ARTISET 03 I 2024 3 Editorial «Beziehungen, welche die Menschen in ihrer persönlichen Eigenart anerkennen, haben einen wichtigen Einfluss auf die Gestaltung der Identität» Elisabeth Seifert, Chefredaktorin Liebe Leserin, lieber Leser Wer bin ich? Weshalb bin ich so, wie ich bin? Und: Wie möchte ich mein Leben, meine Zukunft gestalten? Welche Beschäftigungen, welche Personen und Beziehungen stiften für mich Sinn und Erfüllung? Das sind Fragen, die wir uns alle immer wieder stellen, besonders an Wegmarken und bei Übergängen: in jungen Jahren, wo es um Fragen des Berufs und der Lebensplanung geht, bei einschneidenden Ereignissen, gegen Ende des Lebens. Fragen, die nicht leicht beantwortet werden können, weil immer unterschiedliche Faktoren zusammenspielen: Neben den individuellen, in uns angelegten Wesensmerkmalen hat auch unser soziales Umfeld prägende Wirkung, all die Beziehungen, die wir im Verlauf unseres Lebens pflegen. Hinzu kommen Normen und Sichtweisen, die unsere Gesellschaft bestimmen. All diese Faktoren bieten Chancen für die Gestaltung unsrer Identität, legen uns aber auch Stolpersteine in den Weg. Unsere individuellen Veranlagungen finden nicht immer Anklang im sozialen Umfeld und mögen auch in einem Konflikt stehen zu dem, was die Gesellschaft als richtig empfindet. Das aber macht es oft schwierig, unseren Weg als Individuum zu finden und zu gehen, wie Dario Spini, Politik- und Sozialwissenschaftler an der Uni Lausanne, im Interview mit dem Magazin darlegt (Seite 9). Eine besondere Herausforderung bedeutet dies für Menschen, die zentralen Normen unserer Gesellschaft aufgrund einer Behinderung, ihres Alters oder besonderer sozialer Umstände nicht entsprechen können. Dario Spini, der sich in seinen Forschungen immer wieder mit dem Thema Vulnerabilität beschäftigt, plädiert deshalb dafür, gerade die Vulnerabilität selbst zur Norm zu machen, im Bewusstsein, dass wir alle immer irgendwelchen Anforderungen nicht genügen können. Diese Haltung schafft eine wichtige Voraussetzung, um gerade auch «vulnerablen» Menschen Raum zu geben, ihre Identität zu leben und sie auf Augenhöhe bei der Entwicklung ihrer Lebensentwürfe zu unterstützen. Die verschiedenen Beiträge in unserem Schwerpunkt machen deutlich, welche Bedeutung Beziehungen haben, die die Menschen in ihrer persönlichen Eigenart anerkennen. Zentral ist zudem, sie zu unterstützen, über ihr Leben zu reflektieren, Pläne zu schmieden – und sie damit zu Autorinnen und Autoren ihres Lebens zu machen. Karen Ling, Dozentin von der interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich (Seite 24), bringt dies mit folgenden Worten auf den Punkt: «Für die Identitätsentwicklung braucht es immer Interaktion sowie ein Verständnis der eigenen Lebensgeschichte. Entscheidend ist auch, dass wir selbst etwas bewirken können und unterschiedliche Räume und Rollen haben, in denen wir Anerkennung erfahren.» Neben unseren Schwerpunktbeiträgen empfehle ich Ihnen das Interview mit der neuen Curaviva-Geschäftsführerin Christina Zweifel (Seite 40). Das Gespräch geführt hat meine Kollegin aus der Romandie Anne-Marie Nicole. Neben zentralen politischen Themen kommt denn auch zur Sprache, wie sich die Landesteile gegenseitig inspirieren können. «Wir dürfen uns auf keinen Fall durch Sprachbarrieren einschränken lassen», betont Christina Zweifel. Titelbild: Ein Bewohner des Discherheims in Solothurn befragt das Orakel respektive geniesst ganz einfach den Zauber der Oase. Foto: Discherheim
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