ARTISET 03 I 2024 21 Im Fokus Im Discherheim stehen die Zeichen auf Veränderung: begleiten statt betreuen, individuell statt uniform, experimentieren statt stagnieren heisst die Stossrichtung. Doch was bedeutet das Bekenntnis zu mehr Individualität und einer auf die Klientinnen und Klienten abgestimmten Begleitung im täglichen Zusammenleben? Wie schnell gelingt Veränderung, und wo stösst sie an Grenzen? Ein Besuch vor Ort. Von Tanja Aebli Die Stimmung ist ausgelassen im Hauptgebäude des Discherheims, einer Institution unweit der Stadt Solothurn. Hier gehen 82 Personen mit geistiger und mehrfacher Beeinträchtigung ein und aus, die meisten wohnen und arbeiten im dreistöckigen Komplex aus dem Jahr 2009. Einige der Klientinnen und Klienten beobachten interessiert das Geschehen hinter der gläsernen Eingangstür, andere unterhalten sich, lachen, gestikulieren, spazieren durch die Gänge oder halten vor den Vitrinen inne, in denen die Produkte aus den Ateliers präsentiert werden. Schnell wird klar: Die Spannbreite ist gross, was Alter, Schweregrad der Beeinträchtigung wie auch individuelle Bedürfnisse und Ressourcen anbelangt. Welche Bedeutung hat die Frage nach der Identität für Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind? Ist sie lediglich ein theoretisches Konstrukt, oder gibt es Methoden und Ansätze, um dem Ergründen der eigenen Persönlichkeit im Alltag einer Institution mehr Raum und Gewicht zu geben? «Die Frage der Identität ist eng mit der Frage der eigenen Haltung verwoben», sagt Stephan Oberli, Gesamtleiter des Discherheims. «Unsere Haltung ist klar: Wir als Institution stehen in der Pflicht, unsere Angebote so rasch wie möglich in Einklang mit der UNO Behindertenrechtskonvention zu bringen. Hierfür müssen wir alle – 190 Mitarbeitende und die gesamte Führungscrew – am gleichen Strick ziehen.» Umdenken auf sämtlichen Ebenen Zwar hat das Discherheim im Leitbild, in der Strategie und im neuen AgogikKonzept Prinzipien wie Selbstbestimmung, Autonomie, Inklusion und Partizipation verankert, doch der Transfer der UN BRK Vorgaben in die Praxis ist noch lange nicht zu Ende. Stephan Oberli spricht von einem laufenden Prozess und einem neuen «Mindset», das sich auf allen Ebenen etablieren muss – weg vom Betreuen hin zum Befähigen, weg von althergebrachten hin zu ungewohnten, mitunter unkonventionellen Angeboten. «Es geht darum, Türen zu öffnen und Möglichkeiten zu schaffen, damit unsere Klientinnen und Klienten herausfinden, wer sie sind, was ihnen wichtig ist und wie sie ihr Leben gestalten wollen.» Menschen mit Unterstützungsbedarf sollen möglichst viele und neue Erfahrungen machen dürfen: bei der Arbeit, beim Essen, beim Wohnen oder bei Freizeitaktivitäten. Wie der Mann mit mehrfacher Beeinträchtigung, der es sich unlängst zum Ziel setzte, unbegleitet mit dem Rollator den rund 30 minütigen Fussweg Richtung Stadtzentrum anzutreten. Er begann sein Training mit kurzen Geheinheiten im Quartier, vergrösserte nach und nach den Bewegungsradius, bis er sich eines Tages für genug fit erklärte, um die gesamte Strecke im Alleingang in Angriff zu nehmen – zum Erstaunen eines Angehörigen, dem er in der Stadt zufällig begegnete und der sich über das Vorgehen des Heims zunächst befremdet zeigte. Doch gerade solche Experimente mit ungewissem Ausgang gehören zum Paradigmawechsel. Stephan Oberli: «Unsere Klientinnen und Klienten dürfen experimentieren, denn neue Erfahrungen geben dem Ich erst richtig Kontur. Das heisst für Personen aus dem Umfeld des Betroffenen, von Überbehütung und betreuung Abstand bzw. in Kauf zu nehmen, dass Experimente gewisse Risiken mit sich bringen.» Denise Gurtner, Leiterin des Bereichs Wohnen, nickt. Jemandem etwas Neues zuzutrauen, sei oft eine höchst anspruchsvolle Gratwanderung. «In der Begleitung müssen wir einen Zustand manchmal einfach aushalten, statt subito zu intervenieren. Gleichzeitig können wir jemanden auch nicht xmal scheitern lassen.» Achtsames Beobachten helfe, die richtige Balance zwischen Risiko und Sicherheit zu finden. Oli: flauschiger Zuhörer mit Superkräften «In jeder Person ist ein Samen angelegt, dem wir einen guten Nährboden zum Wachsen bereitstellen können», ist Denise Gurtner überzeugt. Dafür ist ein Gegenüber notwendig, das zuhört und hinschaut; ganz besonders bei Menschen, deren Kommunikation erschwert ist und die mit Gesten, Geräuschen oder Tönen signalisieren, wie es ihnen geht.
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