ARTISET 03 I 2023 35 bedingt nutzen.» Zur Sensibilisierung einer breiteren Öffentlichkeit für ihre Behinderung schreibt Nicole Tille ein Buch mit dem Titel «Survivre debout avec une jambe en moins». Es erscheint 2019. «Mein Wunsch ist es, ein besseres Verständnis für diese oft unsichtbare und unbekannte Behinderung zu erreichen. Verschiedene Personen aus meinem langjährigen Umfeld haben sogar erst durch die Veröffentlichung meines Buches davon erfahren.» Als die Tochter vier Jahre alt ist, zieht die Familie in den Kanton Freiburg nach Châtel-St-Denis. Dort lebt sie bis heute. Nach dem Umzug beginnt Nicole Tille, im Kommunikationsdienst des HEKS zu arbeiten. Das Hilfswerk der evangelischen Kirchen Schweiz setzt sich für eine menschliche und gerechte Welt ein. Dort entdeckt die junge Mutter ihre Sensibilität für Ungerechtigkeiten. «Ich wollte mich in der Schweiz nützlich machen.» Als ein Orthopädist und Freund ihr unglaubliche und ungerechte Lebensgeschichten von Prothesenträgerinnen und -trägern erzählt, wird ihr Mitgefühl noch grösser. «80 Prozent der Personen, die eine Amputation benötigen, sind bereits im Rentenalter und erhalten nur eine einfache Prothese, und dies, obwohl wir in einem der reichsten Länder der Welt leben», empört sich Nicole Tille. Tatsächlich benachteiligen die Kriterien für die Finanzierung einer Prothese Personen, die nicht mehr erwerbstätig sind. Diese Tatsache ist für Nicole Tille inakzeptabel, weshalb sie 2015 zusammen mit anderen engagierten Personen den Verein Promembro gründet. Ziel: De Änderung eines Gesetzes und seines Vollzugs. Die beiden Nationalräte Roger Golay und Balthasar Glättli stiessen als Co-Präsidenten zum Verein und reichten eine Motion ein, die einen umfassenden Zugang zu Hilfsmitteln verlangt und vom Nationalrat angenommen wurde. «Anschliessend ging der Vorstoss an den Ständerat und wurde zu einem Postulat, das die kleine Kammer im Dezember 2019 angenommen hat. Durch die Pandemie rückte das Postulat jedoch in den Hintergrund. Wir warten immer noch auf den Bericht des Bundesrats, sind aber insgesamt einen grossen Schritt vorangekommen.» Sich ganz der Politik verschrieben Am 24. März 2023 findet in Bern die erste von Pro Infirmis organisierte Behindertensession statt, und Nicole Tille Nicole Tille verlor als junge Frau nach einem Autounfall in Australien ein Bein. Heute setzt sie sich für die politischen Rechte von Menschen mit einer Behinderung ein. Foto: Laurianne Aeby BEHINDERTENSESSION 2023 Am 24. März 2023 findet im Nationalratssaal des Bundeshauses die erste Behindertensession der Schweiz statt. Die Teilnehmenden debattieren eine Resolution zum Thema politische Teilhabe und politische Rechte von Menschen mit Behinderung in der Schweiz. Die Behindertenkommission hat die Resolution im Vorfeld erarbeitet, die Parlamentarierinnen und Parlamentarier können dazu Änderungs- und Ergänzungsanträge einreichen. Es werden 22 Prozent der Parlamentssitze eingenommen, insgesamt also 44 von 200. Gemäss Statistik entspricht dies dem Anteil an Menschen mit Behinderung in der Schweizer Bevölkerung.
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