Identität leben und gestalten | Magazin ARTISET | 3 2024

ARTISET 03 I 2024 31 Im Fokus Zehntausende Menschen erlebten in der Schweiz durch fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen biografisch einschneidende Eingriffe, die auch das Leben der nächsten Generationen prägen. Eine Forschungsgruppe untersuchte die Auswirkungen der Brüche auf die zweite Generation und zeigt den Umgang der Kinder mit den Erfahrungen der Eltern auf. Von Salomé Zimmermann Bis in die 1980er Jahre wurden zahllose Kinder und Jugendliche in der Schweiz auf Bauernhöfen als billige Arbeitskräfte verdingt, in Erziehungsanstalten und anderweitige Einrichtungen eingewiesen oder in Pflegefamilien untergebracht. Unter diesen fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen der Behörden erlitten viele Betroffene grosses Leid, Unrecht und Stigmatisierung, und sie kämpfen mit den Folgen bis heute. Was bedeutet es, wenn diese Menschen Eltern werden? Wie sieht es aus mit den Auswirkungen auf die nachfolgenden Generationen? Das Forschungsprojekt «Von Generation zu Generation: Familiennarrative im Kontext von Fürsorge und Zwang» beschäftigte sich mit den Folgen für die zweite Generation. Verantwortlich für die Studie ist Professorin Andrea Abraham zusammen mit weiteren Kolleginnen und Kollegen von der Berner Fachhochschule Soziale Arbeit. Vom Erleben und Überleben «Wir haben 27 Betroffene mit Jahrgängen zwischen 1940 und 1990 befragt, also Personen, deren Väter oder Mütter oder gleich beide Verdingkinder, administrativ Versorgte und Heimkinder waren», erzählt Andrea Abraham. Sehr belastete Kindheitserfahrungen verbindet diese Menschen unterschiedlichen Alters. «Wir wollten wissen, wie die Kinder die Zusammenhänge zwischen der elterlichen Vergangenheit und dem eigenen Leben deuten und wie sie damit umgehen», fasst Andrea Abraham das Anliegen der qualitativen Studie mit biografisch-narrativen Interviews zusammen, die in das Nationale Forschungsprogramm NFP 76 zu Fürsorge und Zwang eingebettet ist. In den vergangenen zehn Jahren zeigten zahlreiche Forschungen, wie die Direktbetroffenen von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen diese Erfahrungen er- und überlebten, welche Auswirkungen rigide Bestrafungssysteme, Abwertung und Übergriffe, Isolation, Einsamkeit und Angst hatten. Die betroffenen Menschen verschafften sich Gehör und erzählten in verschiedenster Form ihre Geschichte, etwa durch Autobiografien, Porträts, Dokumentarfilme, Fotos, Theaterstücke oder Kunstwerke. Die breite Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen begann 2013, nach der offiziellen Entschuldigung des Bundesrats. «Die Stimme der zweiten Generation fehlte aber bisher, diese Lücke wollten wir angehen mit unserer Arbeit», sagt Andrea Abraham. Sie erläutert, dass der Begriff «zweite Generation» und die Erforschung dazu aus den Erfahrungen und Aufarbeitungen von Holocaust-Opfern stammt. Deren Nachfahren hätten vermehrt Therapien gemacht, und so wurde nach und nach deutlich, dass auch sie von den Schrecken, die ihre Eltern erfahren mussten, stark geprägt sind. Identifikation mit Elternerfahrungen Andrea Abraham und ihre Kolleginnen und Kollegen liessen sich in langen biografischen Interviews erschütternde Lebensgeschichten erzählen. Was ist das Hauptergebnis der Studie zu der zweiten Generation von Betroffenen von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen? Die Töchter und Söhne, die zu reden bereit waren, erlitten wie ihre Eltern auch schwierige bis schädigende Kindheiten. Sie konnten aber auch Stärken von ihren Eltern übernehmen. Andrea Abraham führt aus: «In unseren Interviews wurde deutlich, dass die Kinder Belastungen erlebt haben, die sie in einen Zusammenhang setzen mit den Erfahrungen der Eltern.» So erzählten die Nachkommen von konfliktreichen und gewaltvollen Elternbeziehungen, von Grenzüberschreitungen, von fehlender Liebe und von grossen Tabus. Sechs der 27 Befragten wurden sogar selber wieder in Familien oder Heimen fremdplatziert. Besonders belastend empfinden viele Personen der zweiten Generation das grosse Schweigen, obwohl die Vergangenheit der Eltern stets präsent war – die Kinder konnten es aber nicht

RkJQdWJsaXNoZXIy MTY2MjQyMg==