ARTISET 03 I 2024 33 sahen die eigene Familiengründung als Möglichkeit für einen Neuanfang, verbunden mit dem Wunsch nach einer intakten Familie. Andere entschieden sich wiederum gegen eine Familie und Kinder, vor allem, wenn sie sich in schwierigen Partnerschaften befanden. Zahlreiche Interviewte der zweiten Generation wählten einen sozialen Beruf und erkennen in ihrem Einsatz für belastete Menschen einen Zusammenhang mit der Traumatisierung ihrer Eltern. «Ihre Arbeit sehen sie als Vergangenheitsbewältigung und als Prävention, um zukünftiges Leiden möglichst zu verhindern», so Andrea Abraham. Als weiterer zentraler Punkt kristallisierte sich die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der Eltern heraus, im direkten Gespräch oder durch eigene Recherchen. «In einigen Familien trägt sicher auch die öffentliche Aufarbeitung dazu bei, dass einfacher darüber geredet und das Schweigen gebrochen werden kann», sagt Abraham. Die Forscherin hebt hervor, dass neben allen schwierigen Aspekten und Abgründen, die in den Lebensgeschichten zum Vorschein kamen, auch von positiven Eigenschaften und Strategien der Eltern berichtet wurde – etwa von Gerechtigkeitssinn, hohem Arbeitsethos, politischem Engagement oder Tierliebe. Dies sei dem grossen Effort der ersten Generation in der Verarbeitung des Erlebten zu verdanken. Vermeidung einer betroffenen Drittgeneration Ein wichtiges Anliegen der zweiten Generation wie auch der Forschenden ist die Frage, wie mit den negativen Folgen der fürsorgerischen Massnahmen umgegangen werden soll und wie eine belastete Drittgeneration verhindert werden kann. «Wir sind als ganze Gesellschaft betroffen und herausgefordert, über das Einzelschicksal hinaus, denn die existenziellen Folgen sind gravierend und reichen weit, etwa in Form von psychischen Erkrankungen, körperlichen Leiden, Langzeitarbeitslosigkeit und Abhängigkeit von Sozialhilfe und IV», verdeutlicht Andrea Abraham. Seit einiger Zeit gibt es die Erzählbistros, Begegnungsorte, um sich auszutauschen und die eigene Geschichte aufzuarbeiten zusammen mit anderen und mit Input von Fachpersonen. «Solche Gruppen, in denen sich Menschen mit ähnlichem Schicksal treffen können und es zur Gemeinschaftsbildung kommt, erachte ich als ebenso wichtig wie individuelle Therapien und andere Formen der Unterstützung», so Andrea Abraham. Unbestritten ist, dass die Drittgeneration einen Vorteil hat, wenn die vorherigen Generationen mit passender Unterstützung und den je eigenen Möglichkeiten einen Teil zur Aufarbeitung beitragen. So kann es gelingen, die generationenübergreifenden Langzeitfolgen der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen zu verhindern oder abzumindern. Zusätzliche Informationen zum Forschungsprojekt finden Sie hier: Das (als EBook kostenlose) Buch zum Thema: «Von Generation zu Generation. Wie biografische Brüche in Familien weiterwirken» finden Sie hier: Betroffenen Treff fürsorgerischer Zwangsmassnahmen: ➞ erzahlbistro.ch Im Fokus «Besonders aufgefallen ist das Verhältnis von Nähe und Distanz zwischen Eltern und Kindern – häufig ins eine oder andere Extrem fallend, entweder zu nahe oder zu distanziert: in Worten, in Taten, in Stimmungen. Andrea Abraham, Professorin Soziale Arbeit, BFH
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