit finden muss. «Der Park ist eine Ruheoase und bietet viel Entspannung», sagt sie: «Statt eines Temestas helfen ein paar Runden im Park.» Ungiftig, ungefährlich und essbar Ein Rundgang zeigt: Der Park – obwohl noch winterlich kahl – ist anregend angelegt. Rundwege laden zum Flanieren ein, Steingruppen zum Sitzen, und wenn es zu kalt ist, bieten zwei Warmräume mit Kaffeemaschinen beliebte Rückzugsmöglichkeiten. Und alles ist genau durchdacht: Die Wege, zuerst vom Landschaftsarchitekten als hübsche Kiespfade angedacht, wurden schliesslich doch zementiert, damit sie gut rollstuhlgängig und an den Rändern mit dem Blindenstock ertastbar sind. Und die gesamte Bepflanzung ist von der Blattspitze bis zur Wurzel ungiftig, ungefährlich und essbar. Die hübschen Rosensträucher, die der Architekt gepflanzt hatte, mussten daher schon nach kurzer Zeit weichen, damit sich beim Rosenpflücken niemand an den Dornen verletzt. Auch beim Naschgarten zeigte sich, dass nicht alles gut passt, was sich naschen lässt: Erdbeeren am Boden eignen sich nicht für jene, die in den Bewegungen eingeschränkt sind, während Heidelbeeren an hohen Sträuchern wesentlich praktischer sind, Stachelbeeren wiederum schon wieder heikel sein können. Auch bei den Gemüsen lauern zahlreiche Stolperfallen: Tomaten und Peperoni seien zwar wunderbare Naschgemüse, sagt Susanne Grasser – aber die Pflanzen sind Nachtschattengewächse und daher giftig und ungeeignet. Neben den Wegen, Pflanzen und Steinen bietet ein befahrbares Rollstuhltrampolin Anregung, und im gläsernen Gewächshaus mit den hohen Palmen lädt eine Riesenschaukel zum Draufsitzen. Soeben hat sich Marco, ein anderer Bewohner, auf die Schaukel gesetzt und bewegt sich sachte vor und zurück. Er beobachtet entspannt, wie auf der anderen Seite Mario, seine Pflanze schwingend, durch das helle Gewächshaus flaniert und die vielen Möglichkeiten des Parks geniesst. Das Gewächshaus, sagt Susanne Grasser, werde absichtlich nicht für externe Anlässe vermietet: «Wie alles im Park gehört es den Bewohnerinnen und Bewohnern und soll ihnen jederzeit zur Verfügung stehen.» So bleibt der Park der jederzeit zugängliche Ort der Freiheit inmitten der vielen notwendigen Tagesstrukturen. WOHNEN AM PARK Die Stiftung Pigna bietet 147 Wohnplätze in verschiedenen Wohnformen und 85 Tagesstattenplatze an, sowie in 2 Werkstatten und einem Dienstleistungsbetrieb insgesamt 180 Arbeitsplatze fur Menschen mit Behinderung an. Pigna ist im Zurcher Glattal und Unterland tatig. ➞ www.pigna.ch Im Fokus
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