Identität leben und gestalten | Magazin ARTISET | 3 2024

8 ARTISET 03 I 2024 abgelegenen Ort im Kanton Luzern, genau dort, wo die andere geboren wurde. Seither grüssen sie sich und trinken gemeinsam Kaffee. Erzählcafés sind Begegnungsräume, die für alle zugänglich sind und wo die Teilnehmenden von ihrem Leben, ihren Erfahrungen und Erinnerungen erzählen. Ausgangspunkt bildet dabei ein vordefiniertes Thema von allgemeinem Interesse. Reisen, das Zuhause, die Nachbar:innen und das Telefon sind nur einige Beispiele. Erzählcafés umfassen zwei Teile: das Erzählen mit einer Dauer von 45 bis 60 Minuten, und das anschliessende Kaffeetrinken in gemütlicher und ungezwungener Atmosphäre mit einem Snack und Raum für weiterführende Gespräche im kleineren Kreis. Ein geschützter Rahmen Die Aufgabe der Moderatorinnen und Moderatoren besteht darin, einen vertrauensvollen und respektvollen Rahmen zu schaffen, das Gespräch zu begleiten und zu steuern. Ausserdem achten sie darauf, dass alle Teilnehmenden zu Wort kommen, wenn sie dies wünschen, und sprechen ihnen bei sensiblen oder emotionalen Reaktionen auf die Erzählungen tröstend zu. Erzählcafés sind keine Diskussionen. Es wird weder beurteilt, noch kommentiert oder unterbrochen. Erzählen ist freiwillig, Zuhören aber Pflicht. Das sind die vorrangigen Regeln eines Erzählcafés. Sie tragen zur Schaffung eines geschützten und respektvollen Rahmens bei. Erzählcafés erfüllen keinen therapeutischen Zweck, auch wenn ihre Wirkung durchaus in diese Richtung gehen kann. Das Erzählen der Lebensgeschichte hat eine verändernde Kraft. Dieser Rückblick bietet die Möglichkeit, die Identität zu stärken, dem Erlebten Sinn zu geben, sich mit seiner Biografie auszusöhnen. Lebensgeschichten finden Resonanz und verstärken das Gefühl von Zugehörigkeit. «Über die individuelle Lebensgeschichte hinaus kommen dabei die politischen, sozialen, religiösen und kulturellen Bedingungen in der Zeitgeschichte zum Vorschein. Dabei können die Teilnehmenden durch den Rückblick im Kontext der Gruppe Gemeinsamkeiten und Unterschiede entdecken sowie individuelle Erfahrungen besser verstehen, einordnen und neu bewerten», schreibt Johanna Kohn, Professorin an der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz, in einem Artikel von 2020 mit dem Titel «Wir sind, was wir erzählen». Erzählcafés haben ihren Ursprung in Berlin Ihren Anfang nahmen die als soziokulturelle Interventionen geltenden Erzählcafés gegen Ende der 1980er-Jahre in Berlin – genauer gesagt in Wedding, einem Stadtbezirk, der damals von der berühmten Berliner Mauer durchtrennt war und sich durch eine manchmal explosive soziale Durchmischung auszeichnete, erzählt Johanna Kohn. In Berlin wie auch in Wien entstanden immer mehr solche Gesprächskreise. Sie erlaubten der Bevölkerung, über Erlebtes zu sprechen, persönliche Realitäten zu teilen und die Vergangenheit zu verarbeiten. Während Erzählcafés heute vor allem den Anspruch haben, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Akzeptanz von Diversität zu fördern, war das Anfang der 2000er-Jahre in der Schweiz entwickelte Konzept zunächst für ältere Menschen gedacht. «Biografiearbeit ist eine Hauptaufgabe im Alter. Die Fragen, wer man denn geworden ist, welche Lebensprojekte abgeschlossen werden konnten und welche nicht, wo man erfolgreich, schuldig, klug, mutig oder Opfer war und was man mit der verbleibenden Lebenszeit noch tun möchte, sind existenziell – besonders in Umbruchszeiten», betont Johanna Kohn. Die Professorin, die eine Weiterbildung in der Moderation von Erzählcafés anbietet, gehört auch zu den Ideengeberinnen der Erzählcafés in der Schweiz und des Netzwerks Erzählcafé. «In diesem Prozess der Wiederaneignung ihres Lebens wollen betagte Menschen als Autoren ihrer Lebensgeschichte betrachtet und behandelt werden», so Johanna Kohn weiter. Gut für die Gesundheit Laut einer Gruppe deutscher Forscherinnen in psychosozialer Medizin und Psychotherapie fördert biografisches Erzählen die Aufrechterhaltung der individuellen Identität und die soziale Teilhabe. Im Wesentlichen zum gleichen Schluss kommt eine von der Gesundheitsförderung Schweiz beauftragte Evaluation. In ihrem Bericht vom Dezember 2022 schreiben die Autorinnen und Autoren, «dass die Teilnahme an einem Erzahlcafe einen positiven Einfluss auf die psychische Gesundheit von (alteren) Menschen hat». Ausserdem betonen sie: «Diese Art der strukturierten Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie kann Aspekte wie Lebenszufriedenheit, Selbstwert, Selbstwirksamkeit und soziale Zugehorigkeit positiv beeinflussen». Somit ist die Methode Erzählcafé für die Biografiearbeit mit älteren Menschen besonders gut geeignet. Weitere Informationen: ➞ netzwerk-erzaehlcafe.ch Das Erzählen der Lebensgeschichte hat eine verändernde Kraft. Dieser Rückblick bietet die Möglichkeit, die Identität zu stärken, dem Erlebten Sinn zu geben, sich mit seiner Biografie auszusöhnen.

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